Verschiedene
Das Ghettobuch
Verschiedene

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

G. Danilowski

Am Felsabhang.

(Übersetzt aus dem Polnischen von Amalie Scherlag.)

Auf einer flachen, von dem im Tal liegenden Städtchen etwas entfernten Anhöhe befand sich ein kleiner keilförmiger Obstgarten, zwischen zwei sich kreuzenden Wegen und einer Zickzacklinie eines steilen Felsabhanges eingeschlossen.

Dieser Felsabhang bildete ehemals eine sanfte, mit Sträuchern und üppigem Gras bestandene Senkung; nachdem man aber dort guten fetten Lehm und nützliches Gestein vorfand, wurde er gänzlich verwüstet. Der nackte Abhang voll von Löchern, Spalten und traurigen Ritzen, die an Höhlen ausgestochener Augen gemahnten, bildete jetzt ein lockeres Geröll zerfallener Kalksteine, das gleich scharfen Bächen auf die in der Tiefe lagernden Felsstücke hinabzugleiten schien. Von dieser Seite bröckelte die Erde langsam ab, so daß die zusammengeschrumpften Wurzelverschlingungen des am Rande stehenden Apfelbaumes auf die Oberfläche heraustraten, während ein mächtiges Kreuz mit dem blechernen, verrosteten, schwarzen Christus sich auf dem äußersten Rande des Abgrundes befand und gebeugt darüber seine schützenden Arme ausbreitete.

Der Grund gehörte der Gemeinde, darum beeilte sich jeder, davon Nutzen zu ziehen, und darum konnten die zu früh gepflückten Früchte nie zur Reife kommen. In diesem Jahre hatte sie zum erstenmal der dumme Leib um einige Rubel gepachtet.

Leib war ehemals ein wohlhabender Obsthändler gewesen, dann verarmte er dermaßen, daß er seit einigen Jahren nicht nur keine Geschäfte machte, sondern sogar davon zu träumen unterließ, indem er wie eine Fliege von den Brosamen der Armentische des elenden Städtchens lebte.

Sein einziger Kaftan, den er an Wochentagen und am Sabbat trug, hatte bereits die ganze Tonleiter der Farben durchgemacht und ward ein farbloser fetter Fetzen, der mit Leibs erdiger Hautfarbe, seinem gelblich grauen Barte, dem gekrümmten Rücken und den verblichenen Augen eines Bettlers harmonierte. Er selbst machte den Eindruck eines Greises, wiewohl er kaum fünfzig Jahre zählte. Das fortwährende Hungern hatte ihn so sehr heruntergebracht, daß er nicht nur arbeitsunfähig wurde, sondern auch keine lebhafteren Bedürfnisse mehr empfand. Zunächst und instinktiv suchte er Nahrung, und es genügte ihm, nur das Geringste zu verzehren, den Rest des Tages verfiel er in eine apathische, gedankenlose Erstarrung woraus ihn nicht einmal die verlockendste Aussicht auf Verdienst herauszureißen vermochte. Aus diesem Grunde gelangte Leib in den Ruf eines etwas dummen Juden. Und tatsächlich verkümmerte mit der Auflösung seiner physischen Kräfte ein Teil seiner angeborenen Intelligenz, und übrig blieb ein bescheidenes schläfriges Restchen.

Leibs Unbeholfenheit, ihm selbst schon ganz gleichgültig, war lange ein großer Kummer für seine Frau Riwke, die er noch in besseren Tagen mit einer Partie Kinder versorgt hatte.

Nach und nach gewöhnte sie sich an diesen Zustand ihres Gatten, und ihn dem Schicksal überlassend, erhaschte sie durch wahnsinniges Herumlaufen in der ganzen Gegend und durch blitzschnelle Umsätze des Kapitals von einigen Rubeln jene karg bemessene Dosis der Speise und der Wärme, die zwar nicht gestattet, menschlich zu leben, aber ausreicht, um nicht zu sterben. Die Kinder jedoch wuchsen mit den Jahren. Der Umfang der Magen nahm zu, während das Anlagekapital, die einzige Erhaltungsquelle, stets in einem und demselben Maße verharrte. Um die Einkünfte zu vergrößern, mußte Riwke ihre Energie immer mehr verschwenden und wurde ungestüm und hartnäckig beim Feilschen und Handeln.

