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Ich mache das
über die französische Literatur in Frankreich.
Wir müssen diese Bonne der französischen in Deutschland zuerst verhören: die französische Literatur ist nicht bloß die Gespielin und Gesellschafterin der großen Welt, sondern – wie gewöhnlich – wirklich deren natürliche Tochter; daher sie einander gegenseitig treu und schuldig bleiben. Große Welt ist Gesellschaftgeist in höchster Potenz. Ihre hohe Schule ist der Hof, der das gesellige Leben, das ihm nicht Erholung, sondern Zweck und fortgehendes Leben ist, um so mehr entfalten und verfeinern muß, da er gleichsam die höchsten Gegensätze von Macht und Unterordnung, von eigner Achtung und von fremder ins freundliche Gleichgewicht eines schönen geselligen Scheins aufzulösen hat. Alle Gaben der französischen Dichtkunst lassen sich als befriedigte Forderungen der höhern, gleichsam poetischen Geselligkeit des Weltmanns vorrechnen. Diese letzte verbannt, wie jene, alles, was nicht ausgleicht, den langen scharfen Ernst, den höhern Scherz (Humor), jeden tragischen oder andern Vor-Ton – sie verlangt den Witz als den schnellsten Mittler des Verstandes und die Persiflage als die Mitte zwischen Satire und Humor – ferner nur augenblickliche Reize, philosophische Systeme nur als wichtige Sentenzen, welche keine Stimmung begehren, und daher am liebsten die empirischen, z. B. Lockes, weil diese keine unendliche Kette zugleich an die Höhe und in die Tiefe hängen – zarte Racinische Gefühle, nicht starke, mehr sympathetische (mitleidende) als autopathetische (selbleidende) – ferner überall Leichtfüßigkeit, welche fremde und eigne Dornen überhüpft – und endlich die höfliche Weite der Allgemeinheit. Denn die höhere Geselligkeit vergisset sich oder das Ich, sie sagt wie Pascal man statt ich; das französische Spiel Corbillon, das immer auf on zu reimen nötigt, ist das echte, das sich durch alle Zirkel spielt und durch die ganze gallische Prose, an deren Spitze und Spitzen ewig das hohle on befiehlt. Denn je mehr Höflichkeit und Bildung, desto mehr Allgemeinheit, die teils gern zu erraten schenkt, teils poetischer und angenehmer wird, weil sie nur das feine Rosenöl ohne die Blätter und Dornen absondert, wie eben die höheren Stände selber. Denn bis an den Thron und Thronhof steigt nur das Geistigste oder Allgemeinste; die Öfen, die ihn heizen, sind verkleidet und verkleiden wieder das Holz und die Kohlen; nur die Summe der Summen unweit der fürstlichen Unterschrift, nur die Generaltabellen verflüchtigen sich hinauf; unten liegt und kriecht die schwerfällige verkörperte Individuation der Hofküche, Handwerker und Schreiber.
Und ist nicht von diesem allen die französische oder Pariser Dichtkunst der feinste ideale Abdruck durch ihre regelrechte und abgezogene Sprache – durch ihren Mangel an sinnlicher Anschaulichkeit, an Liebe und Kunde der tiefern Stände, an Freiheit, an Glut? – Ferner: Weiber sind wie Franzosen geborne Weltleute; ihrem Geschmack gefällt und huldigt die Pariser Dichtkunst. – Sobald Geselligkeit Zweck, nicht der Sinne, noch des Lernens und Lehrens, sondern eines Menschen selber ist: so müssen Männer und Weiber sich nicht wie Öl und Wasser fliehen; Weiber als geborne Weltleute machen den Mann gesellig, sobald er sie sucht. Daher stieg wohl durch nichts der gesellige Pariser Weltton so sehr als durch den allgemeinen Ehebruch, welcher jedem Pariser »Ehevogt« (ein ungelenker altdeutscher Term!) auf der Schwelle jedes Gesellschaftzimmers seine ideale Liebzeit zurückgab, worin er um ein weibliches Herz sich müde flatterte. Bei uns flattert nur unverheiratete Jugend; bei ihnen aber Ehemänner, Eheweiber, Mitweiber, Witwen durcheinander – welches schöne allgemeine Gesellen! – Und dies gibt ihrer Dichtkunst die Weiber-Seite, nämlich den Witz, diesen weiblichen Vernunftschluß.
