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Für und an Schriftsteller
Vorerinnerung
In der großen Vorschule zur Ästhetik hielt der Verfasser, wie druckbekannt, drei Meßvorlesungen, die erste in der Böttigerwoche, die zweite oder Jubilate-Vorlesung in der eigentlichen Meßwoche und die dritte oder Kantate-Vorlesung in der Zahl- oder Buchhändlerwoche. Hier nun will die Nachschule jeder Meßvorlesung eine kurze Nachlese anheften, und zwar in der Böttigerwoche an und über Schriftsteller, in der eigentlichen Meßwoche an und über Rezensenten und in der Zahl- oder Buchhändlerwoche an und über Leser reden; und zwar wird man in jeder Woche nur eine Stunde vorlesen, die wieder am schicklichsten in vier Viertelstunden zerfället wird. Man wird, wie gewöhnlich Lehrer tun, die Viertelstunden möglichst abzukürzen trachten und gern etwas später anfangen und etwas früher aufhören.
Wert des literarischen Schnitthandels oder Feilstaubs oder Blumenstaubs oder der Gedankenspäne oder Papierspäne u. s. w.
Wer kein großes Ganze, kein System, kein Fertiges hat, der muß diese haben und geben. So gab Novalis Blumenstaub, Friedr. Schlegel Feilstaub oder Fragmente oder Sentenzen, andere taten Aussprüche von Gehalt, tiefe Blicke und so fort. Man nahm sich hier mit Recht die Käsemade zum Muster, welche, da sie nicht gehen kann, dafür außerordentlich springt, und zwar dreißigmal höher, als sie lang ist. Platner kehrte es um und gab unter dem Namen Aphorismen ein wirkliches System – aber wenn philosophische weniger als schöne Geister gern mit Sentenzen, Genieblicken, Genieblitzen und Feilstaub auftreten: so hält die Welt sie mit Vergnügen für Philosophen. Auch jede andere Wissenschaft vertreten gute Madensprünge leicht.
Rechte und Vorzüge der literarischen Erstgebornen
Diese Rechte und Vorzüge lasse man den ersten Werken der jetzigen Schreiber, weil sie wissen: Anfang gut, alles gut; so daß sie gleich den Oliven durch den ersten Druck das feine Jungfernöl hergeben, und bei der zweiten, stärkern Presse nur Baumöl, bis sie endlich bei der dritten nur gemeines Brennöl liefern. Ich könnte die meisten Roman- und Vers-, Lust- und Trauerschreiber der neuern Zeit anführen, die wie Handwerker anfangs ein Meisterstück lieferten, und dann natürlich wie diese nichts als gemeine Arbeiten machten. Lessing gab seinen Nathan erst zum Beschlusse, indes die Neuern sogleich mit ihrem Besten beginnen und auf dieses nicht erst warten lassen, sondern nur auf ihr Schlechtes und Schlechtestes, das sie allmählich erst, mit der Zeit aber desto gewisser geben, indem sie, wenn jene Ältern sich aus der Tiefe hinaufschrieben, sich von ihrer Höhe hinunterschreiben. Wir Leih- und Lesebibliothekleser verdanken diesen Genuß des besten Weins am Anfange der Mahlzeit – wenn man geringfügige Einflüsse bei den schlechtern Weinen, wie vereinigte Geld- oder Handelliebe von Buchschreiber und Buchhändler zugleich, nicht anschlagen will – besonders dem Umstand, daß der Dichter jetzo nicht sowohl macht als gemacht wird von der Zeit, deren Blüte und Blumenlese und Destillation sein erstes Werk ist; dann hat er freilich nichts weiter einzuschenken, keinen neuen Wein-Ausbruch nach dem alten, aber sie drücken fort und liefern zuletzt nach dem Strohwein das Stroh. – Die Frauen lesen sich am Ende eine schöne Prose in die Feder und machen nichts daraus als höchstens Briefe, aber die Jünglinge sich eine schöne Poesie und machen eben Bücher daraus.
