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Es war Sommerzeit. Die Sonne neigte sich aus ihrer Höhe mit leuchtendem Auge in das düstere Cheder herein, warf spottend, als wollte sie den Melamed beschämen, ihren Blick auf seinen schmierigen Tallis-katan, verwob ihre Strahlen in seinen spitzen Bart, wie um ihn zu erschrecken, und goß übermütig ihren goldenen Glanz über Staub und Schmutz, und über den Wassergraben in der heiligen Straße, der Straße der Synagoge, der Melamdim, der Schächter, die gleichzeitig den Marktplatz bildete. Und mit dem tiefsten ihrer Zauber flüsterte sie uns lachend zu: »Törichte Kinder, was sitzt ihr da, eingesperrt mit dem Rabbi?« wahrlich, wie köstlich, wie segensvoll sind diese Sonnenstrahlen, die so voll Liebe und Anmut durch das Fenster schweben und tanzen! Und draußen, wie schön, wie hold! Die Spiele dort so hübsch! Wie duftig der Dunst, der von der Wiese aufsteigt! wie glücklich die Kinder, die jetzt draußen sich tummeln, am Boden sich wälzen, Erdkügelchen kneten und an der Sonne trocknen! Der Rabbi hingegen ist hart und grausam, er kennt keine Gnade, Er sitzt und lernt, Er sitzt und wiederholt. Schweißtropfen fallen auf die Gemara, der Rock ist feucht und klebt am Leibe, die Hände sind schwer, der Kopf schmerzt, die Stimme ist gedrückt. Aber der Rabbi wiederholt, lernt und wiederholt...
Endlich wird auch er müde, Er unterbricht die Wiederholung, sagt uns einige ermahnende Worte und heißt uns ins Beth-ha-Midrasch gehen, um Mincha zu beten, wir eilen atemlos, in Haufen, auf die Straße.
Da kommt uns eine Herde entgegen. An der Spitze wandeln gewichtige Lämmer, voll Seelenruhe und Selbstzufriedenheit, wie Rabbis oder angesehene Männer des Städtchens, wenn sie zusammen mit »gewöhnlichen Menschen« zu einer frohen Pflichterfüllung gehen: zum Empfang eines Bräutigams, zu einer Beschneidung, zu einem Begräbnis. Hinter ihnen kommen di Ziegen, dann die Kühe, die Kälber, Schweine und Füllen, jedes in seinem Lager. Der Staub dringt bis in den Himmel, und wir drängen und mengen uns mitten in die Schar. Der eine von uns setzt sich rittlings auf ein Lamm, der andere auf einen Ziegenbock, der dritte sucht die Tiere zu quälen, beunruhigt und erschreckt sie, damit sie wissen, daß ein Mensch da ist, ein Sohn jenes Geschlechtes, das mit seiner Kraft die Welt und ihre Fülle beherrschen soll. Am Ende des Heerlagers kommt noch unsere Kuh, ihr zur Rechten der Hirt, der auf den Schultern ein liebliches Kälblein trägt.
Ich verstand plötzlich das Geheimnis dessen, was meine Mutter mehrere Male erzählt hatte: unsere Kuh sei trächtig. Jetzt erreichte meine Freude ihren Höhepunkt, und ich betrachtete nur voll sehnsüchtigen Neides den Hirten, der das schöne Kälblein direkt ins Haus meines Vaters trug. Aus ganzem Herzen wollte ich ihm nachlaufen, mich auf das Kälblein werfen und es vor Liebe küssen. – Doch wie? – Und der Rabbi? Und das Minchagebet! Was wird die Mutter sagen, wenn sie ihren Jungen sieht, der Talmud lernt und solchen Unsinn treibt? So entschloß ich mich mit Widerstreben, ins Beth-ha-Midrasch zu gehen.
Das Gebet war verstrichen – ich lief eilig nach Hause – zum Kälblein. Wie ich kam, liefen mir schon die kleinen Brüder und Schwestern entgegen und verkündeten mir das frohe Ereignis. »Hättest du's gesehen, Chofni,« so sprachen sie aus einem Munde, »wie lieb dieses Kälblein ist, wie breit seine Stirn, sein Näschen, seine lange Zunge und seine roten, vollen Lippen, hättest du's gesehen . ..« Ich konnte nicht warten, bis sie zu Ende waren, sondern lief eilends in den Stall, warf mich vor dem Kälblein nieder, betastete seinen ganzen Körper, nahm es auf den Arm und trug es in die Küche, wo ich es beim Kerzenlicht betrachten konnte. Dann tauchte ich einige Bissen Brot in Salz und legte sie auf seine Zunge. Es aß mit Appetit und blickte dann auf mich voll Wohlgefühl und Dankbarkeit. Ich erkannte im Augenblick, daß ich dem Kälblein lieb geworden war und, seinen Blicken nach, mich als wert der Freundschaft erwies. Denn es bevorzugte mich vor allen Rindern, vor Brüdern und Schwestern, und blickte stets entweder auf mich oder auf alles, worauf mein Auge ruhte. Da empfand ich eine starke Liebe zu dem schönen Kälblein, allerdings untermischt mit Stolz, und ich bemühte mich, es mit vollem Herzen zu hegen und zu pflegen und ihm Liebe für Liebe zu vergelten ...