Doch das alles nützte nicht viel. Riwke erregte und erbitterte sich nur unnötigerweise und begann als zudringliche unausstehliche Schacherjüdin die Sympathien der Kunden zu verlieren. Die Lage wurde immer tragischer, als auf einmal im Juli, in der Zeit, wo sich die meisten Sommerfrischler einfanden, eine Menge Geld in die Hände des dummen Leib fiel. Er fand nämlich eine Börse, die ein Tourist verloren hatte. Befragt, ob er sie bemerkt hätte, stellte er sie unverzüglich zurück, worauf ihm der Eigentümer zwei Fünfrubelstücke als Finderlohn übergab.

Die Kunde von diesem Ereignis durcheilte die Stadt und erreichte Riwke auf dem Jahrmarkte. Im ersten Augenblick hätte die betäubte Frau den Kober mit den Eiern beinahe fallen gelassen, dann wollte sie es um keinen Preis glauben und erst, als man ihr den triumphierend erschreckten und nun ganz verdummten Mann brachte, entriß sie ihm die Beute und weinte vor Glück. Einen Teil des Geldes verwendete sie auf den Einkauf eines Korbes und einiger Waren für die älteste Tochter, die die Sommerfrischler im Tale zu bedienen hatte, sich behielt sie das Gebirgsrevier vor, für Leib aber bestimmte sie den Obstgarten vor dem Kreuze.

Es war dies ein vorzügliches Geschäft. Daraus konnte man auf zwanzig Pud Früchte rechnen, was auch bei dem geringsten Preise einen Riesengewinn ausmachte. Die schadhaften Sommerbirnen und einige verkrüppelte Pflaumenbäume konnten Leib ein glänzendes Auskommen sichern, der das ganze Hab und Gut bewachen sollte. Mit einem Worte, eine der ärmsten Familien des herabgekommenen Städtchens war plötzlich schier zu Patriziern gediehen, und für das Oberhaupt der Familie Leib wurde, wie ein goldener Baldachin, auf zwei Pfählen ein Strohdächlein errichtet, damit er sich nicht einen Moment von dem gepachteten Besitztum entferne.

Leib versprach es feierlich, denn er fing an zu erfassen, was für eine günstige Änderung in seiner Lage eingetreten war. Nach und nach unter der Einwirkung der Sonne, der frischen Luft und besseren Nahrung, die aus dem faulen Obst, das wie Manna nach jedem Windhauche ihm zu Füßen fiel, bestand, erwachte er aus der Apathie und begriff immer mehr die Wichtigkeit seiner Mission. Als Leibs Frau sich überzeugte, wie gut er seines Amtes waltete, und als sie ihn Pläne und Geschäfte für die Zukunft eifrig entwerfen hörte, wurde sie erfreut und gerührt, schenkte ihm eine altbackene Semmel und widmete sich beruhigt ihren geschäftlichen Kombinationen.

Indessen verbrachte Leib eine wonnevolle Zeit. Im Bewußtsein, daß sein Anblick genügte, Diebe abzuschrecken, streckte er sich bei Tage behaglich ins Gras und schlummerte oder gab sich Träumen hin. Und es träumte ihm, daß er einen großen Obstgarten in Pacht hat, und daß seine Frau und alle seine Kinder ihm helfen müssen ... Ein Feuerlein flackert, Pflaumen werden geröstet, die gesunde Frucht wird wie Gold in Barken geladen. Diese gleiten über die schimmernden Wellen der Weichsel, weit, weit, bis unter die Brücken von Warschau ...

Der Pfiff eines Dampfers zerriß gewöhnlich das Gewebe der wiederkehrenden Erinnerungen an die vom Schiffe zerschmetterten Galeeren ...