Ich begreife daher nicht, wie Bossu in seinem traité über das epische Gedicht behaupten konnte, der Winter sei keine Jahrzeit für das epische Gedicht und die Nacht keine Tagzeit für das tragische; da er doch als ein Pariser wissen mußte, daß gerade im Winter die Stadt am vollsten ist und in der Nacht am lebendigsten.
Noch zwei Wirkungen und Abspieglungen des höchsten Weltlebens bezeichnen die Pariser, Poesie so wie die Versailler, St. Clouder, Fontainebleauer. Die erste ist die materialistische Pneumatophobie oder Geisterscheu. Sie ist weniger die Propaganda (Pflanzerin) als die Propagata (Pflanze) des versteinerten Weltlebens. Der Glaube wohnt in seinem Geister-Kreise nur in der Kartause, aber nicht auf dem Markte; unter den Menschen gehen die Götter verloren. Der Unglaube, weniger ein Sohn der Zeit als des Orts, bewohnte von jeher die Höfe, von den griechischen, römischen, byzantinischen Höfen an bis zu den päpstlichen und gallischen, so wie die großen Städte. Niemand hat weniger Welt als ein Gedanke, der die Welt vernichtet, nicht bloß die große, sondern die ganze. Ein Riese oder ein Unsterblicher ist nicht tafelfähig; nichts störte vielleicht die gesellige Hof-Gleichheit und Freiheit mehr als z. B. ein Gott oder gar Gott; denn dessen Ebenbild litte, der Fürst. Aus gleichen Gründen, welche aus Gastzimmern gebürgige, riesenhafte Gegenstände verweisen – weil daraus zwar nicht Religionunruhen, aber doch Irreligionunruhen entständen –, zieht durch die französische Dichtkunst eine schöne Endlichkeit und Sichtbarkeit, und ihr Himmel steht wie der celtische und höfische nur auf den Wolken, nicht über den Sternen. Diese Seelen-Keuchsucht befiel sogar deutsche Nacharbeiter der Franzosen, z. B. Wezel, Anton Wall; zwar hat der ihnen auch nacharbeitende Dyk die Theophilanthropen gut an der Pleiße verdeutscht; aber, o Gott, lieber will ich dich leugnen, als mit deinen Pariser Theophilanthropen in die tote Kirche gehen – und darein das warme Herz begraben!
Oft hab' ich mir die Wirkung, welche z. B. ein Shakespeare erstlich durch die Niedrigkeit seiner komischen Stände, zweitens durch die Erhebung seiner tragischen, drittens durch seine geniale Flamme, etwan an einer Hoftafel vorgelesen, machen würde, dadurch sehr ins Licht und Lächerliche gesetzt, daß ich sie mir mit den ähnlichen drei Graden der Folter erläuterte, wovon gleichfalls der erste in Einschränken – in Schnüren und Daumenschrauben – besteht, der zweite in Ausdehnen – durch die Leiter – und der dritte in Feuer. – Sonderbar, daß hier die alte obige Dreiheit wiederkehrt, diese dem tertium comparationis so sehr nachschlagenden tertia comparationum, ganz wie in der Schellingschen Philosophie.
Die zweite Tochter des Weltlebens, welche ich vorzuführen versprach, löset starke Rätsel des gallischen Trauerspiels.