»So wird es sein,« sagte abends meine Mutter zum Vater, als er nach Hause kam. »Ein guter Zufall: die Kuh hat ein Kalb geworfen. Nächste Woche werden wir es schlachten, so wird es nach deinem Wunsche ein Braten sein.« »Ist das möglich, Mutter!« rief ich voll Bestürzung, »kannst du dieses schöne und liebliche Kälblein schlachten lassen!« »Du bist noch ein Kind, ein Dummkopf und ein Narr. Sagtest du so etwas unter Männern, man würde dich auslachen.«
Als ich wieder in die Küche kam, um das Kälblein zu besuchen, die Lust meines Sehnens und die Liebe meines Herzens, und als ick seine Blicke sah, die auf mich gerichtet waren und gleichsam um Milde und Erbarmen flehten, da strömten meine Augen von Tränen über, voll Inbrunst stürzte ich hin, betastete sein Fell – heiße Tropfen fielen auf seinen Hals – ick küßte es und hörte nicht auf zu weinen.
In jener Nacht kamen mir viele Gedanken.
Da empfand ich, was ich nie zuvor erlebt hatte, als ob ein Vogel tief in meinen Kopf sich eingebohrt hätte und darin mit scharfem Schnabel nagte. Und ich glaubte eine Stimme zu hören: »Chofni, wozu ist dieses Kälblein zur Welt gekommen! Um geschlachtet zu werden! Und wann wird man es schlachten? Und wenn es nur dazu geboren wurde, konnte es nicht häßliche Borsten tragen und schwarz wie Tinte sein! Wann will meine Mutter es schlachten lassen? Und wer gab ihr Erlaubnis, dieses schöne Kälblein zu schlachten?«
In jener Nacht gelobte ich achtzehn Kopeken für die Kasse Rabbi Meirs, des Wundertäters, daß er das Herz meiner Mutter zum Guten wende für das Kälblein. Dann schlief ich ein. – Im Traume sah ich das Kälblein schon gebunden, der Schächter stand vor ihm, das Messer in der Hand; ein Augenblick – das Kälblein zuckte und verblutete. Am Morgen, als ich vom Bett aufstand, lief ich sofort in den Stall – und fand noch zu meiner Freude mein Kälblein daliegen in friedvollem Schlummer, lebendig und gesund; seine Mutter war darüber herabgebeugt und leckte sein Fell, strich durch seine Härchen, Reihe um Reihe.
Jetzt, da ich dies schreibe, weiß ich, daß das Kälblein nicht den Mittelpunkt der Schöpfung bildet: Beweis, daß das Kälblein schon geschlachtet wurde und die Welt dennoch weitergeht. Damals aber hätte ich meinen mögen, daß alles Dasein sich im Kälblein konzentriert, daß alles nur gleichsam seine Verkörperung, ein Schatten seines Wesens sei.