Leib erwachte erschüttert und verfolgte mit trübem Blicke den über den Fluß gleitenden Schlot und den dunkeln Rauchstreifen, wie ein Banner des Unglücks, das entschwunden war, nachdem es den Tribut des Schmerzes mit sich genommen hat und vielleicht nicht mehr zurückkehren wird. In diesem engen Bereiche der Vermutungen, Hoffnungen und Erwägungen kreisten träge seine Gedanken bis zum Sonnenuntergang. Gegen Abend schärfte sich seine Aufmerksamkeit und er wurde wachsam. In hellen Mondnächten war er seines Gutes sicher; auf den sichtbaren weiten Feldern, auf den weißschimmernden Wegen vermutete er keine Räuber. Dagegen ängstigten ihn bewölkte und dunkle Nächte. In jedem Geräusche witterte er einen Menschen, der ihm sein Hab rauben will. Er umkreiste daher den keilförmigen Erdfleck, räusperte sich laut, um seine Gegenwart anzuzeigen. Während eines Sturmes fürchtete er keine Diebe. Der Wind marterte ihn. Zusammengekauert hockte er in seiner Bude, gespannt horchend, während das Geräusch eines jeden herabfallenden Apfels in einem schmerzlichen Echo in seinem zerquälten Herzen nachhallte. Nach dem Sturm konnte man zuweilen hie und da auf dem dunklen Horizont Feuersäulen aufsteigen sehen, er aber sah dem gleichmütig zu, obschon er wußte, daß dieses Feuer Hab und Gut der Bauern zerstörte. Die »Goim« waren ihm außerhalb der Geschäfte vollkommen gleichgültig, und sie hätten vor seinen Augen in die Erde versinken können, so hätte er nicht einmal gezuckt ... in dem Maße waren sie ihm ein fremdes, jetzt sogar feindliches Element, denn nur von ihrer Seite drohte seinen Bäumen Gefahr.

Um einen nichtigen Apfel käme kein Jude einen so weiten Weg her, denn er hat eine zarte Gesundheit und Verstand ... Aber der Bauer, der ist stark und zu allem fähig. So überlegte er, empörte sich, und wie es sich erwies, nicht ohne Grund.

Es kamen kühle, ruhige, helle Augustnächte. In einigen Wochen konnte man schon das reife Obst pflücken.

Leib dachte mit höchster Wonne an diesen Tag, denn es sollten da Frau und Kinder heraufkommen, um ihm dabei behilflich zu sein. Auch hoffte er, dann etwa fünfzehn Gulden zu verdienen und spann herrliche Zukunftspläne.

Indessen glitt von den Schloßruinen am Seitenabhang etwas wie ein graues Felsstück herab, nahm eine menschliche Gestalt an und begann, schwer atmend, den hellen Hohlweg emporzuklimmen. Es war dies der allgemein bekannte Stumme, der zu den Raritäten des Städtchens gehörte. Den Winter verbrachte er in dem Gehöfte seines Bruders, wo er aus Angst vor Prügel arbeiten mußte. Im Sommer war er frei und umkreiste die Häuser der Sommerfrischler, wo man ihm dann und wann etwas schenkte. Nachts machte er die Obstgärten unsicher. Auf frischer Tat betreten, empfing er ergeben die angemessene Tracht Schläge von den Söhnen Israels.

Juden konnte er überhaupt nicht ausstehen, nicht etwa wegen der erhaltenen Schläge, sondern ganz einfach, als hätte er die in seiner Umgebung kreisenden Miasmen der Abneigung in sich eingesogen.

Zur Bezeichnung dieser Rasse verfügte er über einige ständige Gesten, bohrartiges Fingerdrehen an der Schläfe, was Pejes bedeuten sollten, Geldzählen auf der flachen Hand und Hinweisen auf den gekreuzigten Christus, wegen dessen Qualen er jeden Juden beschuldigte.

Obwohl er manches ganz gut verstand und nicht einmal so dumm war, wie man vermutete, so machte er mit seinem abstoßenden platten Gesicht und blödem Lächeln doch den Eindruck eines abscheulichen Kretins. Leib, ganz in seinen Träumereien versunken, hörte nicht das Schreiten der nackten Füße, erst das Knistern der Zweige, die der Stumme samt dem Obst abriß, erschütterte ihn bis in die Tiefe.

Erstarrt, erkannte er den Räuber. Der Stumme verwunderte sich ebenfalls, und einen Genossen vermutend, wies er ihm freundschaftlich den zweiten Baum, wobei er lachend sein häßliches Maul verzerrte.

»Du Dieb, du Räuber. Das ist doch mein Garten!« schrie Leib erbost, endlich drohte er ihm mit dem Stock. Der Stumme begriff nun, verzog das Gesicht, zog aus der Tasche einen scharfen Stein und zielte nach Leibs Kopf. Leib wand sich vor Schmerz und ohnmächtiger Wut.

