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Vor langer, langer Zeit wohnte in einem Dorfe einige Meilen hinter Prag ein gewisser Chiel Michel. Da sein Gutsherr nicht ein Gutsherr wie jeder andere, sondern ein großer Herr, ein Graf war, ging es Chiel Michel, der das Dorfwirtshaus betrieb, sehr gut. Er kam zu Ansehen, übte Wohltaten und Gastfreundlichkeit, und wenn er zu den hohen Festtagen nach Prag fuhr, pflegte er sich's in der Stadt etwas kosten zu lassen. Da er kein ungelehrter Mann war, fand er auch Zutritt zum Rabbi und Jeschiwe-Vorstand. Er kaufte bei ihm Eßrojgim,Paradiesäpfel, die für das Zeremoniell des Ssukaußfestes (Laubhüttenfestes) benötigt werden. Mazze schmire und dergleichen und bat ihn um seine Fürsprache, damit er mit männlicher Nachkommenschaft gesegnet werde. Gerade diese Bitte lehnte der Rabbi rundweg ab. Denn kraft des Heiligen Geistes sah er voraus, daß Chiel Michel Freude an Kindern nicht beschieden sei. Und besser keine Söhne als solche, an denen man keine Freude erlebt, dachte er. Immerhin glaubte er jedoch den Mann, den seine Weigerung tief getroffen hatte, wieder trösten zu müssen und sagte:
»Dafür will ich dir, wenn du mit Gottes Hilfe eine gehörige Mitgift beisammen haben wirst und dich an mich wendest, einen Schwiegersohn aussuchen, daß dich die Partie niemals gereuen soll.«
Chiel Michel fuhr nun doch einigermaßen beruhigt nach Hause ... Gelehrte Schwiegersöhne sind ja auch nicht zu verachten ...
Und Gott half ihm. Er sparte. Und als die ersten fünfhundert Taler erreicht waren, sagte er zu seiner Frau:
»Dwosche, es ist Zeit, daß wir Nechume, unsere Ältere, verheiraten.«
Dwosche war derselben Meinung. Und sie rechneten: Dreihundert – Mitgift und zweihundert – Kleider, Geschenke, Hochzeitskosten und so weiter ... Auch wollten sie ein Mahl für die Armen machen, daß Prag daran denken sollte!
Aber es spricht sich schneller als sich's tut. Hindernisse kamen dazwischen. Der Gutsherr hatte Aufträge – einmal dahin, das andere Mal dorthin.
Indessen brach der Winter herein, der Schnee verschüttete die Wege. Im Sommer gab es Regengüsse. Oder es waren christliche Feiertage und man konnte von der Schenke nicht weg ... mit einem Worte, es ging nicht so schnell und – der Mensch denkt und Gott lenkt.
Nechume, die älteste Tochter des Pächters, ist ein goldenes Mädchen, eine gute, stille Seele. Die Güte leuchtet ihr aus den stillen Augen. Sie läßt sich lenken, merkt auf das, was der Vater und die Mutter und was alle die guten, frommen Leute sagen, die in der Schenke einkehren ... Sie nimmt andächtig Challe,Eine Zeremonie vor dem Backen des Sabbatbrotes, die an das Speiseopfer im Tempel zu Jerusalem erinnern soll. spricht schon den Segen über die Sabbatlichter, liest schon geläufig Iwre-Taatsch. Kein Zweifel, sie verdient einen Bräutigam aus der Prager Jeschiwe ...
Mit der jüngeren Tochter geht es nicht so gerade. Man kann ihr, Gott behüte, nichts Schlechtes nachsagen. Aber ein sonderbares Geschöpf ist sie, versonnen, verträumt. Alles fällt ihr aus den Händen ... Zuweilen senkt sie die Augenlider, das Gesicht ist kreidebleich und wie auf einer anderen Welt geht sie daher. Ruft man sie dann an – als hätte man sie vom Jenseits zurückgerufen ... Sie zittert und hält sich kaum auf den Füßen ... Und manchmal hat sie merkwürdige Blicke, so stark und stechend, daß einem einfach unheimlich zumute wird. Auch zeigen sich gewisse verdächtige Anzeichen: Aus der Schenke ist sie nicht herauszubringen – zumal bei Nacht, wenn gespielt und getanzt wird. Ganze Nächte könnte sie so dasitzen und sich die Augen herausschauen, den jungen Bauern zusehen, wie sie mit den Dirnen spaßen, schwindelnd im Kreise sich drehen und ihre Lieder dazwischen hineinsingen, daß die Schenke nur so dröhnt und zittert ...
