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Das Ghettobuch
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Hermann Blumenthal

Der Sängerknabe.

Eine eisigkalte Winternacht.

Bleigrau hing der Himmel über dem Städtchen und Schnee wirbelte in großen dicken Flocken zur Erde.

Die eng aneinandergeschmiegten Häuschen standen einsam und traurig in der Schneelandschaft.

Im Vorhause zum Beth-ha-Midrasch war es warm und still. Ein prächtiges Feuer brannte im Ofen.

Zwei arme Juden schliefen auf rohgezimmerten Bänken und in einem Winkel saß David, der sechzehnjährige Sängerknabe, still vor sich dahinträumend.

Er konnte keinen Schlaf finden. Mannigfache Bilder umschwebten ihn und seine Phantasie schwang sich aus dem halbdunklen Räume weit hinaus.

David träumte; wie er als Kind auf dem Schoße seiner Mutter saß. Langsam dämmerte der Sabbat herüber. In der kleinen Stube wuchsen die Schatten ins Ungeheuerliche, während am Himmel der große, volle Mond aufstieg.

Von der Gasse drang Lachen und Lärmen in die Kammer und dem Knäblein ward es bange in der Dämmerstille.

Da sagte die Mutter: »Ich will dir die Geschichte von dem Hirten David erzählen, der später König der Juden wurde ...«

Und die Mutter erzählte dem gespannt aufhorchenden Kleinen von dem lustigen Hirtenknaben, der den Riesen Goliath zu Boden warf. David war nur schwach und unansehnlich, aber der Allmächtige hat seinen Arm gestählt, wenn David sang, so konnte er die Zuhörer zu Tränen rühren, Er trieb die Herden vor sich her und sein Gesang erfüllte die klare Luft ...

Die Mutter hielt plötzlich inne. Ihr Blick verlor sich in dem Silberschein des Mondes. Sie träumte von der Zukunft ihres Knaben und ihrer Träume Inhalt war ihm nicht fremd. wie oft hatte ihn die Mutter in Stunden der Einsamkeit mit ihren geheimsten Gedanken vertraut gemacht.

Auch seine Stimme hatte Klang und er sollte ein Sänger, ein Priester in Israel werden, wie ein Meer, erhaben und gewaltig, wird seine Stimme dahinbrausen und die Herzen mit unendlicher Seligkeit erfüllen.

Wie berauscht werden die Andächtigen dastehen, mit zitternden Lippen und heißen Zähren in den Augen ...

Und vor ihren geistigen Blicken wird die alte Herrlichkeit Israels neu erstehen. Den Tempel Salomos, ganz aus purem Gold gezimmert, sollen sie vor sich sehen, und Jerusalem – Jerusalem im Morgenglanz ... An das wundervolle Land ihrer Vorfahren werden sie wieder denken und von den blühenden Getreidefeldern Kanaans die fröhlichen Lieder der Schnitter hören ... Und in ihnen wird die Frage erwachen, ob nicht Israel schon genug Leid und Elend durchgemacht ...

Der Jüngling durchlebte in Gedanken noch einmal seine Kindheitstage. Bis zum zehnten Lebensjahre blieb er bei der Mutter.

Sie war arm, aber voll Zuversicht und Gottvertrauen; nie schlich sich Traurigkeit bei ihnen ein.

»Gott ist groß und seine Taten sind gerecht«, pflegte die Mutter zu sagen, »Er sieht die Leiden seines Volkes. Eines Tages wird er die Juden in das Land ihrer Väter zurückführen ...«

Und David dachte daran, wie er sich von seiner Mutter verabschiedete, um zu dem berühmten Chasen Reb Jankel zu ziehen.

Es war ein klare Sommernacht. Alle Bäume standen in Blüte ...

Ein Stück Weges gab ihm die Mutter das Geleite; dann stand sie noch lange unbeweglich da und blickte ihm nach ...

Langsam und still weinend ging David über die Landstraße dahin ... Er mußte an die einsam Zurückgebliebene denken...

Sechs Jahre waren es nun, daß David bei seinem Lehrer ein zweites Heim gefunden. Wie einen Sohn hielt man ihn im Hause, und Esther, die Tochter Reb Jankels, die um ein Jahr jünger war als David, ist ihm zur Schwester geworden.

Wie David an Esther dachte, ward ihm so warm und sein Herz schlug rascher. Er sah Esther vor sich, wie sie ihn am vergangenen Abend zum Schlitten geleitete.

Ihr Gesicht war weiß wie der Schnee, durch den sie wateten, wie Perlen schimmerten einzelne Schneeflocken in ihrem schwarzen Haar, und in ihren Augen lag ein überirdischer Glanz ...

»Auf Wiedersehen, David,« flüsterte sie, ihm ihre kleine Hand reichend, als sie beim Gefährt anlangten. »Auf baldiges, recht fröhliches Wiedersehen ...«

Er warf sich ins Heu und fand kein Wort des Abschieds; nur seine Lippen bebten ... krampfhaft hielt er Esthers zarte Hand umschlungen, bis die Pferdchen anzogen ...

