Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Herr Finkelmann, der Glückliche, der den Handelsgewinn des ganzen Bezirkes an sich gebracht hatte, er, der Beherrscher des Marktes, der die Preise willkürlich drückt und hebt, der durch Kredit über die Kaufleute schaltet, sie aufrichtet und zu Boden wirft, er, der Handelshäuser kauft und niederreißt, der Mann des Kapitals und vieler Baulichkeiten, er, der Raubfisch in dem Teich des Städtchens – erwacht erschrocken um Mitternacht.
»Warum erwache ich!«
Es gibt viele Menschen im Städtchen, die ihren Augen keinen Schlaf gönnen, um nur ihre Familie vor Schande und Hunger zu retten, andere, die sich vom Abend bis zum Morgen umherwälzen, denn morgen schon kann der Gläubiger mit dem Gerichtsbeamten kommen, sie zu pfänden. Nein, nicht zu diesen gehört Herr Finkelmann. Ihm braucht niemand zu borgen, er hat nichts zu fürchten, selbst wenn ihm bis zu seinem Tode nichts mehr gelingen sollte, warum erwacht er also um Mitternacht? Finstere, dichte Nacht, als hätte Gott Schwärze über alle Dinge der Welt gegossen, und Schweigen ringsum, als erwachte er unter Toten. »Was ist dies?« wundert er sich unausgesetzt. Er empfindet eine Angst im Kopfe und ein Zittern des Körpers. »Bin ich krank?« denkt er voll Schrecken. Nein, er ist immer gesund und fest. Ein einziges Mal, als Knabe noch, im Vaterhause, war er krank, vor Furcht – seit damals kannte er kein Leiden.
Plötzlich beschleicht ihn ein Zweifel: »Liege ich denn zu Hause, in meinem Bette?« Wie er mit der rechten Hand die Wand betastet, ist sie nicht da, sondern links. »Liege ich so, dann ist die Wand doch rechts. Träume ich denn?« Nein, alle seine Sinne sind wach, seine Augen sind offen, aber sie sehen nichts, weil die Finsternis sie überwältigt, seine Ohren gespannt, aber sie hören nichts, denn rings herrscht Todesstille.
Er beißt zufällig in die Unterlippe, und es schmerzt, er zieht den Fuß aus der Decke und ihn fröstelt, dann fällt ihm die Wand ein. Das macht ihn zittern.
»Ich werde nicht beben, aber heute geschah mir ein Unglück. Nicht ohne Grund schwindelt es mir im Kopfe, und er ist schwer wie Blei, nicht ohne Grund zittert alles in mir vor verborgener Angst – das Herz kennt die Bitternis!« Tief, tief verbirgt sich die Tatsache, das Unglück, das ihn getroffen hat – nur sein Gedächtnis, der Eimer, der in den Brunnen tauchen soll, ist verdorben, versagt heute seinen Dienst.
Kein Zweifel. Heute hat ihn das Unglück getroffen, das er plötzlich vergessen hat. Wieso?
Schon öfter geschah es, daß er irgend etwas vergaß, warten mußte, bis es ihm einfiel – doch da vergißt er immer nur den Namen und nicht die Sache, das Wort schwebt auf der Zunge, hartnäckig und kann nickt heraus, doch, jetzt hat er die Tatsache vergessen. Hat sie mich gekränkt?
Doch diesen Gedanken verabscheut er – ist sie nicht Leben seines Geistes und seiner Seele?
Sie schläft gewiß.
Finkelmann schärft sein Ohr, um den Atem der Schlafenden zu hören, umsonst – Todesstille ist um Miriam. Mühsam hebt er sein Haupt, sie zu sehen, er schärft seine matten Augen, lugt gleichsam nach einer Spur von Licht, um sie auf dem Bette zu sehen. Umsonst. Nur ein mattweißer Fleck zittert vor ihm in der Luft.
»Furchtbare Nacht«, kommt es auf seine Lippen, er wagt es nickt, zu sprechen, um sie nicht zu wecken. Vielleicht betraf das Unglück sie, warum will er ihr die Heilung rauben, den Schlaf, den ihr der gute Gott in Erbarmen und Gnade gesendet, – soll sie schlafen, ruhen, die reine Taube. Sie ist nicht gesund. Gott weiß ihr Gebrechen. Ihm ist sie wie ein verschlossenes Buch, tief in ihrem Innern sitzt die verborgene Krankheit, in ihr nagt ein Schmerz ...
Ja, sein Weib ist rätselhaft. Als sie seine Braut war, voll Heiterkeit und Freude wie ein freies Vöglein – auch nach der Hochzeit beseligte sie ihn noch lange mit ihrer Herzensfröhlichkeit. Doch plötzlich verstummte der Gesang, das Lächeln schwand von ihrem Angesicht, es ward ganz anders – blaß und dunkel unter den Augen, welche niedersanken, um sich nicht mehr zu heben. Kein Funke von Glanz mehr in ihnen, auf ihrer zarten Stirne Wolken. – vergebens fleht er: »Was ist dir, Miriam, was ist dir?« »Nichts«, sagt sie, »gar nichts.«
Seit damals glich sie sich nicht mehr, verwandelte sich in ein Bild des Kummers, in ein Bild seiner verstorbenen Mutter.
