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Das Ghettobuch
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J. E. Poritzky

Schachmedrogge.

Nein, ich werde von keinem Mädchen erzählen (gewöhnlich nennen die Dichter jedes Mädchen »Engel«). Der Engel, bei dem ich jetzt verweilen will, das ist meine Mutter. Meine Mutter ist eine der seltensten und edelsten Frauen, und wenn es nach dem Tode einen Himmel gäbe, wo Milch und Honig flösse, worauf die Frommen so sehnsüchtig lauern, so müßte der liebe Gott meiner Mutter den schönsten, himmlischsten Saal schenken, der aus reinem Marzipan wäre und die herrlichsten Engel müßten ihr die Füße waschen mit edlem Rosenöl. Selbstredend müßte der Saal eine gute Ventilation haben und in einem starkduftenden Tannenwald stehen, weil meine Mutter sehr asthmaleidend ist. Aber der liebe Gott weiß das schon. Er weiß auch jedenfalls, daß sie schon in frühester Kindheit Waise wurde und seitdem im Hause ihrer bösen Muhme wie eine gewöhnliche Köchin arbeitete.

Als meine Mutter siebzehn Jahre alt war, heiratete sie ihren Vetter, der so mutwillig und bösartig war, wie ein junger Sturmwind; die Heirat erleichterte ihr das Leben absolut nicht, – im Gegenteil, sie mußte jetzt das Dreifache arbeiten. Darum hat sie auch keine Hände, die sich wie Samt anfühlen, sondern die zäh wie Leder sind und von schwärzlichen Linien durchfurcht werden, wie eine Eisenbahnkarte. Trotzdem habe ich noch keine Hand gesehen, die so gerne verschenkt. Ganz Lomza weiß, daß es in meiner Mutter die fleißigste und edelmütigste Frau besitzt, und es wird ihr auch niemand ein böses Wort nachsagen. Ja, wenn ich mich jetzt in die Heimat versetze, sorglos in den Straßen herumspaziere und dem Gezwitscher der Sperlinge zuhöre, die auf den Dächern hocken, so vernehme ich, wie sie sagen: »Und die beste Frau, die für uns, wie für ihren Muschinik sorgt, bleibt doch die Frau Moznjikow. Kommt, wir bringen ihr ein Ständchen.« Und stehe ich nachts in dem kleinen Hof und schaue hinauf zum blaunächtigen Himmel, wo die vielen Sterne blitzen, so ist mir's, als ob sich all die Myriaden Lichter über unserem Hofe zusammendrängen, um nur das Antlitz meiner teuren Mutter beleuchten zu können, als ob die Sehnsucht sie trage ihre wundersame Lichtflut nur über meine Mutter zu ergießen. Und ihre blauen Lichtstrahlen stehlen sich durch die kurze Tüllgardine in den schmalen, bläulichgetünchten Alkoven hinein, und das ganze Gemach erglänzt zauberhaft im blaugrünen, goldigsten Glänze, und da liegt meine liebe Mutter im Bette und ruht aus ... Wie süß das märchenhafte Mondlicht auf ihrem Antlitz schläft. Sie träumt ... vielleicht von ihrem Suninka! ... ach Gott im Himmel.

Nein nein. Ich sehe schon, wenn ich an meine Mutter denke, rege ich mich zu sehr auf. Ich verzapfe mir dabei mein Blut. Übrigens ist sie mir auch viel zu heilig, als daß ich sie in den Kreis dieser Betrachtungen ziehen möchte. – ... Vor acht Wochen war der hinkende Schachmedrogge bei mir und brachte mir einen Gruß von meiner Mutter.

Dieser Schachmedrogge hat ein seltsames Leben hinter sich. Er war ein ganz armer Mann, einer von diesen wandernden russischen Juden, die alle Jahre zwei- oder dreimal zu einer bestimmten Zeit die reichen Glaubensgenossen in Deutschland heimsuchen und das zusammengebettelte Geld entweder versaufen oder verspielen und verludern, oder es dem hungernden Weibe nach Hause schicken, damit es die Miete und den Melamed zahle. Den Melamed soll das Weib zahlen, damit der ihr Kind besser im Mischnajoth und in der Gemara unterrichte, und die Miete, damit man sie und ihr Kind nicht auf die Straße werfe. So denken aber die wenigsten dieser Schnorrer. Und einer von diesen wenigen, war der dreiundsiebzig jährige Schachmedrogge, oder wie ihn seine Sippe nannte: »der lahme David«. Er war aus Sokolow gebürtig, – hatte ein Weib und zwei Söhne; einer vierzehn, einer sechzehn Jahre alt; ein paar Teffillin und einen Tallis; ferner ein Kistchen, das zehn halbverrostete Taschenmesser enthielt, mit denen er hausieren ging; ferner einen weißgelben Ziegenbart; enorme Kenntnisse im Hebräischen; Hämorrhoiden, Flöhe und eine kurze Stumpfnase, einem knorrigen Baumstümpfchen ähnlich, auf der eine blaue Brille saß, deren rechtes Glas zersplittert war.