Nun sollte David nach langen Jahren der Trennung seine Mutter wiedersehen. Die Mutter verzehrte sich vor Sehnsucht nach ihm. Sie wollte ihn noch einmal umfangen, noch einmal seine süße Stimme vernehmen, bevor es vielleicht zu spät würde ...

David war plötzlich voll banger Sorge um sie und hätte sich gern sogleich auf den Weg gemacht. Nun mußte er jedoch, kaum zwei Meilen von seinem Heimatsorte, wegen des Schneesturms hier übernachten.

Und die Zeit war ihm so lang. Er sehnte sich schon danach, der Mutter in die treuen, liebevollen Augen blicken und ihre müden, abgearbeiteten Hände küssen zu können.

Die beiden Schläfer waren erwacht. Der eine erzählte eine grausige Geschichte von Raub und Plünderung. Der andere hörte ihm schweigend zu; nur von Zeit zu Zeit entrang sich ein schmerzlicher Seufzer seiner Brust...

David schüttelte die Erinnerungen von sich und horchte auf. Er hörte wiederholt den Namen seiner Heimatstadt nennen und bald war ihm der Zusammenhang klar:

Am Nachmittag waren plötzlich, von Agitatoren aufgehetzte Bauern ins Städtchen gedrungen. Sie mißhandelten die Juden und plünderten deren Geschäfte. – Eine dunkle Unruhe erwachte in David. Er dachte an seine Mutter und heiße Tränen stürzten über seine Wangen.

Er mußte sofort zu ihr. Es duldete ihn nicht länger in dem schwülen Räume, vielleicht lag sie draußen irgendwo im Schnee und rief laut – laut nach ihm ...

David konnte nicht bis zum Morgen warten. Zu Fuß wollte er sofort hin. Er war ja jung und stark und fürchtete sich nicht vor der Kälte ...

David überlegte nicht, griff nach seinem Bündel und eilte auf die Gasse.

Wie ein Märchen rein und weiß, lag die Welt vor ihm. Immer noch schneite es. Die Wege waren ganz verweht.

David eilte aus dem Städtchen. Endlos zog sich die Schneefläche hin. Es war ein schrecklicher Frost. Die Schneeflocken tanzten um den Wanderer. Er konnte kaum vor sich sehen.

Davids Gedanken waren bei der Mutter: welche Freude wird ihr seine Ankunft bereiten! Ob sie ihn wohl wiedererkennt! Er kämpfte wacker gegen Frost und Schneesturm; doch gar bald verließen ihn die Kräfte und er konnte sich nur mühsam weiter schleppen.

Er setzte sich auf einen Baumstumpf, holte tief Atem und rieb sich die erfrorenen Hände.

Die glitzernde Schneefläche blendete ihn und die Landschaft begann vor seinen Augen einen Tanz aufzuführen ... Nach wenigen Schritten schon fiel David leise stöhnend in den Schnee. Er wußte nur noch, daß er sehr müde war, streckte sich der Länge nach hin und schloß die Augen, – wundervolle Träume umgaukelten ihn ...

David sah sich mit seiner Mutter auf dem Wege zu Reb Jankel. Esther stand am Fenster. Sie erkannte ihn schon in einiger Entfernung und eilte, trotz Schnee und Kälte, auf die Gasse hinaus.

»willkommen, David«, rief Esther freudig. »Ich habe mich schon so sehr nach dir gesehnt.«

Zusammen betraten sie das Haus. Lächelnd kam ihnen Reb Jankel entgegen und er sprach, zur Mutter gewendet: »Die Kinder haben sich so herzlich lieb. Geben wir ihnen unseren Segen.«

Die Mutter zog Esther an ihr Herz und rief glückstrahlend aus: »So sei es denn mit Gott. Sie sollen uns viel Freude machen.«

Und David sah sich vor einem mächtigen Palaste. Die Tore öffneten sich und er betrat einen weiten gewölbten Gang. Zu beiden Seiten standen Krieger in glänzenden Rüstungen und sie verbeugten sich tief, tief vor ihm ...

David gelangte in einen prächtigen Saal. Auf einem Throne aus Elfenbein saß der König. Er war grau und alt an Jahren...

Und der König küßte David auf beide Wangen, Er setzte ihm seine Krone aufs Haupt und überreichte ihm die Armbrust. Sie gingen auf einen großen Platz, der voll von Kriegern war.

David bestieg ein Pferd und im Galopp ging es durch Wiesen und Wälder dahin, hinter ihm Tausende und aber Tausende. Sein Harnisch blinkte im Sonnenlicht... Hei, wie die Trompeten schmetterten. David war ganz berauscht vor Glück.

Über den kleinen Schläfer legte sich die Schneedecke weich und warm ...


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