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Das Ghettobuch
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Schalom Asch

Sie hat vergessen...

(Aus dem Hebräischen übertragen von Ernst Müller.)

»Er schaute und ward getroffen«talmudische Bezeichnung der Verderbnis durch frühzeitiges Erwachen tieferer Erkenntnisse, hier auf die Folgen der Aufklärung angewendet. – er war auf üble Bahnen geraten.

Nichts Neues mehr, alle wissen schon davon.

Früher war er die Zierde der Familie gewesen, ihr Glanz und ihre Ehre, alle segneten sich an ihm. Eine Kleinigkeit! Baruch Joseph, der Gelehrte, der »Ilui«, ein »Sinai« und Bergentwurzler.Übliche Bezeichnungen für besonders begabte und scharfsinnige Talmudkenner. Selbst der Rabbi hatte Ehrfurcht vor ihm.

Satanswerk – er geriet auf Abwege!

Man sagt: sie, jene Frau, sei schuld, ein dummes Weib, die ihre eigenen Haare zur Schau trägt. Seine Angehörigen taten, was sie konnten, sie schwiegen nicht und ruhten nicht, kamen ein-, zweimal mit ihm zusammen, erzählten seine Taten vor vielen und ermahnten ihn öffentlich im Beth-Ha-Midrasch. Doch all dies nützte nichts – nicht einmal die Ermahnungen des Rabbi: der Satan hatte über ihn die schwarzen Schwingen gebreitet.

Hier, solange er noch im Bereiche der Juden wohnte, mußte er tun, was einem Juden ziemt. Man konnte ihn zur Erfüllung der Gebote nötigen – wenn er erst alles auch ohne innerer Zustimmung tut, kann diese schließlich auch nicht ausbleiben. Da entfloh er und ließ sich in Warschau, der ausgelassenen Großstadt nieder. Dort löste sich das Band, denn da ist alles erlaubt, niemand kann etwas verbieten, da gibt es kein Gericht und keinen Richter.

Am Ende aber, da die Sache verjährte, da man sah, daß seine Seele dem Satan schon preisgegeben war, versöhnte man sich mit ihm. Versöhnt? – das eigentlich nicht, wer hätte versöhnt mit ihm sprechen können, so wie ehedem ? Aber man grüßt ihn eben noch – von ferne; wenn er auch wie die Nichtjuden sich kleidete, so ladet man ihn doch zum Beispiel zu Hochzeiten – man erweist ihm die Liebe, sich seiner nicht zu schämen – denn wenn er auch gesündigt hat, so ist er doch von ihrem »Fleisch und Blut«, kein Fremder.

Alle hatten sich mit ihm ausgesöhnt und ließen die Sache auf sich beruhen, mit Ausnahme eines Geschöpfes, das sich mit aller Kraft dagegen sträubte.

Dies Geschöpf ist Zipa Debora, seine Schwester, die man auch einfach die »Dumme« nennt. Sie will nicht, daß ihr Bruder, ihr Fleisch und Blut, unter die Bösen gezählt werde, Wie wäre so etwas möglich? Sie – Zipa Debora, die »Dumme«, die nicht einmal ordentlich beten kann, wird bei den »heiligen Müttern« im Garten Eden sitzen und auf die Not ihres Bruders hinblicken, des ausgezeichneten Gelehrten, der sich jetzt dort unten in den sieben Kreisen der Hölle quält.

Das muß geändert werden. Doch auf welche Weise?

Schon hatte man ihm in furchtbaren Farben die bittere Strafe vorgezeichnet, die seiner dort harren sollte, die Hölle und ihre sieben Kreise mit den Engeln der Zerstörung. Und er lacht und sagt, daß auch der »Rambam« nicht daran geglaubt.

Sie weiß wohl, daß er nicht auf sie hören, daß nicht sie ihn von seinen schlimmen Wegen abbringen werde; wenn die klugen Worte des Rabbi umsonst waren und aller Eifer der Eifernden nichts nützte – was könnte sie, das dumme Weib, den Worten jener hinzufügen?

Dennoch – sie hatte es beschlossen und ging zu ihm.

Zipa Debora, in zerrissenen Kleidern, ein Tuch auf dem Kopfe, dessen Zipfel in das Gesicht hereinhängt, – so blickt sie ihren Bruder an. Sein längliches, bleiches Gesicht, die lange, schmale Nase, die hohe und faltige Stirn – das ist ihr Bruder Baruch Joseph, der »Ilui«, der Gelehrte.

Sie blicken beide schweigend aufeinander. Sie hält an sich, blickt ihn nur an, schüttelt den Kopf und seufzt leise.

»Warum seufzest du? Die Strafe wird ja nur auf mich fallen«, sagt er mit gekünsteltem Lächeln.

Sie seufzt und wiegt den Kopf.

»Warum soll es so sein! Ich möchte, daß die Sache sich ändere, daß es nicht so sei.«

Sie schweigt. Tränen rollen über ihre Wangen.

Er erblaßt ...


Sabbatabend ist's und das Dunkel schon hereingebrochen.