Schachmedrogge war kein gewöhnlicher Bettler. Er hatte das Bestreben, sich sein Geld ehrlich zu verdienen; zum Beispiel auf folgende Art: – wenn er in ein Haus kommt und den Hauswirt antrifft, so sagt er: »Guten Tag; Gott soll Ihnen Gesundheit geben, Herr Meier.«

»Guten Tag,« antwortet der Hausherr, »was wollen Sie?«

»Was ich will! Liebes Kind, was wird ein alter, blinder, krüppliger, tauber Mann wollen, der nagelneue, scharfe, feine Messer zu verkaufen hat!«

»Ja, ich brauche kein Messer!«

»Was haißt das? Hab' ich gesagt. Sie sollen ein Messer kaufen? Wer hat das gesagt! Sie können es sich doch ansehen. Kostet denn das Ansehen Geld! Zum Beispiel so ein Messer, scharf wie der beste Chalef, das kostet doch in der Stadt mindestens fünf Mark, und vielleicht auch noch mehr – das weiß Gott im Himmel. Aber bei mir kostet es nur zwei Mark. Und warum, weil ich einen großen Ramsch gekauft habe.« Und so weiter.

Kurz und gut, der Hausherr wird so lange beschwatzt, bis er ein Messer kauft und vier Mark dafür bezahlt hat. Eigentlich ist es aber nicht das Messer, wofür der Käufer vier Mark zahlt, sondern die elende rührende Gestalt des alten David. David aber sagt sich so: »Das Messer kostet im Dutzend drei Mark, also das Stück zwei Zehner und einen Fünfer, das sind im ganzen fünfundzwanzig Pfennig; ich hab' dafür genommen vier Mark, also muß ich verdient haben drei einzelne Mark und sieben Zehner und einen Fünfer, das ist nach unserem Geld bald zwei Rubel ... nun, Gott soll weiter helfen, es geht »Boruch – Haschem«.

Und doch, einen ehrlicheren, aber auch geriebeneren Menschen wie David kann man sich kaum denken. Wenn er hundert Mark auf der Medinoh zusammengekratzt hat, so sendet er das Geld eiligst nach Hause und behält kaum ein paar Groschen für sich zurück. Die anderen aber, die z. B. in der Herberge der Witwe Tuschansky in Frankfurt am Main zusammenkommen, spielen »Siebzehn und vier«, »Klabrias«, »Schafskopf«, saufen Bier wie Tolle, zanken und rauchen und singen Jargonlieder bis spät in die Nacht. Jeder dieser Bande hat, sooft er nach derselben Stadt kommt, immer wieder einen anderen Namen, einen anderen Rock und einen anderen Bart und führt beständig zehn oder fünfzehn Pässe mit, die auf, weiß der liebe Himmel, was für Namen ausgestellt sind. Die Verstellungskunst dieser Menschen ist ganz erstaunlich. Zum Beispiel heute heißt einer Chaim Todres; er hat einen langen Bart und einen weichen, braunen Filzhut; morgen ist aus ihm ein Fischl Fischbein geworden; sein Bart ist kurz, und der weiche Hut hat sich in einen hohen, steifen Deckel verwandelt; – in vier Wochen metamorphosiert sich dieser Fischbein zu einem Nathan Ziwiakowski, mit spitzem Bart; den nächsten Tag trägt er braune Cotelettes, und sein Paß lautet auf Moscha Stawisker, dann wird der Bart schwarz und zerzaust. Heute ist er blind, morgen stumm, übermorgen taub, das nächste Mal taubstumm, dann heißt er Lachmedudl, ist Vater von siebzehn Kindern (der Deutsche glaubt ihm alles) und hinkt auf beiden Beinen, oder er kommt eben vom Hospital, wo er ein Jahr am Typhus krank gelegen, oder er zeigt eine Offerte vor, worin man ihm in der Stadt X. Y. eine Stelle anbietet, er hat aber kein Geld dort hinzureisen, oder man hat ihn aus Rußland ausgewiesen und hat sein Haus verbrannt, oder er hat ein Weib, das eben in die Wochen kommt usw. usw. Solche Aussagen bekräftigen die Leute mit gesiegelten, gedruckten und gestempelten Schriftstücken – aber diese Schriftstücke, das sind bloße Fleppen.