Wert der Eilschreiberei
Ich preise keinen Leser glücklicher als einen, der etwa nach hundert oder gar tausend Jahren geboren wird: dieser findet doch etwas zu lesen und Auswahl. Wir Zeit- oder Jahrtausendarme sind bald fertig, und ungeachtet unserer drei Meßernten (denn die Weihnacht- oder Neujahrmesse mit Almanachen verachte man nicht) haben wir, wie die Hindostaner bei ihren drei Reisernten jährlich eine Hungernot, so nichts Rechts zu lesen. Was große Schriftsteller jährlich liefern, will ich in drei Abenden durchhaben. Wir müssen uns daher an die mittlern, ja schlechten halten und klammern und an ihnen saugen, solange etwas da ist. Aber um so willkommener sei uns doch jeder Umstand, der uns diese Schriftsteller und ihre Werke vervielfältigt. Und dies leistet gewiß am sichersten die endlich eingeführte Schreibregel, nicht zu feilen, sondern den ganzen Aufwand von Feilstaub und Zeit zu ersparen. Ein solcher schreibt und steht schon mit einem dritten Band auf der Messe aus, indes ein anderer noch zu Hause an seinem ersten raspelt und feilt. So gebären Weiber, die ihre Geburten nicht erst säugen, dem Staate jährlich etwas mehr. Noch mehr Zeit und Menschenkraft als durch Dampfpressen werden durch solche Dampfdintenfässer geschont von ordentlichen Schreibimprovisatoren. Nur könnten deutsche Stegreifschreiber alles noch viel weiter treiben. Gibbon sandte jeden Bogen nach dem Schreiben eiligst in die Presse, damit sie ihn gegen die Feile deckte. Ja der genialste Romanschreiber der Franzosen, Retif de la Bretonne, schrieb seine Romane nicht einmal vorher, sondern als Buchdrucker setzte er sie sogleich – wodurch von selber alles Ausstreichen wegfiel –; und wie jener, den man den französischen Richardson nannte, machte es auch der britische, ebenfalls ein Buchdrucker. So halte sich denn ein heutiger Schreiber wenigstens für einen transzendenten Setzer, der nicht Satz und Korrektur zugleich besorgt. – Wenn überhaupt deutsche Dichter des neunzehnten Jahrhunderts es, wie die Methodisten in England, für Sünde gegen ihre Eingebungen halten, sich auf das, was sie sagen wollen, vorzubereiten, so hat man doch die Gewißheit, daß man keine Nachtreter hinter Gesetzgebern, sondern vielmehr Monde vor sich hat, welche um ihren Phöbus ganz allein und ohne eine herumführende Erde laufen.
Über Tagblätter und Taschenbücher
Unser Lebenbuch wird immer mehr Flugschrift, die nicht still liegt, welche dünn und wenig trägt und fliegt und verfliegt – Von den Luftschiffen an bis zu den Dampfschiffen und Schnellposten beweiset es sich, daß Europa jetzo unterwegs ist und eine Völkerwanderung der andern begegnet. Zu Hause sitzen nur wenige, und zwar auch nur, um sich ihre Läuferschuhe zu besohlen und den Pilgerhut als Pilger nach dem eignen unheiligen Grabe zu befiedern. So werden nun in der Literatur die Flügel zugleich vermehrt und verkleinert, statt zwei schwerer Adlerschwingen in Folio vier dünne Schmetterlingflügel in Sedez. In allen Wissenschaften stehen jetzo dicke Enzyklopädien, denn diese sind eben ins Enge geschraubte Bibliotheken, mobil gemachte Feldbibliotheken – wie es denn jetzo wenig unbewegliche Güter außer den Aktenstößen mehr gibt, sondern nur bewegliche, wie im Mittelalter die HäuserDreyers Miszellen., oder in dem jetzigen die Grundstücke als Hypothekenscheine und das zu schwere Gold als Papiergeld. – In alle Klubs fliegen Groß-Quartbände, aber in Quartblätter die Blöcke zersägt; und wie im Mittelalter die Pariser Buchhändler ein Buch – da jedes ein seltenes war – in 200 Hefte zerlegten und vier Hefte für zwei Pfennige verliehenMeiners Vergleichung des Mittelalters. B. 2. Seite 540.: so wird uns in den Wochenblättern ein einziger Roman in halb so vielen Stücken zugetröpfelt, weil nach Tagen, nicht nach Bänden gelesen wird. So gibt es in Paris Weinkneipen, wo man nicht nach dem Trinkmaße trinkt und bezahlt, sondern nach der Zeit oder der Stunde, daher man in dieser aus dem Fasse aus einem Strohhalm eingeschenkt bekommt. Auf diese Weise bringt denn doch eine Dame ihren Quartanten durch und liest gründlich genug.