Bringt man sie aber mit Gewalt in ihr Kämmerchen und legt sie zu Nechumale ins Bett, dann liegt sie mit geschlossenen Augen da, bis die Schwester eingeschlafen ist. Doch kaum ist dies geschehen, springt sie auf und stürzt barfuß – es macht ihr keinen Unterschied, ob es Sommer oder Winter ist – hin, um durch das Schlüsselloch oder eine Ritze in der Tür oder in der spanischen Wand in die Schenke zu gucken. Kommt dann die Mutter dazu und reißt sie weg, so brennt ihr der ganze Leib wie im Fieber und aus ihren Augen sprühen Funken. Dann erschrickt Dwosche und eilt zu Chiel Michel zurück, um ihm's zu erzählen.
»Wenn man die jüngere früher verheiraten könnte«, seufzt er.
»Man sollte doch fragen«,Den Rabbi antwortet die Frau.
Inzwischen kommen neue Hindernisse, bis sich schließlich folgendes ereignet:
Der Gutsherr hatte einen einzigen Sohn, den er nach der damaligen Sitte der großen Herren in Paris erziehen ließ. Nur einmal im Jahre, in der Ferienzeit, pflegte der junge Graf nach Hause zu kommen. Doch bekam man ihn auch dann wenig zu Gesicht, da er Tag und Nacht in den Wäldern auf Jagd war. Chiel Michel kriegte die Felle der Hasen und anderen Tiere, die er schoß, halb umsonst aus der Küche.
Da geschah es einmal – es war eine große Hitze, wie wenn Feuer durch die Luft flöge – daß der junge Jäger an der Schenke vorbeiritt. Einem plötzlichen Einfalle folgend, sprang er von seinem milchweißen Rosse ab, band es an den Zaun, trat in die Schenke und verlangte ein Glas Met.
Mit zitternder Hand stellt Chiel Michel das Glas vor ihn hin. Der junge Graf führt es an den Mund, kostet und verzieht das Gesicht. Bei seinem Vater im Keller gibt's wohl besseren, wer weiß wie alten Met. Vielleicht würde er auch Chiel Michel das Glas an den Kopf werfen, erblickte er nicht gerade Malkale, wie sie mit ihren starren Augen und ihrem bleichen Gesichtchen in einem Winkel der Schenke sitzt. Da stellt er das Glas gelassen hin, wirft einen harten Taler auf den Schanktisch und fragt:
»Mojsche« – für große Herren heißen alle Juden Mojsche –, »ist das deine Tochter?«
»Ja, ja, meine Tochter«, stammelt Chiel Michel, dem es sehr schwer ums Herz wird.
Der junge Graf läßt kein Auge von dem Mädchen. Und ist am anderen Tage wieder da. Und ebenso am dritten und vierten ... Man versteckt das Mädchen vor ihm. Das bringt ihn auf, er sagt nicht warum, zwirbelt nur das schwarze Schnurrbärtchen und seine Augen blitzen. Und einmal wirft er hin, daß Chiel Michel zu wenig Pacht für das Wirtshaus zahle ... Prager Juden böten mehr ... Es ist sogar wahr, nur hat sie der alte Graf niemals über die Schwelle gelassen,– um solcher Bagatelle wegen soll sein Jud nicht ums Brot kommen ... Chiel Michel kriegt Angst, zumal Malkale noch verträumter wird. Er muß also wohl doch nach Prag fahren, um sich Rat zu holen. Aber es kommt wieder mancherlei dazwischen und unterdessen ist der junge Herr weiter täglicher Gast, und eines Tages sagt er plötzlich ganz unvermittelt:
»Mojsche, verkauf mir deine Tochter!«
Da zittert Chiel Michels weißer Bart und vor die grauen Augen legt sich's wie ein Schatten.