Ja – so denkt er voll Bitternis – meine Mutter war unglücklich, ein schwer bedrücktes Weib, krank und gequält, mein Vater warf beständig seinen Schrecken über sie, zertrat ihre Ruhe bis zum letzten Tag. Meine Mutter war keine Herrin, nur eine elende Magd des Hauses, doch sie war gut und die Freude aller Armen. Und ihr Mann, sein Vater, haßte sie mit seinem vollen Haß und mochte nie gütig mit ihr sprechen. Sie schlich wie ein Schatten, bis sie kummervoll ins Grab stieg, in der Mitte ihrer Jahre. – Doch sein Weib? Was wird mit ihr werden? Auch sie ist guten Herzens, auch sie versteht die Armen, auch ihr Haus ist geöffnet zur Freude der Bedrängten, auch sie ladet jeden Darbenden, daß er »komme und esse«. Aber sind ihr nicht auch alle Wünsche befriedigt, ist sie nicht Herrin und Finkelmann, der Raubfisch, ihr gefesselter Knecht, ihr Fußschemel, er, dem jedes Wort ihrer Lippen heilig, ihr Wunsch Gesetz ist, der ihr erfüllt, noch ehe sie fordert – was sollte ihr fehlen?
»Sie liebt mich eigentlich nicht!«
Aber sie liebte ihn doch sehr, als er, ihr Bräutigam, zu ihren Eltern kam. Wie zog ihn da ihre Herzlichkeit an. Und als er sie einmal heimlich küßte. Dann trafen sie sich im Garten unter einer Eiche, dort kündete sie ihm, daß er ihr Erwählter sei, der ihrer Seele gefällt, da nannte er sie das Bild seiner guten und frommen Mutter und schwor ihr ewige Treue: Er wird nicht in den Wegen seines engherzigen Vaters wandeln, hüten wird er ihre Rosenwangen, daß sie nicht welken, ihre Korallenlippen, daß sie nicht erbleichen, ihre blauen Augen, daß sie sich nicht röten, hüten wird er ihre klare Stirne vor allem schmerzlichen Gewölk und ihr reines Herz vor allem Seufzen.
Hat er sein Wort nicht gehalten? Hatte er eine Schuld? Er erinnerte sich keiner ...
Ihre Eltern gaben ihr die Mitgift nicht. Wäre sein Vater am Leben gewesen, dann wäre das Verlöbnis gelöst worden. Warum aber lebte seine Mutter nicht mehr? Warum verdiente sie es nicht, zu sehen, wie er Wechsel an Geldes Statt nahm? Daß sie es nicht sehen konnte, wie er seinen Götzen von sich warf, das schmerzte ihn. Und er tröstete sich nur damit, daß sie, im Schatten des Allmächtigen sich bergend, es aus den Höhen schaut, und ihm zum schirmenden Engel wird.
Mehrere Jahre später, während sie beim Frühstück saßen, kam ein Bote mit der Meldung, daß sein Schwiegervater gefallen sei. »Sattle die Pferde!« rief er seinem Diener zu. »Was willst du tun?« fragte ihn Miriam. »Mein Geld retten«, sagte er hastig, aber sie wendet sich von ihm, ihm scheint es, als verdunkle sich die Sonne, als verlösche der Tag, rasch wird er ein anderer. Er zerreißt den Schuldschein vor ihren Augen. »Ich gehe, ihnen zu helfen«, ruft er erbarmungsvoll, kniet vor ihr hin und küßt ihre kleine, kühle Hand. Da fiel sie ihm an den Hals und weinte.
So ging es immer. Er wäre viermal so reich, wenn Miriam nicht gewesen wäre.
Aber kein Handel, wenn sie mit mir ist. Der Verkäufer ist mein Bruder, der Käufer ein Stück von mir, jeder, der das Haus betritt, ein Liebling und Bekannter. Alle sind willkommen, teuer und wert, denn ihre Augen wachen über der Wage, über dem Maß, dem Gefäß und der Schere. Aber er beruhigt sich nicht, er begehrt ihr Glück. Er will nicht, daß sie hinwelke wie seine Mutter, in der Mitte ihrer Jahre. Ihretwegen ist er Bürger unter Bürgern, ihretwegen kümmert er sich um die Gemeinde, ihretwegen opfert er deren Bedürfnissen, ihretwegen ist er bereit, die Träne aus jedem Angesicht zu löschen, die Waisen zu erheben, die Sache der Witwen zu führen und allen Hunger zu stillen.
Was verlangt sie noch?
Wunderlich sind die Frauen, ein schwaches Volk, Ameisen, und doch ihre Hand in allem, und was sie begehren, dahin lenken sie das Herz des Mannes.
Aber es ist doch nicht immer so. Sein Vater herrschte über sein Weib mit erhobenem Arm, er hört manchmal von Männern, die ihre Frauen schlagen und züchtigen – und er ist ganz anders. Starke Naturen herrschen über ihre Frauen, nur er ...
Nicht umsonst nannte mich mein Vater weichherzig, Hasenfuß, »Weib«.
Trotzdem beruhigt er sich nicht.
