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Das Ghettobuch
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Abraham Reisen

Die beiden Brüderchen.

Jankaly und Beraly – zwei Brüderchen, der erste vierzehn, der zweite sechzehn Jahre alt – lernen schon fast drei Monate in der Jeschiwa der großen Stadt N., die fünf Meilen von ihrem Geburtsstädtchen Dalessuwka entfernt ist.

Jankaly ist zart und bleich und seine schwarzen Äugelchen blicken schlau hinter den schwarzen Brauen hervor. Beraly ist schlanker und voller. Er hat hellere Augen als sein Brüderchen und sein Blick ist strenger, als wollte er sagen: »Fangt mit mir nicht an. Ich mach' mir nichts aus euch.«

Die Brüderchen wohnten bei einer armen Verwandten, einer Händlerin, die erst spät bei Nacht nach Hause kam. Ein Bett hatten die Knaben nicht und so schliefen sie auf dem Koffer, der breit genug für sie war. Sie hatten einen guten Schlaf und im Traume sahen sie ihr Heimatstädtchen, das Gäßchen, in dem sie wohnten, die Stube und den Vater mit dem langen Bart und dem gebogenen Rücken. Dann sahen sie die Mutter mit dem langen, bleichen, traurigen Gesicht und hörten, wie die kleinen Brüderchen und Schwesterchen um ein Stückchen Hering streiten. Noch andere Träume aus der Heimat hatten sie. Wenn sie in der Früh erwachten, sehnten sie sich sehr, und dann liefen sie in die Herberge zu den Fuhrleuten und fragten, ob sie nicht einen Gruß oder ein Briefchen für sie mitgebracht hätten ...

Die Dalessuwkaer Fuhrleute waren gute Leute und hätten sicherlich Mitleid mit den armen Jungen gehabt, die so sehnsüchtig eine Nachricht von zu Hause erwarteten; doch waren sie zu sehr beschäftigt. Brachten sie doch Tausende Aufträge der Dalessuwkaer Krämer mit. Briefe hatten sie mehr als die Post zu befördern und Ordnung war bei ihnen viel weniger als bei der Post. Briefe pflegten daher verloren zu gehen und so manches Paket wurde nicht zugestellt. – Zerstreut pflegten sie jedesmal zu erwidern:

»Da bald, bald, bald finde ich's... Nein... Mir scheint, für Euch habe ich heute nichts ...«

So antworteten sie den Erwachsenen, die sie aufsuchten, aber die beiden Knaben pflegten zu warten, bis Leiser Bal-Eguly sie bemerkt und ihnen vielleicht etwas ausrichtet. Doch Leiser war sehr beschäftigt. Bald fütterte er das Pferd auf dem Hof, bald lief er auf kurze Zeit in die Wirtsstube und bald unterhielt er sich mit dem Diener eines Warenhauses, der ihm Waren für einen Dalessuwkaer Händler gebracht hatte. Und die Brüder standen immer und warteten, bis Beraly die Geduld verlor und aus gepreßtem Herzen hervorstieß:

»Habt Ihr vielleicht, Reb Leiser, ein Briefchen vom Vater?«

Doch Leiser hatte keine Zeit und der Knabe mußte noch lange warten, bis ihn der Fuhrmann beachtete.

»Nichts da ... Nichts da«, gab er dann zur Antwort ohne den Knaben anzublicken.

»Nichts da«, seufzte Beraly und zog den jüngeren Bruder mit sich fort.

»Er muß die Briefe verlieren«, sagte Jankaly nach einer Weile.

»Ein schlechter Mensch«, brummte Beraly verdrießlich.

Eines Tages brachte ihnen Leiser ein Briefchen und ein kleines Paket.