Von all diesen rentablen Betrügereien hielt sich der lahme David jedoch fern. – Jedes Jahr, etwa von Oktober bis März überwinterte er bei uns, wofür er unser Haus mit ganzen Säcken voll Segens und Dankes überschüttete. In Sokolow bei seinem Weib und Kind konnte er nicht bleiben, weil dort kein Platz für ihn war. Ein Zimmer – ich schäme mich zu sagen Schweinestall – das siebzehn Fuß lang und vierzehn Fuß breit war, bewohnen drei Familien. Jeder Familie gehört ein Drittel des Zimmers und ist durch eine leichte, halbverfaulte Bretterwand vom benachbarten Zimmerteil getrennt. In solch einem Stückchen Raum liegt ein schmaler Strohsack, von dem ein dumpfer Geruch ausströmt, daneben steht ein Stuhl und ein wackeliges Tischchen. Das ist die ganze Zimmereinrichtung. Auf so einem Strohsacke liegen des Nachts der Mann und die Frau. Zu den stinkenden Füßen des Mannes liegt ein Kind; zwischen Mann und Frau liegen zwei Kinder, und unter dem Tische auf einem bißchen Stroh, das man nachts aus dem Strohsacke zerrt und morgens wieder hineinstopft, liegt ebenfalls ein Kind. Alle sind dürftig bedeckt mit ihren lumpigen Kleidern und mit Bettdecken, die viel traurige Erfahrungen hinter sich haben. Trotz der Abzäunungen teilen die drei Familien doch Freud und Leid. Sie kochen und essen zusammen das Mittagbrot – das heißt Pellkartoffel und Salz – und niemals haben sie über eine Sache geteilte Meinungen. Zum Beispiel: sie sind alle darin einig, daß der Bürgermeister ein Rosche wie Haman ist, und daß den Polizisten die Erde lebendig verschlingen möge, wie sie Korach einst verschlang.

Die Unterhaltung zwischen der Frau des hinkenden Schachmedrogge und seinem Sohne, der Rabbiner werden soll, bewegt sich etwa in folgender weise:

»Beril, es gießt. Mach' zu die Tür.«

»Ja, Mameschu

»Hast du schon gedawent, Minche?«

»Ja.«

»Wasch' deine Füß', du gehst wie ein wilder Chasser

»Mameschu weil draußen viel Blotte liegt.«

»Sag' nicht immer ›ja Mameschu‹.«

»Nein, ich sag' schon nicht mehr ›ja Mameschu‹. Mameschu, aber ich hab' starken Hunger; gib mir chotsch eine Kartoffel.«

»Es is nischt da kein Brock

»Aber ich hab' doch so stark Hunger.«

»Du? Auf dir eine Rasche. Du bist überhaupt ein großer Seilleil We-Seiwei

»Aber Mameschu...«

»Halt den Pisk! Achtzig Ruches auf dir. Hack' lieber Holz oder leg' dich schlafen.«

»Wie soll ich Holz hacken, wenn ich hab' Hunger?«

»Trink ein Glas Wasser.«

»Aber hab' ich denn Durst, Mameschu?«

»Geh schon in all die schwarze Johr, was willst du von mir? Soll ich mir schneiden Gebratenes von den Rippen! Du Fresser, kannst du nicht warten, bis der Tatte wird schicken Geld?«

»Aber teure Mameschu, herzige, ich will ...«

»Schah ... schah ... es donnert, mach' eine Broche

So ist das Weib Schachmedrogges und so sein Sohn, den er über alles liebte, der künftige Rabbiner, für den er schon zehn Jahre in der Fremde umherbettelte und sich Wind und Wetter preisgab.

Während der sechs Monate, die er bei uns weilte, suchte er sich durch allerhand Arbeiten nützlich zu machen; er spaltete Holz, reinigte den Hof schliff die Küchenmesser, besserte die Schirme aus usw. Nur Sonnabends ruhte er. Dann saß er auf dem Sofa und erzählte in seinem näselnden Tone Witze über Witze, oder er suchte alle durch seine Jargonlieder zu erheitern, die er mit urkomischer Mimik und mit der Stimme einer ungeschmierten Holzsäge vortrug, oder er saß gebeugt über dem Tehillim und brummte in merkwürdigem Singsang die Psalmen leise vor sich hin. Oder er erzählte von seinem lieben Sokolow; es war rührend mit anzuhören, mit welcher Innigkeit er von seiner Heimat und von den Seinen sprach. Sein Weib hielt er für eine Hexe und seine Armut für die gerechte Strafe auf dieser Welt, die ihn von einer Sühne der Sünden im Jenseits befreite.