»Fort von da, fort!« schluchzte er, indem er den Stummen am Ärmel zerrte. Der Stumme stopfte nichtsdestoweniger seine Taschen voll, und als er fertig war, schnitt er dem Juden Gesichter. Wie er weggehen wollte, hielt ihn Leib krampfhaft fest.

In seiner letzten Verzweiflung an das Mitleid des fremden Gottes appellierend, deutete er mit fiebernden Händen den Stummen auf das Gebilde des Christus hin. Der Stumme wurde ernst, kreuzigte die Hände und stieß Leib vor die Brust, als wollte er damit andeuten, daß eben er die Qualen Christi verursacht habe. Dann schüttelte er ärgerlich den Kopf und entfernte sich lallend. Leib fiel auf die Erde, er fühlte sich wie von Hufen eines wilden Tieres zertreten. Der Schaden war zwar nicht groß, aber der verzweifelte Gedanke, daß sich das öfter wiederholen könnte, krampfte ihm das Herz zusammen.

Am nächsten Tage, da der Regen die feindseligen Bauern vom Felde fern hielt, lief er ins Städtchen. Er traf Riwke nicht an, weil sie geschäftlich in einem Dorfe zu tun hatte, kaufte einige Zigaretten und kehrte eiligst zu dem ohne Aufsicht gelassenen Garten zurück, wo er sich wie ein von Hunden gehetzter Fuchs verärgert in die Bude verkroch.

Gegen Abend heiterte es sich auf. Die graue Wolkenmasse löste sich in kleine Wölkchen auf, die den goldenen Mond teils verdeckten, teils enthüllten.

Feierliche Stille umfing die Erde. Entzückend lag die Landschaft da, wie ein Bild aus den Träumen eines gerührten Herzens, das sich andächtig in Gott versenkt.

Aber der von Geschlecht zu Geschlecht, von Jahrhundert zu Jahrhundert gehetzte, von jeder Freude ausgeschlossene Jude, der dem tiefsten Elend preisgegeben ist, gegen die Schönheiten der Natur abgestumpft, hatte nur Sinn für das Unrecht, das auf ihn in jedem Schatten und in jedem Geräusch der Nacht lauerte.

Unrecht schlich an ihn heran, düster, finster, jedes Glück zerstörend.

Leib hielt krampfhaft den Stock, denn er unterschied bereits die Fetzen, die wie Fledermausflügel um die heranschleichende Gestalt flatterten. Der Jude erbebte, trat aus dem Versteck und traf mit dem Angreifer unter dem Kreuze zusammen.

Einige Schritte voneinander entfernt, blieben sie stehen und fixierten sich.

»Na!« zischte endlich Leib, eine Zigarette vorweisend.

Der Stumme, das erstemal mit einem Geschenk von einem Juden überrascht, verwunderte sich, dann griff er herbeispringend danach. Leib wich bis an den Rand des Abhanges zurück und reichte ihm ein Zündholz. Der Stumme kauerte sich nieder und rauchte.

Wolken umringten den Mond. Es wurde so finster, daß Leib nur undeutlich die Umrisse seines Feindes sehen konnte. Und eine seltsame, abergläubische Angst und Unruhe ergriff ihn. Er änderte seine Absicht und begann fieberhaft gestikulierend dem Stummen Vorstellungen zu machen, daß in dem städtischen Obstgarten das Obst viel besser sei, und daß er es dort stehlen möge. Der Stumme bejahte und zeigte mimisch, wie er es dort stiehlt, wie er dafür Schläge kriegt, und verfiel in ein ekelhaftes Gekicher. Es entspann sich ein wunderliches, lautloses, beinahe freundschaftliches Geplauder.

Sie fühlten sich so nahegerückt, daß, als der Stumme sich erhob, um in den Garten zu gehen, und Leib ihm den Weg vertrat, sie sich beide darob verwunderten, sich ungläubig und wie enttäuscht ansahen.

Die eben erst harmonisch gestimmten Saiten spannten sich widerspenstig und mühevoll zu einem schmerzlichen Mißton.

