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Denkst du noch an das weiße Häuschen mit dem Strohdach, dort in dem engen Gäßchen unweit vom Bache? Wie ein blühender Kranz umringt es das Gärtchen mit jungem Rettich, Zwiebeln und Schoten.
Es ist Samstag »nach Tisch«. In der hellen, geräumigen Stube ist es still, daß man nur das Summen der Fliegen hört. An dem Tisch, dem weißen, reingescheuerten Tisch, sitzest du und schaukelst dich über dem »Traktat Raduschin«. Durch die rot- und blaugefärbte Tischdecke, die vor dem Fenster hängt, kommen die Sonnenstrahlen herein und übergießen alles mit allerlei weichen, matten, zauberischen Farben.
Es ist ein warmer Julitag und du fühlst dich etwas matt nach der ungewöhnlich reichen Sabbatmahlzeit. Einige Male schon hast du den Abschnitt begonnen, den der Rabbi dir für heute aufgegeben, doch es geht nicht. Deine Lippen bewegen sich und du murmelst gedankenlos »Tanun Rabanan ...«: »Die Rabbis haben gelehrt ...« Doch deine Blicke wandern müd und träumend durchs Zimmer.
Dort in dem halbdunklen Alkoven schläft der Rabbi, den aufgeschlagenen »Sefer-Chassidim« auf dem Polster und die Brille auf der Stirn. Und drüben, zu deiner Rechten, dir gegenüber, sitzt Gietele.
Ihr Haar glänzt wie Gold und ihre Lippen erinnern dich an frische, rote Beeren.
Hie und da blickt sie auf und euere Augen begegnen einander. Dann wird es dir heiß im Gesicht und dein Herz klopft. Schnell senkst du dann die Augen auf das Buch und murmelst: »Tanu Rabanan ...«: »Die Rabbis haben gelehrt ...«
Auf der Straße singt eine weibliche Stimme ein Lied. Es ist ein ruthenisches Volkslied; es handelt von einem Bächlein, das einsam hinabläuft ins Tal ... Dann wird es wieder still.
Dein Blick fällt auf Gietele, euere Augen begegnen einander und wie ein Zittern geht es durch deinen Körper. Ein Gedanke ergreift von dir Besitz – ein dunkler, unverständlicher Gedanke.
»Ma jafit uma naim, ahwa b'tamigim«: »wie schön bist du, wie süß bist du, Liebe, mit deinen Wonnen.« Du hast es gestern im Hohelied gebetet und dann mit deinem Vater gesungen – warum kommt es dir jetzt plötzlich in Erinnerung? Du hast einmal die Erklärung gelesen, daß mit den Worten die Thora gemeint sei, ein anderer Kommentar will bestimmt wissen, daß es das Judentum sei, das der königliche Dichter besingt – doch wie kommt dazu deines Rabbi Töchterchen, wie kommt Gietele dazu ...!
In deinem Herzen läßt sich eine Stimme vernehmen. Es ist, scheint es dir, eine Antwort auf deine Frage – doch du verstehst sie nicht. Es ist, scheint es, eine Antwort in einer jener siebzig Sprachen, die deine siebzehnjährige Unschuld noch nicht gelernt.
Doch es ist eine Antwort! Und wie das Wiegenliedchen das Kind beschwichtigt, obgleich es davon kein Wort versteht, so wirkt die sanfte, stille, geheimnisvolle Sprache auf dein junges Herz.
Und während deine Augen auf der jungen, blühenden Gestalt haften, wird es vor dir hell und immer heller und du sagst plötzlich mit halblauter Stimme:
»Itti milebanon Kalle. Itti milebanon taboi ...«: »mit mir vom Libanon kommst du, o meine Braut ...« Du hast die Worte niemals gründlich verstanden. Jeden Freitagabend, wenn du, das Hohelied betend, an diese Stelle gelangt warst, hieltest du inne und blicktest auf vom Gebetbuch.
Wie oft überkam dich eine mächtige Sehnsucht nach jenem stolzen, herrlichen Berg. Du wußtest selbst nicht recht, woran du dachtest, dir schien es eine Phantasie, ein zaubervoller, unbegreiflicher Traum. Doch wie gut verstehst du jetzt die süßen, göttlichen Worte ...!
»Mit mir vom Libanon, o meine Braut, wirst du kommen, herunterblicken vom Gipfel Aman ás, vom Gipfel des Snir und des Hermon ...«
Und auf der höchsten Spitze des Berges Hermon steht ihr Hand in Hand und es lacht und strahlt auf euch glänzender Sonnenschein ... Um euch blüht und rauscht und duftet der Palmenwald und über eueren Häuptern lächelt und winkt mit tausend Wonnen der reine blaue Himmel ...
Du beugst dich zärtlich über die neben dir stehende Gestalt, drückst sie an dein Herz und sie erhebt den Blick zu dir aus den großen, braunen, feuchten Augen.
»Gietele ...!«
Ein halb unterdrücktes Lachen schreckt dich aus deinem süßen Traum empor. Der heilige Baal-Schem hat einen so guten Witz gemacht, daß Gietele den schlummernden Vater vergessen hatte.
Der Rabbi macht eine Bewegung und erwacht. Dabei wirft er den »Sefer-Chassidim« zur Erde. Rasch hebt er das heilige Buch auf, küßt es andächtig und reibt sich die verschlafenen Augen ...
Und du, vom Berge Hermon herabgestürzt, kehrst zurück zum »Traktat Reduschin«. Noch einen Blick wirfst du auf die ruhig dasitzende Gietele, verschluckst einen tiefen Seufzer und beginnst dich wieder zu schaukeln und mit hörbarer Stimme zu singen: »Tanu Rabanan ...«: »Die Rabbis haben gelehrt ...«