Aber am besten zeichnen die deutsche Zeit die Herbstbücher aus, die Taschenbücher. Hab' ich früher manches, was ich gegen sie hatte, in denen selber gesagt, die ich eben verdicken half: so mag eine Anerkennung derselben hinter ihrem Rücken um so unparteiischer lauten. Kein Volk liefert so viele Almanache als das deutsche; es ist, als ob diese Herbstflora gerade den Herbst, der sonst in den Jahrzeiten des noch wilden Deutschlands gar nicht vorkam, recht bezeichnen und überblümen sollte. Diese Flora fällt für die weibliche Welt, welche im Frühling und Sommer auf dem Lande und im Winter in den Zirkeln zu tun hat, gerade am schicklichsten in den Herbst, die Mittelzeit zwischen Spazieren und Tanzen und Spielen, und ist dieses poetische Gewebe, womit die jungen Autoren herbstlich den Parnaß überspinnen, der wahre junge Weibersommer, dichterisch fliegend und mit und von bunten Tautropfen schimmernd. Himmel! wenn man sich erinnert der alten vielpfündigen Folianten, in Bretter, Leder, Messingbeschläge und Klammern gefaßt, gleichsam lederne, mit Messingnägeln besetzte Großvaterstühle des gelehrten Sitzlebens, und wenn man dagegen ein Taschenbüchlein hält: so kann man wahrscheinlich nicht klagen. Aus dem Schweinleder wurde Saffianleder, aus Messingspitzen Goldränder, aus Klammern und Schlössern ein Seidenfutteral, und die Kette, an die man jene Riesen sonst in Bibliotheken legte, wurde ein seidnes Ordenbändchen zum Freimachen. Aber wichtiger ist für Deutschland, daß diese Paradiesvögelchen die oben angepriesenen Enzyklopädien, die schon fliegende Mikrokosmen der gelehrten Makrokosmen sind, wieder von neuem verkleinert enthalten und wie eine Oper fast alles geben. Sie machen hinten Musik auf den kleinen Musikblättern und sogar Tanzfiguren zu jeder andern Musik – sie geben als Gemälde-Ausstellung auf dem Futterale Deckenstücke, vor dem Titelblatte ein Türstück, innen an den Wänden überall Raffaelische Logen – und nach den schönen Künsten wird besonders in Buchstaben reichlich geliefert für die schönen Wissenschaften, hauptsächlich aber für eine Romanenbibliothek im kleinen. Auch das Abendmahl-Brot der Mystik wird zu dünnen Oblaten der Kalenderblättchen verbacken. Sogar Gedichte stehen in mehren Taschenbüchern, und sie mögen nicht unschicklich daran erinnern, daß die frühern in Deutschland mit ihnen unter dem Namen Musenalmanache angefangen, so wie auch die Geschichte bei den Griechen und andern Völkern ihren Anfang in Versen genommen. Inzwischen könnte man sie endlich ganz eingehen lassen, da doch nur wenige Frauen sich durch das Buchbindergold zu diesen Pillen hindurcharbeiten, und die poetischen Flügel an diesen Gerichten nur Schauessen sind, wie die Pfauen- und Fasanenflügel, die man in ältern Zeiten ungerupft an dem gebratnen Flügelwerk zur Pracht mit auftrug, ohne daß einer eine Gabel darnach ausstreckte. Daher haben Einige Lieder und Romanzen, z. B. die Goetheschen, lieber in Kupferstiche umgeprägt; und mit gleichem Glücke könnte man auch Metaphern und Sinngedichte in Kupfer stechen, damit das Taschenbuch kein Taschenkrebs würde.