Doch, wenn sie ihr Auge wegwendet, wenn sie nicht mehr bei ihm im Hause ist, dann schwindet das leichte Lächeln von seinen Lippen. Wendet sie ihr Auge weg, dann wird er zu Lehm, dann befällt ihn der Geist seines Vaters, der wahre Schachergeist bindet ihn an seine Flügel, dann wird ihm Silber zum Magneten, Gold zum Schatz seines Herzens.
Dann umfängt ihn Finsternis, sein Inneres ist dunkel, der Hölle gleich, die Kaufleute sind wie grausige Gespenster, sie raufen miteinander mit Fäusten, mit List, mit Betrug, mit Blendwerk – das gilt ein Wettringen auf Leben und Tod. Doch still! – Das Rascheln eines Kleides, der Tritt kleiner Füßchen an der Schwelle des Zimmers, – jedes Antlitz lächelt, jedes Auge strahlt. Keine List, keine Gewalt, nur Redlichkeit! Die Liebe ist Königin, die Brüderlichkeit und Freundschaft.
Sie hat lange Zeit kaum einen Augenblick sein Zimmer verlassen – darum wich schon lange von ihm der Geist seines Vaters, nur die Seele seiner Mutter gibt ihm Leben, seiner Mutter oder Miriams Seele. Aus ihren guten Augen dringen Funken und Strahlen in sein Herz, in sein Innerstes, in seinen Verstand sogar, ihm wird warm und licht ...
So ist es – er erkennt es klar. Ein ewiger Wechsel: einmal ist er die Verwandlung seines Vaters und einmal die seiner Mutter.
»Und mein Selbst, wo ist meine Seele an sich? Bin ich als leeres Gefäß erschaffen? Hat Gott um meinetwillen keine Seele seinem Schatze entnommen?«
Noch einmal gedenkt er verschiedener Dinge.
Einmal hat er als Bräutigam seinen Nächsten betrogen. Es war nach dem Tode seiner Mutter, aber auch seines Vaters, er war schon selbständiger Kaufmann – der Betrogene zitierte ihn vor den Rabbi der Stadt, doch wer mag über den Stärkeren richten? Der Rabbi zittert und ängstigt sich, kommentiert und glossiert – und er ist fest wie Stein. Da ruft der Gegner, er werde die Sache seinem Schwiegervater erzählen. Da verwandelt es sich plötzlich in ihm, er bezahlt seinen Prozeßgegner. Die Geschichte verbreitete sich unter den Kaufleuten: seit damals flößen sie ihm Furcht ein.
Ungefähr zwei Jahre nach der Hochzeit fuhr seine Frau ihre Eltern besuchen. Während sie dort weilte, hatten die kleinen Kaufleute keinen Frieden vor seinen Raubtierzähnen, alles ging ohne Recht und Richter – bevor sie kam, gab er den Raub zurück. Die Diener liefen hin und her, seine Wohnung vom Schmutze zu reinigen, so wie er sein Kaufmannsherz von aller Schuld.
»Habe ich das wirklich getan?« stiehlt sich ihm eine verborgene Stimme aus den Tiefen der Erinnerung.
Kalter Schweiß bedeckt seinen Rücken, eine Episode steigt vor ihm auf. Rabbi Samuel starb, die Waisen waren klein, wußten nicht aus noch ein, konnten sich noch nicht beklagen – kurz nachher zerstreuten sie sich in alle Winde. Die Witwe heiratete in einer anderen kleinen Stadt, die Waisen verdingten sich in die Hauptstadt – ich gab ihnen nichts zurück, obwohl ich nur fünfundzwanzig Rubel oder mehr schuldete.
Ja, er für sich selbst ist ein leeres Gefäß, und darum das eine Mal wie eine Taube, das andere Mal wie ein Geier, jetzt wie ein Lamm, dann wie ein Tiger ...
Plötzlich reißt der Faden seines Denkens, in seinem lastenden Hirn erwacht immer wieder die Frage: »Was für ein Unglück traf mich heute?«
Wundern wir uns nicht über die Hartnäckigkeit der Frage, die von Finkelmann nicht weichen will. An ihm segnen sich ja alle Leute: »Gebe mir einer seine Sorgen, seinen Kopfschmerz, seine Speise, Trank und Schlaf!« Finkelmann ist ein sprichwörtlicher Segen, sein Behagen die Hoffnung der Menschen. Niemand fällt es ein, sich über Finkelmanns Hartherzigkeit zu beklagen. Er ist ein Herr, und sei er manchmal hart wie Stein, das ist Geschäftssache. Wäre seine Hand allen geöffnet, dann würde er bald verarmen. »Eine Hand, geöffnet für Güter und durchlässig für Wasser.« Sogar die Sünden gegen Gott werden Herrn Finkelmann verziehen – um seines Reichtums willen. »Er ward fett und schlug aus.« Auch dies der Lauf der Welt. Der Reiche muß doch mit den Leuten leben, vornehmen und einflußreichen Personen nahestehen, ihm nützte es nichts, alle sechshundertdreizehn Gebote zu halten mit allen Besonderheiten und Kleinigkeiten. Darum verziehen Herrn Finkelmann sogar die eifernden Gelehrten der Stadt, daß er Pflichten und Gebräuche mit Füßen trat, sie kränkten sich nicht darüber, daß sich in seinem seinen Mobiliar ein Klavier befand, daß er seine beiden Söhne in die Bezirksstadt studieren schickte.
Auch daran erinnert er sich jetzt.