»Liebe Kinder,« schrieb der Vater, »seid brav und lernt fleißig. Wir schicken Euch Käse, ein Viertelpfund Zucker und ein Glas Himbeersaft. Laßt es such gut schmecken und streitet nicht. Von mir Euer Vater Chaim Hecht.«

Da nannten sie Leiser Bal-Eguly den besten Menschen von der Welt. Wenn sie sich nicht geschämt hätten, so hätten sie ihn, das Pferd und den Wagen geküßt. Sie beantworteten den Brief sofort. Briefpapier verschafften sie sich, indem sie die ersten leeren Blätter aus den Talmudfolianten rissen. Ihre Herzchen klopften sehr vor Angst bei einer solchen Untat. Noch in der Nacht trugen sie den Brief zu Leiser, der ihn gleichgültig einsteckte und etwas murmelte, das wie »Gut« klang.

»Was hat er gesagt, Berl?« fragte Jankaly angstbeklommen.

»Gut – scheint mir«, erwiderte Beraly.

»Auch mir scheint, daß er ›Gut‹ gesagt hat«, beruhigte sich Jankaly. Doch dann sagte er seufzend: »Er kann den Brief noch verlieren.«

»Red' kein dummes Zeug«, schrie Beraly zornig, und betrübt entfernten sich die Knaben ...

Dreimal in der Woche kam Leiser in die Stadt und jedesmal liefen ihm die Knaben entgegen und fragten, ob er ihnen keine Antwort auf ihren Brief bringe. Und der Fuhrmann wurde immer mürrischer. Seine Antworten waren ganz unverständlich, aber sie fürchteten sich, ihn noch einmal zu fragen.

Doch eines Tages hörten sie ganz deutlich, was er sagte: »Was wollt ihr eigentlich von mir, Kinder! Laßt mich doch in Ruh'. Briefel, Stiefel ... Zahlt ihr mir was? Bin ich euer Postillion? was? Geht gesund ...«

Die Knaben entfernten sich, aber nicht so »gesund«, wie der Fuhrmann ihnen wünschte. Sie fühlten einen großen Schmerz, ihre Füßchen zitterten und Tränentropfen standen in ihren Augen, die zur Erde fielen und von schweren menschlichen Tritten zertreten wurden ...

Seit dieser Zeit suchten sie den Fuhrmann nicht mehr auf.

»Soll ihn die Erde zudecken«, fluchten sie, trotzdem sie ihm in Wirklichkeit nichts Schlimmes wünschten; denn wie sehr sehnten sie sich danach ihn, das Pferd und den Wagen wiederzusehen...

Ein paar Wochen darauf saßen die Knaben in ihrer ärmlichen Stube und sprachen von der Heimat. Es war an einem Freitag zur Sommerszeit.

»Was macht wohl jetzt der Vater«, fragte Jankaly und blickte durch die Fensterchen auf die Gasse.

»Er schneidet sich gewiß die Nägel von den Fingern«, erwiderte Beraly mit einem traurigen Lächeln.

»Oder er macht Vorbereitungen für den Sabbat«, meinte Jankaly. »Und die Mutter wäscht gewiß Heinelen – und Heinele weint ...«

»Wozu sollen wir Dummheiten reden«, unterbrach ihn Beraly. »wie können wir wissen, was sie dort machen. – vielleicht ist gar jemand gestorben«, sagte er, um Jankaly zu ängstigen.

»Geh', geh', verrückter«, schrie Jankaly. »So etwas hätte man uns schon mitgeteilt.«

»Vielleicht hat man uns geschrieben und der Fuhrmann hat den Brief nicht abgegeben.«

»Dummes Zeug«, schrie jetzt Jankaly außer sich.

»Aber Närrchen, ich spaße doch nur«, beruhigte ihn Beraly.

Da wurde Jankaly wieder lustig. »Hör', Berl«, schrie er und sprang von seinem Sitze auf. »wir wollen doch mit der Post einen Brief nach Hause schicken ...«

»Hast recht,« stimmte ihm Berl bei, »aber ich habe kein Geld ...«

»Ich habe vier Kopeken, die mir von meinem Zehnkopekenstück, das ich doch an jedem Donnerstag zum Nachmahl bekomme, zurückgeblieben sind.

»Eine Kopeke habe ich. Das reicht gerade für eine Postkarte.«

»Wer wird aber schreiben!« fragte Jankaly.