Schon im vierten Bande des Titans bemerkte Vorleser, daß die Franzosen und Weiber einander als geborne Weltleute glichen – daß folglich beide, wie aus der Revolution zu ersehen, entweder ungemein zart und mild oder ungemein grausam wären – ferner daß die Tragödie der Franzosen gleicherweise nicht nur grimmig-kalt, sondern auch kalt-grimmig, oder ungeheuer grausam wäre – – Und wovon kommt dies? Vom Geiste des feinern Weltlebens, der seinen Melpomenens-Dolch aus dem härtesten Eise im härtesten Froste so scharf schmiedet und schleift, daß dieser Wunden stechen kann, alsdann darin zerfließt und sie tödlich erkältet. Der religiösen Prozession wird das Kreuz mit dem Gekreuzigten vorgetragen, aber wahrlich der weltmännischen wird es nachgetragen; und fürchterlicher gibt es nichts für die einfache biedere Natur als jenes seltsame vornehme, gar nicht heuchlerische Gemische von höchster Sitten- und Liebe-Zärte, wunder Ehren-Pünktlichkeit auf der einen Seite und von französischer langsam-zerstückender Grausamkeit und vornehmen Interims der Ehre auf der andern Seite. Derselbe Minister, der Länder durch die Kriegs-Minen aufschleudert, kann seiner Geliebten oder einem Racine einen Nadelstich nachempfinden; so wie man zur Zeit des Schreckensystems die weichsten Empfindungen auf die Bühne herausrief. Denn dem Minister ist das Volk, wie einem Bankier eine große Summe, bloße Abstraktion, algebraische Größe, die er in seinen Rechnungen versetzt; nur mit dem nahen Einzelnen kann er, wie der Bankier mit der kleinen Münze, geizen. In Rücksicht der Ehre, diesem zweiten moralischen Wendezirkel, so ist ein Großer ein wahrer Mann von Ehre in den kleinsten Punkten und bereit, sein Leben dafür zu wagen; was aber höhere Punkte anlangt, Bruch der Traktaten und Ehen, Erbrechen fremder Briefe, große Bankbrüche, verachtender Gebrauch feiler Spionen und feiler Mädchen, so sagt er bloß, er könne nicht gut anders.
Jetzo zum ähnlichen gallischen Trauerspiel. Es glänzt weniger durch das Große als durch die Großen. In Corneille, Crebillon, Voltaire (z. B. in dessen Mohamed) finden wir, wie im tragischen Seneka, weit mehr Zartheit, Feinheit, Dezenz, Vergiftung, Vatermord, Blutschande als bei irgendeinem Griechen oder bei Shakespeare. Wie in der großen Welt wird darin nie etwas Kleineres gestohlen als eine Krone, oft mit dem Haupte darin – und wie in ihr haben weibliche Seelen nichts von den allerfremdesten Menschen für ihre Tugenden oder nur für ihre Ohren zu fürchten, sondern bloß von zu nahen Anverwandten einige Blutschande. Denn wenn in der höhern Welt die Lust so erschöpft ist, daß kein neuer Grad sie mehr würzen kann: so würzt man sie mit neuer Sünde, weil wohl nichts so aufreizend auf die Phantasie – diese letzte Regentin fürstlicher Sinnen – wirkt als eine recht starke Abscheulichkeit; so ist z. B. der horror naturalis (Naturscheu) der rechte Teufelsdreck für manche Schüsseln.
Eine witzig-schreckliche Anekdote, welche die heiligen Bande zwischen Vater und Sohn zerfasert und zerrissen zeigt, stehe als ein Beispiel da, welche man unter den Altdeutschen der Zeit oder unter den Altdeutschen des Raums (den Schweden und Schweizern) schwerlich wiederholt antrifft. Als man an den Vater Crebillon, den Trauerspiel-Dichter, mit Namen der Schreckliche, in Gegenwart seines Sohnes, des bekannten frivolen Romanschreibers, die Frage tat, welches Werk er wohl für sein bestes halte: so gab er die Antwort, er wisse nur, welches sein schlimmstes sei, und zeigte auf seinen Sohn. Eine so kalte feine Grausamkeit konnte nur erwidert und übertroffen werden durch einen Sohn, welcher antwortete: »Darum glaubten auch viele, daß Sie dieses Werk nicht selber gemacht.«
Da nun alle Poesie, sogar die schlechte, sogar wider Willen idealisiert und folglich die französische auch: so kann, da ihre tragische nicht Individuation, sondern Abstraktion zu idealisieren hat, die Steigerung nichts gebären als Ungeheuer. Nur auf dem derben Stamme der Individuation flattert die Blüte des Ideals; ohne Erde gibt es keine Höhe und keine Tiefe, keinen Himmel und auch keine Hölle; darum ist die Idylle der Franzosen wie der Jünglinge ebensowohl bloß ein gesteigerter Begriff als ihr Trauerspiel.