Sie studieren in der Stadt, obwohl sie, das weiß er, nicht nach seinem Wunsche weggegangen sind. Er wollte ihnen Lehrer aus Litauen und Gelehrte aus Warschau bestellen, sie aber beharrte darauf, sie in die Schule zu schicken, – so erfüllte er ihren Wunsch.
»Warum schickte sie meine Kinder von mir!«
Auch das ist eine alte Frage, die ihn nicht ruhen läßt, seit ihrer Abreise. Manchmal beschuldigte er sie, daß sie ihre Kinder nicht liebt. Unsinn! Kommt ein Brief von ihnen, dann weint sie vor Freude, trifft durch mehrere Tage keine Nachricht ein, weint sie und ist krank vor Angst. Ihm scheint sogar, daß sie im verborgenen immer weint. Jeden Morgen sind ihre Augen rot, und manchmal hört er nachts ihr tränendes Schluchzen.
»Was ist dies mit mir?«
Die Gedanken, die jetzt seine Ruhe verscheuchen, sind ihm nicht fremd. Tag um Tag erwachen sie in ihm wie ein Blitz und verschwinden sofort – jetzt aber weichen sie nicht von der Stelle und zermartern unaufhörlich sein Gehirn.
Kein Zweifel: diese Nacht ist anders als alle anderen Nächte. Denn sein Gebein zittert auf eine fremdartige Weise, ihn hat gewiß ein Unglück getroffen. Um zu finden, was er da aus seinem Gedächtnis verloren hat, will er sich den gestrigen Tag in seiner ganzen Reihenfolge zurückrufen, vielleicht erinnert er sich dann der peinvollen Tatsache. Nein – der ganze gestrige Tag ist völlig vergessen, ausgelöscht, als wäre er nicht gewesen. Ein ganzes Blatt ist ausgerissen aus dem Buche seiner Erinnerungen. Auch an vorgestern erinnert er sich nicht. Das Letzte, was ihm hastig ins Bewußtsein fällt, ist der erste Tag der Woche. Dieses Blatt liegt offen vor ihm, dann wird es öde und wüst in seinem Hirn. Sein Hirn ist wie eine Uhr, die damals, an jenem Abend, stehen geblieben ist. Ist das nicht merkwürdig und schrecklich? Mit krampfhaft gesteigerter Aufmerksamkeit verfolgt er alle Ereignisse jenes Tages, spürt alle Quellen auf, was man bis zu jenem Abend im Hause sprach und hörte – alles steht deutlich wie ein Buch eingemeißelt, und jedes einzelne Wort steigt tönend vor ihm auf.
So bis zum Abend.
Und dann, als sie beide beim Tee sitzen, hören sie in der Küche ein Glas zerschellen, sein Weib zittert und erschrickt plötzlich, eine Blutwelle schießt in ihre Wangen, daß die Lilien zu Rosen werden – die Welle strömt zurück, ihr Antlitz ist weiß wie Kalk, dann wird es grünlich – ein Zittern und Kniewanken, sie droht zu fallen, er hält sie mit seinen Armen und legt sie aufs Bett, sie klammert sich an ihn, sie lehnt ihren Kopf an seine Brust, ihn erfüllt endlose Wonne, gemengt mit furchtbarem Grauen.
»Fürchte nichts!« flüsterte sie, »fürchte nichts, der Schreck ist vorbei!« Fürchte nichts! sie beruhigt ihn immer wieder. »Aber schilt auch das Mädchen nicht, sie hat es nicht mit Absicht getan. Beruhige dich«, fügte sie hinzu mit singender Stimme. »Warum pocht dein Herz so heftig? Es ist ja nichts, der Schreck ist vorüber, du versprich mir nur, dem Mädchen nichts zu tun, und ihr den Schaden nicht vom Lohne abzuziehen.«
Er versprach es ihr, obgleich er sie nicht verstand: sie ist doch die Frau, ihr obliegen Ausgaben und Einnahmen, sie bezahlt, warum verlangt sie das von mir?
Und plötzlich bittet sie ihn mit der Süße ihrer Stimme, er soll ihr etwas aus dem Leben seiner Mutter erzählen.
»Warum fragt sie plötzlich um meine Mutter?« so wundert er sich jetzt. Damals aber hatte er keine Zeit zum Staunen. Er erzählt, wie seine Mutter gut war, gleich einem Engel, schön, fromm und rein, wie ein Lichtstrahl, »ganz wie du«. Auf ihrem Antlitz spielte ein heiteres Lächeln, nur ihre Augen sind geschlossen. Er hofft, sie offen zu sehen, wie ein Irrender in der Wüste auf die Strahlen des Morgens.
»Du bist gut wie meine Mutter, die Augen sind wie die Augen meiner Mutter, die Augen der Taube.« Aber sie öffnete die Augen nicht und ein heftiger Schmerz erfüllte sein Inneres. »Aber meine Mutter, Miriam, war krank und erreichte nicht die Hälfte ihrer Jahre.« Da erwacht sie von dem Zittern seiner Stimme und hebt leise, leise ihre Augenbrauen, daß sich vor ihm der Himmel öffnet.
»Und du hast deine Mutter geliebt?«
»Ob ich sie geliebt«, und die Worte drängen sich aus dem Schatze seiner Empfindungen.