Höhere Würdigung des deutschen Vielschreibens
Ich weiß eigentlich kein Volk, das so viel schreiben sollte als das deutsche, und wär' es auch nur aus zwei Gründen, wiewohl das Honorar wenigstens ein kleiner bleibt. Erstlich wird ein deutscher Schreiber nicht so oft abgedruckt, geschweige verkauft, wie z. B. ein Londoner, der viertausend Exemplare in wenigen Tagen absetzt, denn ein deutscher muß Gott für vierhundert danken. Er kann aber vielerlei Bücher schreiben, deren kärglicher Gesamtverkauf so viel ausmacht als der starke eines einzigen. Er könnte sogar – will man nebenher ins Kleine gehen – im Buche selber für dessen Vervielfältigung arbeiten durch Dickmachen, und wär' es oft durch die scheinbar erbärmlichsten Künste; er könnte z. B. durch häufige Absätze den Absatz ersetzen, oder könnt' es durch die zum Glücke uns Deutschen schon geläufige Weitschweifigkeit tun, für die ich fast einen elenden Kunstgriff empfehlen möchte. Man sage nämlich häufig »wie gedacht« oder »wie gesagt« oder »die Wahrheit zu sagen«: so kann man es sogleich wieder sagen; es ist doch etwas.
Zweitens – erstlich sagt' ich schon oben – sind wir Deutsche ein Volk, das, die Wahrheit zu sagen, für seine Ehre zu sorgen hat und, da es die ganzen Arme nicht mehr politisch bewegen kann, wenigstens die Finger daran regen soll zum Schreiben. Wir gleichen nämlich der herrlichen Bildsäule Laokoons, die ihre Arme sich an der Zeit zerbrochen hat, aber so trefflich ergänzte vom Meister Michael Angelo erhalten, daß man sie ihr immer zu Füßen legt; denn die Stummeln davon, womit die Feder statt der Waffen zu führen ist, sitzen ja noch an den Achseln fest. Jener große Redner gab dreimal die actio (die Handlung und Bewegung) als die eigentliche Beredsamkeit an – wir kehren es ebensoleicht um und sagen dreimal: Reden oder Schreiben ist das höchste Handeln. – Und wenn wundärztlich nichts so gut verbrannte Finger heilt als Dinte: so haben wir, dünkt mich, ja beides. – Und wenn es in Norwegen ganze christliche TempelIn Hoop, unweit Bergen; sogar das Dach ist papiern. Allg. Anzeiger Nro. 115. 1807. von Papiermâché gibt: so haben wir zu unsern Ehrentempeln und Janustempeln ja Papier genug, wenigstens die Lumpen dazu.
Höhere Würdigung des philosophischen Tollseins auf dem Katheder und des dichterischen auf dem Theater
Ich wüßte unter den Schriftstellern niemand als Poeten und Philosophen, welche sich auf dem Papiere dem Tollsein überlassen dürften, das im gemeinen Leben allen vernünftigen Menschen verstattet ist. Im Handel und Wandel sieht man mit Recht das gewöhnliche Tollsein und Leben der Menschen bloß für eine sanftere Wasserscheu an, worin der Patient gesunde Vernunft genug hat und umhergeht in seinen Geschäften, bis der Anfall erscheint und der Patient beißt. Wir sollten überhaupt weniger hart beurteilen und uns alle mehr für höhere edlere Wasserscheue ansehen, zumal da wir die Anfälle unserer Leidenschaftlichkeit wohl tausendmal überstehen, und noch öfter als gemeine Wasserscheue, eh' diese schäumen und anpacken, unsern Nächsten warnen und uns aus dem Wege zu gehen raten.
Doch zu Poeten und Philosophen zurück! Da die Philosophen in eine Schule der Ästhetik nicht als Gegenstände und Schüler gehören, sondern als Lehrer, so berühr' ich ihr Tollsein nur im Vorbeigehen und bemerke, daß die Wasserscheu sich in ihren Schriften mehr als Wassersucht offenbart und folglich, da sie nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Kopfe arbeiten, an diesem als Wasserkopf, der nach Gall schon als physischer oft ein Zeichen eines geistreichen Gehirns an Kindern gewesen. Natürlich wird hier unter dem Wasser nichts anders sinnbildlich verstanden als jene philosophische Auflösung alles Stoffs durch fortgesetztes Abstrahieren in durchsichtige Form, wiewohl für den tiefen Philosophen schon der Form als Grenze der Unterschiede zu viel Stoff anklebt; weshalb er sogar das Sein als zu enge und dem Verstande zu unfaßbar zuletzt in das Weiteste, Reinste und Begreiflichste, in das Nichts auflösen muß. Und was meint denn der alte Cicero anders als dieses Wasser oder Wasserstoffgas, wenn er versichert, es gebe nichts so Ungereimtes, was nicht irgendein Philosoph einmal behauptet hätte!