Am darauffolgenden Abend, als ich nach Hause kam, fand ich den Schächter in Unterhandlung mit der Mutter – im verlaufe des Gespräches kaufte er von ihr des Kälbleins Fell. Damals schwieg ich, denn meine Mutter hatte mir gestern gesagt, daß ich ein Tor sei –, aber mein Geist tobte in mir und mein Herz pochte wie ein Hammer. Dann dachte ich: »Bin ick denn ein Tor? Warum? Wer kann denn sagen, daß man sich dieses schönen Kälbleins nicht erbarmen soll? Meine Mutter sagte so oft, man solle sich aller Lebewesen erbarmen und nicht grausam sein. Nicht grausam sein und schlachten? Sich erbarmen und schlachten? Meine Mutter sagte so. Aber wer kann sagen, daß sie recht hat? Doch wie? Die Mutter? Kann eine Mutter irren? Herr der Welt! In deiner Hand sind beide, meine Mutter und das Kälblein, warum hast du den Hauch des Lebens in das Kälblein gegossen und ins Herz meiner Mutter den Wunsch, es zu töten? Herr der Welt! Dieses Kälblein, das du gebildet mit all seinen Gliedern und Adern, dem du die Kraft und Dauer verliehen hast, viele Jahre auf der Erde zu leben: warum wird es geschlachtet! Gott und Herr, vor dir ist es auch offenbar, daß dieses Kälblein geschlachtet wird und jenes nicht: warum hast du dann jene Kälber geschaffen, die nur zur Schlachtung da sind, und warum hast du ihnen Kraft gegeben, um noch Leben zu zeugen? Wenn du sie aber zum Leben erschaffen hast, warum können andere deinen Willen übertreten?«
Und mein kleiner Bruder, der acht Tage nach seiner Geburt starb? Von ihm sagte die Mutter mit Bestimmtheit, daß ihm schon vor der Geburt im Himmel sein Leben vorgezeichnet wurde? Und warum wurde er mit der Vollendung eines Menschen geschaffen? Wozu brauchte er Füße, wenn er nicht gehen, Hände, wenn er sie nicht gebrauchen sollte? Was wäre er geworden, wenn ihn nicht die Hebamme erdrückt hätte? Und was war ihre Schuld, wenn ihn der Todesengel schlug? Und so sagte meine Mutter, der Todesengel hätte ihn eigentlich hinweggenommen, auch wenn die Amme seinen Tod verschuldete. Wozu der Todesengel? Und kann es sein, daß ein Mensch, gar daß ein Kind ohne Todesengel stirbt?
»Mutter, kann ein Mensch ohne Todesengel sterben?« – »Bist du verrückt, Chofni?« Meine Mutter schämte sich vor dem Schächter, der über meine dumme Frage lachte. »Was brauchst du das zu wissen? Kannst du denn schon die ganze Gemara, daß du wissen mußt, wie ein Mensch stirbt?«
Da erbleichte mein Antlitz und ich wurde voll Grolles.
In jener Nacht floh mich der Schlaf und bittere, schreckliche Gedanken gingen mir durch den Kopf. Ich hüllte mein Gesicht in die Decke, denn ich erschrak vor meinen furchtbaren Gedanken mit ihren markerschütternden Fragen. Damals empfand ich, daß in meinem Innern etwas zusammenbrach, daß etwas von seiner Stelle gerissen und entwurzelt wurde. Damals empfand ich, daß ich kämpfte, nein, daß in mir verstand und Herz gegeneinander kämpften. Das Herz verkroch sich und floh vor dem Verstande, dann rüstete es sich mit seiner letzten Kraft zur Verteidigung – dann strauchelte und fiel es – und eine tiefe Wunde blieb in mir. Dann gelobte ich mir noch einmal achtzehn Kopeken für die Kasse Rabbi Meirs, des Wundertäters, und ich sprach mit Inbrunst und gebrochenen Herzens, wie ein Mensch, welcher weiß, wie schwer er gesündigt hat: »In deine Hände, o Gott, befehl' ich meine Seele.« Dann schlief ich ein ...
Ein Augenblick jagt den andern, ein Tag erreicht den andern, Es kam der zweite, der dritte, vierte, fünfte Tag – das Kälblein soll am achten Tage geschlachtet werden – wohin aber bin ich geraten ...?
Das Kälblein wuchs von Tag zu Tag – es strampelte mit seinen langen, dünnen Beinchen, und so oft es mich von ferne sah, lief es mir entgegen, hüpfte und tollte vor Herzensglück – ich empfing es mit stummem Seufzen und weinte und lachte zu gleicher Zeit.
Der Schreckenstag, der achte, kam.
Ich sehe die schrecklichen Augenblicke nahen und nahen. Die Zeit läuft rasend, die Sonne steigt, steigt – jetzt sinkt sie wieder nach Westen ...
Ich weiß: das Kälblein wird nicht geschlachtet werden, es kann, es kann nicht sein – trotzdem hämmert mein Herz. Ich weiß: der Himmel wird heruntersteigen, ihm zu helfen, die Engel werden kommen, um es zu retten – das Messer wird zerbrechen oder sein Hals wird zu Stein werden. Auf natürlichem Wege ist eine Rettung nicht möglich – meine Mutter ist starrsinnig – aber ein Wunder wird geschehen, die einzige Möglichkeit. Das Kälblein ist so lieblich. – Ich gelobte viel, jede Stunde mehr und mehr ...
Trotzdem – wer kann es wissen?
Mein Herz pocht, meine Augen sind voll Tränen, meine Empfindungen toben, meine Gedanken jagen hin und her. Es ist schwer, hier einzugreifen, auch der Rabbi versteht es nicht. Nein, ich werde nicht den Rabbi fragen, auch er wird mich verlachen und einen Toren nennen, wie meine Mutter...
Das Kälblein wurde geschlachtet.