»Und deinen Vater!« fragt sie weiter, und leise, leise senken sich ihre Lider.
»Auch ihn liebte ich, manchmal liebte ich ihn; wenn meine Mutter nicht im Zimmer war, saß ich gern auf den Knien meines Vaters, er lehrte mich lesen, schreiben und Kenntnisse des Lebens.«
Und obwohl er fühlte, daß die Worte ihr nicht gut sein werden, konnte er sich nicht zurückhalten und erzählte weiter: »Mein Vater war ein arger Geizhals, aber auch ein großer und geschätzter Kaufmann. So wollte er auch mich zum Kaufmann machen, nicht zu einem Weichherzigen, Hasenfuß, wie mich die Mutter haben mochte.« Nach diesen Worten fügte er rasch hinzu, als wollte er das Krumme gerade biegen. »Mein Vater sagte: Geld magst du erwerben, Verstand kann ich dir nicht vererben. Erwirb Weisheit, List, erwirb auch Gunst und Wohlgefallen: durch Wohlgefallen baut man Häuser.«
Wenn er aber das Gesicht seiner Mutter nur sah, wollte er nicht mehr zum Vater.
Er mochte ewig im Zimmer seiner Mutter sitzen, auf seinem Kinderstuhl, das Haupt gelehnt an ihren Schoß.
Sie glättete seine Haare, manchmal entfiel ihren Augen eine heiße Träne und rollte über ihre Wangen.
Manchmal erzählte sie ihm verschiedene Geschichten.
Indes sein Glück währte nicht lange, denn sein Vater behauptete immer, er wachse auf wie ein Wilder, ein Weichherziger, ein Hase oder ein Weib. So packte er ihn denn manchmal am Ohrzipfel und schleppte ihn in sein Zimmer. Sein Vater zürnte über die Erzählungen seiner Mutter, die immer durchwoben waren von Schrecken der Nacht, von Seelen Verstorbener, von Mondesstrahlen und Gräberschatten – und durch eine ganze Nacht sperrte er ihn in ein dunkles Zimmer, um ihm die falsche Furcht zu vertreiben. Am Morgen, da man die Tür seines Gefängnisses öffnete, fand man ihn schweben zwischen Leben und Tod.
Damals hat er die Qualen der Hölle erduldet, alle Toten kamen aus ihren Gräbern und umringten ihn, Zerrgestalten und Geister des Dunkels zertraten seine Ruhe, bis er das Bewußtsein verlor.
Und ihm schien es, als hätte er damals sein Selbst verloren, wäre ein Golem geworden, um abwechselnd die Seele seines Vater und seiner Mutter zu empfangen. Denn bis zu jener Nacht empfand er sich als ein Mittleres zwischen Vater und Mutter, unterschied sich zwischen beiden, fand das Gemeinsame und Trennende und wandelte doch einen eigenen Weg. Wäre er so weiter aufgewachsen, dann wäre er jetzt ein normaler Mensch und ginge den goldenen Weg zwischen Vater und Mutter. Damals aber floh seine Seele aus seinem Körper, er wurde jetzt nur noch wie sein Vater oder wie seine Mutter.
Diese Gedanken verbarg er vor Miriam. Und er erzählte weiter: »Als ich wieder zum Bewußtsein kam, lag meine Mutter im Bette, das sie nicht mehr verließ. Grauen erfaßte mich, als ich wieder das Antlitz meiner Mutter sah.« Auch sein Antlitz hatte sich über Nacht verwandelt, und seine Mutter zitterte um ihn und brach in furchtbares Weinen aus. Der Anblick wirkte sogar auf seinen Vater, und er trennte nicht mehr, die zusammen gehörten.
Seit damals saß er ununterbrochen auf dem Fußschemel vor ihrem Bette – die Mutter faßte seine Hand, küßte ihn, strich durch sein Haar ...
Aber der Quell ihrer Tränen war schon versiegt, nicht eine rollte mehr auf seine Stirn ...
»Miriam, du kannst dir nicht vorstellen, wie es damals in mir stürmte, wie mein Herz wogte.« – Da öffnete Miriam ihre feuchten Augen, die voll waren von verschlossenem Kummer.
Hier versiegte gänzlich die Erinnerung, hier unterbrach sich die Reihenfolge des Tages.
»Und nachher?« fragt er mit Zittern, »was geschah nachher?«
Er weiß nur deutlich, daß man Miriam Sonntag abends ins Bett gelegt – was geschah dann bis heute?
Wer dringt in diesen Abgrund, in dieses Dunkel, das vor ihm gähnt?
»Bin ich denn krank und jetzt mitten in der Krankheit aufgewacht?« Ein schrecklicher Gedanke steigt in ihm auf: vielleicht ist er plötzlich gestorben – oder er schien nur zu sterben und ist jetzt im Grabe erwacht?
Noch einmal tappt er nach der Wand und dem Gerüste seines Bettes. Noch einmal strengt er seine Augen an und erwartet, etwas im Zimmer zu sehen, außer dem mattweißen Fleck gegenüber in der Luft. Umsonst. »Vielleicht ist dies doch nur ein Traum?« Aber aus der Tiefe des Herzens dringt in sein Bewußtsein eine mächtige Stimme.