»Ich«, erwiderte Berl. »Ich bin doch älter.«

»Ich gebe aber einen Vierer. – Nein, ich schreibe die Hälfte und die zweite Hälfte schreibst du. Was?«

»Gut! Komm auf die Post, die Karte kaufen«, entschied Berl.

»Da kann man so wenig schreiben«, sagte Jankaly, als sie die Karte gekauft hatten.

»Wir werden ganz kleine Buchstaben schreiben«, entschied Berl.

»Dann wird der Vater die Karte vielleicht nicht lesen können.«

»O ja. Er wird die Brille aufsetzen.«

»Nun komm, rascher«, rief Jankaly. Es drängte ihn sehr, seine Gefühle aufs Papier zu bringen.

Sie kamen in die Stube und Berl begann als erster zu schreiben. Jankaly stand neben ihm und sah ihm zu.

»Beginn etwas höher. Hier kann man noch eine Zeile schreiben«, schrie Jankaly.

»Was geht's dich an. Ich lasse dir eine halbe Karte. Stör' mich nicht«, sagte Berl und schob den Bruder weg.

Jankaly betrachtete den Bruder während des Schreibens; wie sehr seine Gedanken mit dem Briefe beschäftigt waren, wie er die Stirn runzelte, die Feder eintauchte, nachdachte und weiterschrieb.

»Schon genug«, rief Jankaly nach einigen Minuten.

»Ich habe noch nicht bis zur Hälfte geschrieben«, antwortete Berl.

»Ich muß mehr als eine halbe Karte haben«, schrie Jankaly aufgeregt, denn die Lust, seine Herzensregungen den Seinigen kundzutun, überkam ihn zu sehr.

Doch Beraly hörte gar nicht auf ihn, so sehr war er mit dem Schreiben beschäftigt. Er muß noch von Leiser Bal-Eguly erzählen. Dann muß er schreiben, wieviel Blatt Talmud er gelernt hat. Auch muß er andeuten, daß man ihnen wieder ein Paket schicken soll; denn Montags und Mittwochs haben sie sehr wenig zu essen und auch am Dienstag haben sie es nicht gar zu reichlich.

Und Beraly schreibt und schreibt, Jankaly hält es aber vor Ungeduld nicht mehr aus, denn er sieht, daß der Bruder die halbe Karte schon beschrieben hat.

»Genug«, schrie er und ergriff den Federhalter.

»Nur noch drei Worte«, bat Berl.

»Nun gut, aber kein Wort mehr«, rief Jankaly und seine Augen leuchteten.

Beraly begann nun die drei Worte zu schreiben, aber der Gedanke, den er ausdrücken wollte, erforderte noch zehn bis fünfzehn Worte, und Beraly schrieb und schrieb – bis ein Stück von der zweiten Hälfte beschrieben war.

»Horst du nun auf«, schrie Jankaly, und begann laut zu weinen.

»Laß mich nur noch ›Von mir. Dein Sohn‹, schreiben« bat Beraly, »mehr nicht.«

Doch als Jankaly daran dachte, daß er für die Karte, die Beraly zum großen Teil beschrieben hatte, seine letzten vier Kopeken hergegeben, überkam ihn ein solcher Zorn, daß er die Karte seinem Bruder zu entreißen suchte.

»Laß mich doch nur ›Von mir. Dein Sohn‹ schreiben«, bat Beraly.

»Es geht auch so«, schrie Jankaly, trotzdem er sich sagen mußte, daß die Worte unbedingt notwendig waren, aber der Zorn machte ihn ganz wild und er suchte dem Bruder die Karte zu entreißen. Beraly hielt die Karte fest, aber Jankaly zog sie heftig an sich, daß er sie in zwei Stücke zerriß.

»Was hast du gemacht, Mörder!« schrie Berl ganz außer sich.

»Ich wollte es so«, rief Jankaly.

»Was hast du gemacht?« fragte Beraly und betrachtete verzweifelt die zerrissene Postkarte.

Doch Jankaly konnte nicht antworten, die Tränen würgten ihn. Verzweifelt fiel er gegen die Wand und raufte sich das Haar. Da konnte auch Berl nickt länger an sich halten und bald war die Stube erfüllt vom Jammer der beiden Knaben.


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