Der Stumme zog zögernd mechanisch einen Stein aus der Tasche. Leib erhob wie aus Pflichtgefühl unwillig den Stock, und erst bei dieser Bewegung knirschte in ihm rachsüchtiger Ingrimm. Er zielte gegen den Kopf, traf aber ungeschickterweise den Rand des Hutes, der in die Schlucht kollerte.

Der Stumme, dessen ganzer Stolz dieser Hut war, heulte auf, griff nach dem anderen Ende des Stockes und sie begannen am Rande des Felsenabhanges zu ringen. Beider Kräfte waren gering und gleich schwach. Man hörte das beschleunigte Schnauben des Stummen und das pfeifende Atmen der eingefallenen Brust des Juden.

Plötzlich ließ Leib den Stock los. Der Stumme taumelte, hielt sich aber am Kreuze fest und wieder stürzten sie sich gegeneinander. Und nun kämpften miteinander zwei kraftlose, gebrechliche, zwei elende Krüppel.

Zu der Wut des gespensterhaften Kampfes entfesselten sich alle Kränkungen der Rassen, wurde der vergiftete Bodensatz der vieljährigen Anfeindungen aufgerührt und entfachte tödlichen Haß.

Der Stumme trachtete die »Pejes« dem räudigen Juden auszureißen, Leib würgte diesen ihm fremden und jetzt verfluchten Goj.

Jeden Moment rutschte einer aus, griff nach dem Kreuze und behielt so das Gleichgewicht. Plötzlich riß sich die Erde unter ihnen los. Sie blieben eine Weile hängen, indem sie sich am rettenden Pfahl festhielten, da hob sich das im Kampfe arg zugerichtete Kreuz heraus und stürzte mit der ganzen Last hinab.

Beide fielen hinunter. Die Steine ertönten, die Erde ertönte, und die zwei Körper lagen da unbeweglich, formlos und grau wie Felsengestein.

Das Kreuz glitt an der Seitenwand mit einem rauhen Geräusch des abbröckelnden Kiessandes, bis es an einem Vorsprung hängen blieb, oben mit einem dumpfen Krach barst, daß der ganze Oberteil mit einem dumpfen Getöse niederflog. Das Städtchen hatte seitdem eine Sehenswürdigkeit mehr, das seltsam geborstene Kreuz über dem steilen Abhang.

Neu hergerichtet, aber ohne den blechernen Christus, der verschwunden war, und ohne den oberen Teil, sah es wie ein zweiarmiger Galgen aus.

Beim Anblick der in dieser Öde ausgespannten schwarzen, ominösen Balken konnte man sich unmöglich dem Eindruck erwehren, daß dies irgendein fatales Zeichen der Drohung oder der Warnung sei.

Mancher vorübergehende blieb hier stehen, in Gedanken versunken. Ein Unbekannter, zu Verallgemeinerungen geneigt, versah es sogar mit einer Inschrift:

»Die Verkümmerten, Unbeholfenen, der Stimme beraubten, vom Schicksal entblößten Elenden hat das Urteil der Geschicke an diesen furchtbaren Abhang geführt. Der Grund entgleitet ihren Füßen, jede Stütze verschlingt der Abgrund, und sie, statt sich zu verstärken und zu festigen, und geeinigt gemeinschaftlich von den Bäumen des Vaterlandes die gereifte Frucht zu verzehren, entwurzeln im Eifer des Kampfes und in der Verblendung des Hasses die letzte Stütze: das heilige Symbol der Liebe gestalten sie in das Sinnbild der beiderseitigen Schmach um, mit der sich die Verhaßten in den Abgrund und in die ewige Vernichtung wälzen...«

Diese Worte wurden rasch verwischt, nur die herbstlichen Winde, die über diesen leidenvollen Erdenwinkel dahinsausen, spielen zuweilen auf der Spitze des einsam ragenden Holzes eine so traurige Melodie, wie ein Choral einer Lohe, die, vom Rauch geschwellt, im Blutglanz aufflammt...

Die Stimme klagt, steigt empor und fleht zu Gott, daß er die verbrecherischen Hände bestrafe, nicht aber das schuldlose Schwert.

Der düstere Himmel schweigt, und die Menschen, vom Lärm des Lebensmarktes betäubt, vernehmen nicht die Töne des Gesanges:

»Wem also singt ihn der Wind?
Wer kann es erraten?«


 << zurück weiter >>