»Nein, du lebst, du lebst, nur ein großes, ein furchtbares Unglück hat dich getroffen!«
Da erinnert er sich, schon einmal in so furchtbarem Zustande gewesen zu sein – beim Tode seiner Mutter.
Auch damals riß sich ein Tag oder zwei Tage aus dem Buche seines Gedächtnisses. – Ja, es waren zwei Tage: der Tag des Todes und der des Begräbnisses.
Trotz der Trauerzeichen im ganzen Hause, ohne darauf zu achten, daß man abends und morgens um die Erlösung ihrer Seele betete, konnte er nicht glauben, daß ihm seine Mutter gestorben, und umfangen von Antrieben, die er nicht bannen konnte, irrte er in allen Ecken umher, seine Mutter zu suchen, ohne selbst zu wissen, was er suchte.
Aber am Ende des vierten Tages, als die Tröstenden kamen und darunter der Diener, welcher mit der Büchse, hinter dem Sarg geschritten war und das Gebet gemurmelt hatte, da kehrte ihm plötzlich die Kraft seines Gedächtnisses zurück, aufstieg der Sarg aus dem Abgrund der Vergessenheit, da sah er zum zweiten Male die Versammlung der Männer, hörte ihre Worte und das Lob, das sie der Toten spendeten ...
Da wußte er, daß seine Mutter gestorben, und wollte sich nicht trösten.
Vielleicht brachte ein Unglück, furchtbar wie dieses, die Zerstörung in sein Hirn.
Kalter Schweiß überfällt seinen ganzen Körper – und was ist mir heute geschehen? ...
Da fällt ihm ein, es sei kein anderer Rat, als Miriam zu wecken, sie wird ihm sicherlich die Wahrheit sagen.
Aber der mattweiße Fleck vor ihm schwebt hin und her und hindert ihn, den Schlaf der Armen zu stören.
Und er fühlt, daß seine Stimme sich verbirgt, daß, wenn er sich zusammenraffte, einen Laut zu erzeugen, ihm ein Angstschrei entführe. Miriam könnte vor Schreck ohnmächtig werden.
»Soll das Vöglein in Frieden schlafen, gebe ihr der Barmherzige liebe und süße Träume, soll sie blühen und frisch werden – in der letzten Zeit war sie so schwach, jedes plötzliche Geräusch erschreckte sie – wie meine Mutter ...«
Wieder riß die Kette seiner Gedanken, denn in der Tür steht eine Gestalt.
Er will seine Augen wegwenden, doch umsonst: die Gestalt zieht sie auf sich mit übermenschlicher Gewalt – er erkennt die Gestalt. Sie trägt das Antlitz seines Vaters, nur ist sie kleiner.
Sein Vater stößt aus tiefem Herzen einen Schrei aus, da klebt seine Zunge an dem Gaumen, kein Laut entströmt ihm.
»Nein, nicht mein Vater ist er, ich bin es, ich«, – er fährt plötzlich noch heftiger zusammen – die Gestalt, die regungslos vor ihm steht, wird jeden Augenblick furchtbarer. »Es wird nur ein Spiegel vor mir stehen.«
Aber er liegt und die Gestalt ist aufrecht.
Sie macht sein Blut in den Adern erstarren. Sie blickt auf ihn mit Seelenverachtung, mit Hohn, und ihre Blicke bohren sich in sein Inneres, wie kalte Schwerter.
»Weichherziger, Hase, Weib«, ruft sie plötzlich und weicht von der Schwelle.
Finkelmann stürzt sich jählings auf den Boden und läuft der Gestalt nach. Ohne darauf zu achten, kommt er nackt und barfuß ins zweite Zimmer – die Gestalt ist fort, er steht im Finstern, zitternd vor Kälte und Angst.
Nach einigen Augenblicken ist wieder die Gedankenkette zerrissen, die Gestalt vergessen. Er steht da, besinnungslos, erschüttert, mitten in der Nacht, er weiß nicht wo.
Warum steht er barfuß auf der kalten Erde? Was ist mit ihm?
Um zu wissen, wo er ist, tappt er im Dunkeln, die Stelle zu erkennen. So kommt er wankend und tastend zum Bette, wo er Sonntag sein bestürztes Weib besänftigt hat. Hier erzählte er ihr von dem Leben seiner Mutter und vom Fanatismus seines Vaters.
Ohne Kraft, weiterzugehen, fällt er aufs Bett und schließt die Augen, aber er schläft nicht, sein Herz ist voll Angst, sein Gehirn leer von Gedanken, wie ein Nest von Vögeln.
Nur sein Kopf ist schwer, in seinem Hirn ist irgendein fremdes Getöse, ein Zittern und Brennen. Dann scheint es ihm, er höre ein Krachen im Kopfe, als spalte man Holz oder als spränge dort Glas.
Er fühlt, wie seine Kraft schwindet, und seine Angst wächst, wächst.
Kein anderer Rat, als Miriam zu rufen. Ja, wüßte sie seinen Zustand und seine Stelle, dann triebe es sie zu ihm. Wenn sie ihn auch nicht liebt, doch sie ist voller Erbarmen.
Und er weiß es: würde Miriam vor ihm erscheinen, berührte sie sein Haar, käme von ihren Lippen nur ein leichtes Wort, gäbe sie ihm aus ihren Augen nur einen Strahl, dann wäre er bei vollen Sinnen, dann würde er auch ganz gesund.