Vor acht Wochen, als er mich besuchte, schien er mir auffallend gealtert. Fr fand mich traurig im Bette liegend, schüttelte gleich eine Anzahl Witze aus dem Ärmel und ging nicht eher, bis ich in der heitersten Stimmung war.

»Was macht Euer Weib?« fragte ich ihn.

»Sie lebt noch, und wenn Gott gibt, gedenkt sie noch lang zu leben.«

»Was ist mit Eurem Sohn!« »Der! hoho! Er fragt mich noch, was mit meinem Sohn ist; das weiß jeder ordentliche Mensch. David Schachmedrogges Sohn wird werden ein Rabbiner; das weiß die ganze Welt.«

»Habt Ihr Appetit, Schachmedrogge?«

»Was haißt das, Appetit? Wie hat ein Mensch keinen Appetit? Ich war heut bei einem Porez zu Gast, hat man mir dort Alkes gegeben, von vor acht Tagen Mittwoch. Der ganze Mittag war wert vielleicht zwei Kopeken. Die Alkes liegen mir im Magen wie Steiner; jetzt werd' ich mich lassen müssen operieren, wird mich kosten mehr, wie der ganze Porez wert ist. Aber Appetit hab' ich Boruch-Ha-schem einen ganz guten.«

»Wir werden den Samowar aufstellen, David.«

»Deswegen bin ich auch gekommen. Bin ich vielleicht gekommen, mich heiserig zu reden? Natürlich trinkt man Tee. Und Sie werden mir geben Geld, werd' ich zu schleppen bringen Zucker, Arak, eine Zitron', Kuchen. Sie brauchen gar nicht aufzustehen. Ich werd' schon alles allein besorgen und allein aufessen.«

»Sie sind so ein alter Mann, David, und so gesund, und ich ...«

»Ach was, ich bin kränker, wie ich ausseh' ... Meine Krankheit liegt im Beutel. Und das ist die schwerste Kränk. – was tut Ihnen weh? Der Bauch? Trinken sie einen guten Schnaps. – Verrückter Mensch. – Ständig liegt er in den Federn wie eine Kindbettern.«

»Ich werde sowieso sterben, David.«

»Ach, was haißt sterben. Man muß Ihnen den Hintern tüchtig ausgerben, dann werden Ihnen vergehen solche Dummheiten, oder nehmen Sie was ein zum Abführen.«


Vierzehn Tage später aber war der hinkende Schachmedrogge tot.

Ein paar Tage vorher wurde er arretiert, weil man ihn beim Betteln ertappte. Als ihn der Polizeileutnant verhörte, gab er so täppische, altersschwache Antworten, daß man ihn drei Tage inhaftierte. Zuvor rasierte man ihm jedoch den Bart – aus Gott weiß, was für einem Grunde – radikal weg, den er schon über fünfzig Jahre trug. Ich kann mir denken, wie sich der arme Mann grämte.

Am zweiten Morgen, als man ihm den Kaffee in die Arreststube brachte, saß er in einem finsteren Winkel, geduckt, die Knie ans Kinn gepreßt, als ob er schliefe. Der Aufseher rüttelte ihn.

»Sie! Pst!«

David antwortete nicht.

»He, der Kaffee!« Der Aufseher stieß ihn mit den Fußspitzen an, aber David schwieg.

»Na, sind Sie denn taub?« Er stieß ihn mit dem Fuß in die Rippen. David fiel um – und schwieg ... denn er war tot.

Schachmedrogge kam in unsere Anatomie, wo ihn drei französische Studenten präparierten. Der Professor hielt einen längeren Vortrag über ihn und meinte, daß er allenfalls einem Schlaganfalle erlegen sei.

»Ja, wenn du es nur wüßtest«, lächelte der verunstaltete Mund Davids. »Du verstehst auch einen Quark von Psychologie. Ich an einem Schlaganfall! Hoho!«

Zu Hause in Sokolow warten Frau und Kind auf die nächsten fünfzig Rubel von Schachmedrogge, denn der Wirt hat gedroht, beide in den Rinnstein zu werfen, mitsamt ihrem verfaulten Strohsack.

Die Frau schwört aber beim »obersten Gott«, daß mit der nächsten Post das Geld auf alle Fälle eintreffen muß ..... sie kennt doch ihren David.


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