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Das Ghettobuch
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I. L. Perez

Die Verstoßene.

Den ganzen Mai hatte man von Regen und Kälte zu leiden.

Es schien fast, als würde kein rechter Sommer mehr kommen, aber gegen Schewues war plötzlich die Sonne da.

»Wissen ist Licht«, sagte der Vater von Stolz erfüllt und begann den Tikin-Schewues hervorzusuchen.

»An die Arbeit, dem Feiertag zu Ehren«, sprach die Mutter freudig und ging mit frischer Kraft an das Backen von Butterteigkuchen.

»Gelbe Feiertagsbrote werde ich auch backen«, rief sie uns zu. Es dauerte nicht lange und der Duft von frischem Teig, Zimt und heißer Butter erfüllte die Stube.

Meine jüngere Schwester Chane kümmerte sich um nichts. Sie saß beim Fenster über ihrem Roman, doch ohne zu lesen, und blickte unruhig auf die Straße. Die Mutter spornte sie einige Male zur Arbeit an, aber Chane antwortete nicht einmal. Auf ihrem blassen Gesicht erschien ein spöttisches Lächeln. Sie öffnete die Lippen, als wollte sie etwas sagen, aber sie sprach kein Wort und begann zu lesen.

»Faules Ding,« brummte die Mutter, »immer hockt sie über ihren Büchern, was weiß sie von einem Feiertag.«

Als der Vater den Tikin-Schewues gefunden und abgestaubt hatte, legte er sich nieder, denn er mußte die Nacht im Bethause wachend zubringen. Die Mutter gab mir ein paar Groschen und schickte mich, grüne Zweige und buntes Papier zum Schmuck der Stube einzukaufen.

Gott allein weiß, wie leid es mir tat, die Küche, in der es jetzt so viel Süßigkeiten gab, zu verlassen. Aber der Gedanke, daß ich selbständig einkaufen sollte, reizte mich sehr und ich rannte auf die Gasse ...

Es wurde ein trauriges Schewues bei uns.

Meine Schwester Chane verschwand.

Am Abend, als ich mit dem Vater ins Bethaus ging und die Mutter auf dem Sofa eingeschlafen war, gab man ihr ein Zeichen (die Mutter hörte im Schlafe einen lauten Pfiff), und fort war Chane – zu unseren Feinden.

Und gerade Schewues, das Fest der Thora-Verkündigung, hat sie sich zu ihrer Flucht ausersehen ...

... Alles vergeht!

Im Laufe der Zeiten verblassen Glück und Unglück – Gutes und Böses. – Wir nähern uns immer mehr dem Orte des Vergessens und unsere Erlebnisse bleiben hinter uns, wie Steine am Wege, wie Grabsteine, unter denen Freunde und Feinde ruhen ...

... Das neue Leben, zu dem Chane geflüchtet war, hat sie wieder ausgestoßen. Ja, schnell hat sie ihre Hoffnungen vernichtet gesehen und die erträumten Blumen sind zu stechenden Dornen geworden.

Und zurück konnte sie nicht mehr.

Das Gesetz und zwei Grabsteine stellten sich ihr in den Weg: Die Grabsteine von Vater und Mutter.

Wo ist sie jetzt... ?

Jeden Schewues-Abend erscheint sie mir. Ich sehe sie auf der Straße vor dem Fenster, als fürchte sie sich, einzutreten oder als wage sie es nicht, in ein jüdisches Haus zu kommen.

Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie in die Stube und erblickt nur mich allein.

Voll Angst, bittend und anklagend, sieht sie mich an und ich verstehe in ihren Mienen zu lesen.

»Wo sind sie?« fragt ihr angsterfüllter Blick.

»Verzeiht mir«, bittet sie.

Zornig beschuldigt sie uns und beklagt ihr trauriges Los:

»Was wußte ich von eurem blutigen Haß und Hader! Du hast es im Cheder gelernt, aber meine Romane erzählten mir nichts davon. Daheim habe ich ein fremdes Leben geführt, ein fremdes, schönes Leben – doch tausendmal schöner hat es sich mir in den Büchern widergespiegelt ...

Wen habe ich denn verraten?

Ich habe nur unsere gelben Feiertagsbrote mit Safran gegen anderes süßes Backwerk und die Abschnitte aus Mutters ›Ze' nuur' neu‹ gegen schönere interessantere Geschichten vertauscht ...

Das bißchen Feiertagsgrün der Stube haben mir die frischen Wälder und Felder ersetzt und den ernsten traurigen Gebeten habe ich die Scheinwelt der Erzählung vorgezogen. – Anstatt des engen, dumpfen, weltabgeschiedenen Lebens habe ich Sonne und Blumen und Freunde gesucht ...

Ich habe euch nicht verraten, denn ich habe euch nicht gekannt und von euren Schmerzen nichts gewußt. Ihr habt mir von euch nie ein Wort erzählt ...

Warum habt ihr zu mir nicht von eurer Liebe gesprochen, von der Liebe, die sich von eurem Blute nährt?

Warum habt ihr mir von eurer Schönheit, von eurer düstern Schönheit nicht erzählt ...?

Alles Schöne, Große und Gewaltige habt ihr Männer für euch behalten ...

Von mir, von uns, die wir mit der Jugendkraft dem Leben zustreben, von uns habt ihr süßes Backwerk, gelbe Feiertagskuchen verlangt ...

Uns habt ihr aus eurer Welt verbannt ...«

So sprach Chane zornig!

... Soll er sie richten, der über allen Völkern thront, der über ihren Streit und ihre Kämpfe entscheidet ... !


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