Ja, krank ist er – und nur bei ihr ist Heilung seiner Seele.
Plötzlich hört er ein feines Rascheln – ein Zittern von Hoffnung und Freude gießt sich über seine Glieder – er hofft, daß Miriam einen Seufzer von ihm gehört, daß er sie rief und sie erwachte. Er lauscht ohne Angst und glaubt zu hören, wie sie aus dem Bette steigt. Jetzt zieht sie ihre Kleider an, jetzt hört er ihre Schritte, gleich wird sie in der offenen Tür erscheinen, gleich wird der bittere, jagende Zauber verschwinden, er steigt aus dem Dunkeln ans Licht ...
Einige Augenblicke sind vorüber, Miriam ist nicht da. Aber das feine Rascheln kommt näher, und in der Tür erscheint eine andere Gestalt, ein Mann in der Mitte des Lebens, mit langem, schwarzem Barte; die kleinen Augen blitzen in ihren Höhlen, die Hand durchstreicht den Bart, – wer ist es?
Ohne Furcht blickt er auf die Gestalt, er erkennt sie sofort.
Das ist doch David, der Schadchen. Und David geht leise auf ihn zu, auf seinem Gesichte liegt ein leichtes Lächeln. Er steht neben ihm, setzt sich, ohne um Erlaubnis zu fragen, ans Fußende des Bettes und erzählt ihm, wie gut die Heirat sein wird, denn Miriam, seine Braut, ist ein Mädchen, brav und fein und gut, wie ein Engel Gottes.
Sie ist ganz häuslich und spricht doch Französisch und schreibt Deutsch.
Ihm aber ist weh bei dem Gedanken, daß ein so gutes Weib wie Miriam, einem so erblich geizigen Menschen wie ihm, angehören soll – er fürchtet, daß sie so sterben werde, wie seine Mutter.
Und plötzlich denkt er: Ewiger Narr, Miriam ist schon längst mein Weib, und der kommt jetzt, sie als Braut anzupreisen.
»Hast du zuviel getrunken?« fragt er laut, und die Gestalt verschwindet vor seiner Stimme.
Finkelmann fällt plötzlich ein, daß dies schon die zweite Erscheinung war, welche vor ihm im Zimmer verschwand, doch er muß die Verlorene suchen. Ohne Licht tappt er umher.
Auf dem Wege stehen Stühle und mancherlei Möbel, er wirft sie um, schiebt und stößt sie nieder, hört aber keinen Fall. Auf dem Tische, zu dem er tritt, liegen Schwefelhölzer, über denen es matt leuchtet, er sieht es nicht, beugt sich zu Boden, späht nach rechts und links, bis er vergessen hat, was er sucht.
Und während der ganzen Zeit das Rascheln in seinem Ohr und dies ergreift jetzt seine Aufmerksamkeit.
Es ist wunderbar, als spräche jemand aus weiter Ferne, sein Ohr kann keine Worte vernehmen, es hört nur den Klang von Worten.
Aber die Stimme kommt näher. Langsam, langsam. Ein wenig noch, er hört und unterscheidet.
Ja, er hört schon die Worte herausgeschnitten, jetzt kann er sie schon unterscheiden. Ein Mann kommt immer näher, er spricht vom bösen Trieb, von Engeln, die den Menschen leiten.
Was ist das – er staunt und erschrickt – hört er das nicht schon zum zweiten Male? Hat er das nicht erst gehört? Wo? Wann? Doch der Tag entfliegt seinem Innern wie ein Blitz, und wie um das Ganze zu erhellen, erscheint eine andere Gestalt, auch sie sah er schon irgendwo ...
Er sieht ringsum eine Menge von Menschen, fast die ganze Stadt – Kaufleute, große und kleine, Gläubiger und Schuldner, Reiche und Arme, Greise und Knaben – alle blicken auf ihn voll Mitleid – alle weinen.
Was ist das?
Hat jemand mit mir Mitleid? Warum? Weshalb?
Dort steht, nicht weit, eine eiserne Kanzel, darauf der Rabbi der Stadt – er sieht ihn Angesicht zu Angesicht, die hervorspringende Gestalt – die Kappe nach rechts verschoben, wie es seine Gewohnheit ist. Sogar der Rabbi weint.
Er ist es ja, welcher spricht.
Dies alles sieht er doch zum zweiten Male. Hat er ja den Rabbi schon sprechen gehört über den guten und bösen Trieb, über die Engel, welche die Menschen leiten. Das aber ist eine Trauerrede.
Für wen hielt er heute die Trauer?
Wer starb denn?
Vielleicht ein angesehener Mann, er kann sich nur nicht auf den Namen besinnen.
Die Gestalt zerrinnt, sein Grübeln zerstört die Wirklichkeit.
Nein, das ist nicht der Rabbi. Unmöglich, das war eine Täuschung.