Der Tisch ist mit einem weißen Tuche bedeckt, darauf blinken zwei silberne Leuchter. An den Kopf des Tisches sind zwei Sabbatbrote gelegt.

An dem Tische sitzt Zipa Debora, in Sabbatkleider angetan, ein weißes Stirnband um den Kopf und goldene Ringe in den Ohren, das Gesicht frisch gewaschen und leuchtend im Sabbatglanze; ihr gegenüber Rachel, die Frau ihres Bruders, auch sie in Sabbatkleidern, doch ganz anderer Art – die Haare frisiert, so daß sie aussieht wie ein unverheiratetes Mädchen, dem das Haar rasch ergraut ist.

Ein gemischtes Bild: Heiliges und Profanes.

Zipa Debora betet, ihr Gesicht in die Blätter des Gebetbuchs vergraben, in das Tränen von ihren Wangen fallen. Sie kränkt sich darüber, denn das Gebetbuch ist noch ganz neu, ohne Falten und Flecke.

Ein wenig noch – und sie vergißt den Kampf zwischen ihr und ihrem Bruder, die »Techinah« zieht ihr ganzes Herz an sich, sie vertieft sich ganz in ihr Beten.

Sie vergißt, daß sie im Hause ihres Bruders ist. Ihr Gesicht ist in dem Gebetbuch verborgen, und sie betet unter Tränen:

»Herr der Welt! Strahle Deine heilige Schechinah über dieses Haus an diesem heiligen Sabbat, und sende uns Deine guten Engel, daß Friede und Friedsamkeit in dieser Wohnung sei, in Ruhe zu feiern diesen heiligen Sabbat ...«

Ihre Stimme erhebt sich, mit Tränen ringend.

Ihr gegenüber sitzt Rachel, ordnet ihr Haar und scherzt.

Jetzt steigen plötzlich verlorene Erinnerungen in ihr auf.

Sie ist noch in ihrem Vaterhause. Der Tisch steht bereitet und geordnet, darauf ein weißes Tuch gebreitet, silberne Leuchter, funkelnder Wein in der Flasche, die Sabbatbrote zugedeckt, alles gut und schön, über alles ergossen die Huld und Gnade dieses heiligen Tages. Ihr Vater sitzt am Kopfe der Tafel; das weiße Haar seines Bartes fließt in Silberfäden auf seine Brust herab, über sein Antlitz ist Schönheit des Alters ergossen. Die Mutter sitzt zur Seite des Tisches, ihr Gesicht leuchtet von innerer Weitung der Seele, ihre Lippen bewegen sich unhörbar im Gebet, sie preist den Weltschöpfer für seine Güte und Liebe. Dann geht ihr Mann, im Seidengewand, die schwarzen Locken über die geröteten Wangen herabgelassen, langsam auf und ab, betrachtet sie und stimmt das Loblied von dem »wackeren Weibe« an.

Und Rachel nimmt die Blätter des Buches, das vor ihr auf dem Tische liegt, und beginnt zu lesen. Die Buchstaben tanzen ihr vor den Blicken.

Sie stützt ihr Haupt in die Hände und lauscht der Stimme Ziva Deboras.

»Herr der Welt! wie ich diese Lichter zu Ehren des heiligen Sabbats entzünde, so erleuchte Du die Augen meines Mannes und meiner Kinder in den Wegen der Thora, sie zu verstehen und darinnen zu lernen, daß sie Wohlgefallen finden in Deinen Augen und in den Augen der Menschen ...«

Andere Gedanken und andere Erinnerungen steigen jetzt in Rachel auf.

Er sitzt am Kopfe des Tisches und lernt, mit so holder, so zarter und guter Stimme. Sie sitzt und hört zu, das Kind auf dem Arme – auch das Kind hört zu. Seine Stimme dringt ihr bis ins Herz. Und er blickt sie an, ein Lächeln schwebt über seinen Lippen – er blickt das Kind an, und sein Gesicht leuchtet. Und sie drückt das Kind an ihr Herz und betet im stillen: »Wann werde ich gewürdigt sein, die Stimme meines Kindes zu hören, das in Deiner heiligen Thora lernt ...!«

So vergißt sie plötzlich, daß sich die Zeiten geändert haben.

Andere Tage kamen ...

Zipa Debora rückt ihren Stuhl näher an sie heran, und auch sie, ohne es zu bemerken, nähert sich Zipa Debora.

Diese zeigt mit dem Finger auf die »Techinah« und bittet sie, zuzuhören.

»Auch ich verstehe zu lesen«, sagt die Frau und beginnt mit leiser Stimme zu lesen:

»Und schick' uns den Gegen durch den guten Engel ...«

Und Zipa Debora nach ihr: »Und schick' uns den guten Segen durch den guten Engel ...«

Und beide schließen: »Und wir seien gewürdigt des Tages, der nichts als Sabbat ist: dies sei Dein Wohlgefallen, unser Herr und Erlöser, Amen.«

Zipa Debora küßt das Gebetbuch und schließt es.

Die beiden Frauen blicken einander an.

Rachel errötet, und langsam erhebt sie sich von ihrem Platze und stiehlt sich aus dem Zimmer.


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