Wenn jeder Philosoph Herr ist in seinem Irrenhause und die Weltweisen als die Irren uns für Irrige ansehen können: so sind es noch mehr die feurigen Dichter in ihrem Schauspielhause, und sie können da machen, was sie wollen, nicht nur einen und den andern Hofnarren, sondern auch jeden Narren und Tollen überhaupt. Man lass' es mich hier nur im Fluge anerkennen, daß der Schauspieldichter der eigentliche regierende König unter den andern Dichtern ist. Diese beherrschen mehr eine unsichtbare Kirche und nur Stille im Lande, jener aber eine sichtbare und die Lautesten im Lande. Das Schauspielhaus ist sein St. James und Louvre und Audienzsaal. Was ist das einsame Lese- und Vorlesezimmer der andern Poeten gegen das Oberhaus der Schauspieler und das Unterhaus sämtlicher Zuschauer und Zuhörer und gegen den Souffleurkasten, der den dirigierenden Minister des Innern enthält! Wenn ein anderer Dichter etwan einen einzelnen Deklamator als seinen Proklamator anwirbt, so stellt der Theaterdichter, der als Generalissimus sein stehendes Heer von stehenden Truppen befehligt, mehr als ein Dutzend oder eine ganze Sprechmannschaft von Deklamatoren auf einmal hin, die noch dazu nicht bloß Sprecher, sondern auch Täter des Wortes sind. Kurz der Theaterdichter versammelt und vereinigt, wenn man Logen, Parterre und Galerie recht abwägt, um seinen Thron gerade die drei Stände, wovon der letzte und breiteste, der dritte oder die Groschengalerie, den andern Poeten abgeht.
Um desto wichtiger wird durch den hohen Stand des Bühnendichters jedes Reden, Lispeln, Stammeln, Schnauben, ja Husten desselben und hier gelangen wir endlich zur Tollheit. Poeten suchen und pflegen sie sehr, und die tragischen würden gern, wenn sie dürften, ganze Stücke hindurch im Wahnsinn sprechen, anstatt daß man ihnen dafür bloße Leidenschaft als Surrogat vergönnt. Zum Glücke hat der neuere Dichter den Ausweg erfunden, im Stücke eine oder ein paar Personen anzustellen, welche toll sind. In diesen kann der Tragiker bequem leben und weben; ihm als König werden, wie in England, die Reden nicht zugerechnet, die er durch seinen Bühnen-Minister halten läßt. Wie ein Mann im Mittelalter Campionen oder Champions oder Geschäftträger haben konnte, die statt seiner fochten und schwuren, ja die statt seiner tranken: so ist ein Wahnsinniger ein guter Champion des Poeten, und er kann sich durch ihn aussprechen, so daß ihm ein oder ein paar Tolle im Stücke wohl so gut als dem Mittelalter die Narren- und Eselfeste und die Fastnachttollheiten zuschlagen, diese bekannten Ableiter und Abführmittel angehäuften Tollheitstoffs. Wenn Schiller, Goethe keine Wahnsinnige, und Shakespeare nach Verhältnis seiner Stücke-Zahl nur wenige aufzeigt: so braucht der neuere Tragiker davon keine Anwendung auf sich zu machen, er kann ihrer nicht genug auf- und unterstellen, und könnt' er sich in jedem Akte eine närrisch gewordne Rolle, wie sonst in Frankreich jedes Schweizerregiment einen Regiment-Hanswurst, halten: desto wohltätiger wirkte es auf ihn, ja auf den Spieler selber, er müßte denn gar noch etwas Besseres, nämlich das Beste erringen. Und dies wäre ein Trauerspiel, worin lauter Verrückte auftreten und kein einziger vernünftiger Mensch; aber dahin hat die Kunst noch weit. Begnügen wir uns mit den Tollen, die wir wirklich besitzen. Auch diese wenigen erleichtern dem Dichter und dem Spieler das Darstellen sichtbar, da der Wahnsinn eine Unzahl Linien, der Sinn hingegen nur eine bestimmte zu wählen und zu treffen gibt, und da wieder diese eine jedem zum Beurteilen bekannt ist, jene aber nicht allen, so wie einer ähnlichen Unbekanntschaft wegen ein Baumschlag leichter zu zeichnen ist als ein Menschen-Angesicht.