Zwar hat auch der greise Rabbi eine Stimme zart wie ein silbernes Glöcklein – aber diese Stimme ist noch feiner, noch süßer als die Stimme des Rabbis. Kein Zweifel, es ist die Stimme seiner Mutter. Und wie er an seine Mutter denkt, tritt ein neues Bild vor ihn. Er sieht das Bett seiner Mutter, das sie nicht mehr verlassen hat. Im Zimmer ist es halbdunkel, Dämmerung – ihre Augen leuchten und brennen durch das Dunkel – ihre Wangen sind erhitzt und schmächtig, die Lippen weiß. Er sitzt ihr zu Häupten, sie streicht ihm durch das Haar mit ihrer dünnen, feuchten Hand. Mit einer Stimme, wie Harfen süß und tränenfeucht, erzählt sie ihm vom bösen und vom guten Trieb, von den Engeln Gottes und den guten Seelen. – Das Geld – sagt sie ihm, ist nur Zauberei, Blendwerk, Spuk und Gespenster. Das Geld ist die Schlange, der böse Trieb. Das Geld, das ist das Blut der Armen!
Er hört's und Tränen rinnen aus seinen Augen.
Doch seltsam! Er fühlt, wie seine Augen weinen, und doch fällt keine Träne nach außen, sie triefen gleichsam in ihn hinein bis in sein Herz, dort fallen sie nieder und brennen wie Feuer.
Und plötzlich – plötzlich kommen Fremde ins Haus – das Bett seiner Mutter beginnt zu wanken, von der Stelle zu rücken, und einen Augenblick ist es ihm, als liege nicht seine Mutter im Bette, sondern – – Miriam, sein Weib.
Alles erstarrt in ihm vor Schreck – doch noch einmal zerreißen seine Gedanken, und neue Vorstellungen drängen sich in sein Hirn.
Ja, das ist ein mißratenes Jahr, wäre nicht Miriam, so hätte ich viel Geld verdient. Ich hätte Massen von Weizen gekauft von Gutsbesitzern, Großhändlern und Maklern, alles wäre zu meinen Füßen gesunken. Sie aber bittet für alles, wenn der Marktpreis fällt, bezahle ich, und wenn er steigt, bittet sie.
Bin ich nicht ein Weichherziger, ein Hase, ein Weib?
Trotzdem erfüllt er all ihre Wünsche, nicht ein Bündel fällt zu Boden.
Dennoch reizt es ihn zu wissen, wieviel er ihretwegen verliert.
Ich will Rechnung machen.
Die Rechnung ist groß, er addiert Tausende um Tausende, schon fünftausend, noch hundert – fünfundzwanzig beim alten Kaufmann Jokel, dessen Weib krank ist, noch, noch – viele Hunderte. –
Sein Wille wird schwach, und trotzdem wächst die Rechnung, sie erzeugt sich selbst ohne seine Hilfe. Er sucht nicht mehr die Ziffern, er hebt sie nicht mehr in sein Bewußtsein. Sie kommen von selbst, sprechen, ehe sie gerufen sind, sie kommen und stehen in einer Reihe, geordnet und eng umschlungen.
Er empfindet in seinem Gehirn etwas wie ein weißes Buch, worauf von außen schwarze Ziffern fliegen, und nah und fern, gedrängt und gepreßt, mit Getöse sich ausbreitend.
Sie kommen und schreiben sich selbst ins Buch hinein, oder eine verborgene Hand beherrscht sie und schreibt: Einer um Einer, Zehner um Zehner, in die Hundert und Tausend. Sie kommen und wachsen, wird sie das Buch fassen können? Aber auch das Buch wächst, wächst mit ihnen, es hebt sich und niemals eine Endsumme.
Und plötzlich verwandeln sich die Ziffern in verschiedenfarbige Scheine – das Buch wird zum offenen Kasten, die Scheine stiegen von allen Seiten und Ecken gleich Vögeln in sein Gehirn, eine stumme Hand legt sie in den Kasten. Aus dem Nichts drängt sie die Scheine und preßt sie hinein – sein Gehirn droht zu bersten. –
Das Drängen wird immer heftiger, trotzdem kann er sich nicht ermannen, die Scheine mit Gewalt aus dem Kasten zu nehmen.
Die Scheine fliegen und fliegen. Und langsam, langsam röten sich alle – viele triefen von Blut – auf vielen zeigt sich die Fratzengestalt des Asasel. Und der Bock hat lange und spitze Hörner.
Noch einmal – in weiter Ferne – das Bild seines Vaters.
»Nimm, nimm!« ruft die Gestalt, »nimm, sammle!«
Aber wie schrecklich ist sein Vater! Sein Leichengewand voll von Pfeilen, zerrissen und zerlumpt. Durch die Löcher schimmert faulendes Fleisch, zwischen dem Fleisch Knochen weiß wie Kalk. Rings um den Leichnam kriechen Würmer und Schlangen, die ihn mit vollem Maule fressen.
»Nicht fürchten, nicht fürchten! Sammeln, sammeln!«
»Nein, nein, ich nehme nichts«, schreit Finkelmann voll Grausen und stürzt langhin auf den Boden, bewußtlos. –
Der laute Sturz weckt seine Dienerschaft.
Als Finkelmann allmählich das Bewußtsein wiederkehrt, liegt er auf seinem Bette. Vor ihm eine Lampe, von der Strahlen durch das ganze Zimmer gehen.
Und das Zimmer ist voll von Trauer, alle Spiegel an den Wänden verhängt mit schwarzen Decken, auf dem Boden ein Schemel für Trauernde.
Vor ihm Miriams Bett – leer ...