Der junge Graf aber lacht.
»Sie heißt doch Esterke?« fragt er.
»Nein, Malke.«
»Ach, so nimm an, daß sie Esther heißt,« meint er, »und du – Mordechai und ich – Ahasverus ... Wie? Eine Krone werde ich ihr ja nicht auf den Kopf setzen. Aber du kriegst das Wirtshaus umsonst, und zwar für immer, auch für deine Kinder und Kindeskinder!«
Und er gibt ihm Bedenkzeit.
Chiel Michel sieht, daß er nicht mehr länger zögern darf. Ganz frühmorgens spannt er ein und fährt nach Prag, gleich zum Rabbi und Jeschiwe-Vorstand. Er trifft ihn überm Talmud, grüßt und fragt ihn sofort:
»Rabbi, darf man die jüngere Tochter vor der älteren verheiraten!«
»Nein«, antwortet der Rabbi, indem er sich mit dem Ellenbogen auf den Talmud stützt. »Nein, Chiel Michel, das tut man bei uns nicht. Das ist nicht jüdisch.« Und erinnert ihn an die Geschichte von Jakob und Laban.
»Ich weiß,« sagt Chiel Michel, »aber wie, wenn man nicht anders kann!«
»Das wäre?«
Da schüttet der Pächter vor dem Prager Rabbi sein Herz aus, erzählt ihm die Sache, wie sie ist. Der Rabbi denkt nach.
»Nun ja, wenn Gefahr im Verzuge ist ...« meint er.
Chiel Michel berichtet nun über seinen Reichtum, die fünfhundert Taler, und erinnert den frommen Mann an sein Versprechen, ihm seinerzeit einen Schwiegersohn aus der Jeschiwe auszusuchen.
Der Rabbi stützt den Kopf auf den Ellenbogen über dem Talmud und sinnt. Nach einer Weile hebt er den Kopf und sagt:
»Nein, Chiel Michel, das kann ich nicht.«
»Warum, Rabbi?« fragt Chiel Michel erschrocken. »Hat denn etwa mein Malkale, behüte Gott, eine Sünde auf ihrem Gewissen? Ein so junges Kind, ein junges Bäumchen! So, wie man es biegt ...«
»Wer sagt was?« antwortet der Vorstand der Jeschiwe. »Ich sage nicht, daß sie, behüte Gott, gesündigt hat, das fiel mir gar nicht ein ... Nur paßt es nicht. Hör' mal, Chiel Michel, gesündigt hat deine Tochter nicht, aber, aber ... von der Sünde berührt, verstehst du, ein wenig berührt, ist sie doch ... Und was die Hauptsache ist, ich meine es dir gut. Denn vor allem hat deine Tochter Aufsicht nötig, – die Aufsicht eines Mannes, eines starken, tüchtigen Mannes, der sich in der Welt umtut, und außerdem – die Aufsicht von Schwiegervater und Schwiegermutter, von Hausgenossen überhaupt ... Es handelt sich darum, ihr gewisse Gedanken aus dem Kopf zu schlagen ... Darum muß sie in ein Haus kommen, das viel Ohren und Augen hat ... Wo sich der Versucher eingenistet hat, da heißt es, mit aller Macht gegen ihn Krieg führen ... Es ist eine Art bitteren Krauts, das man nur einmal sät und das dann ewig wächst ... Du reißt es aus und es wächst! ... Wie, ist es nicht so?«
Chiel Michel muß leider kopfschüttelnd zustimmen.
»Und nun, Chiel Michel,« fährt der Rabbi fort, »nimm an, ich will mein Wort halten, tu' dir deinen Willen und suche dir einen armen jungen Mann aus der Jeschiwe aus ... Sag' selbst, kann das gut ausgehen? Er wird sitzen und in den heiligen Büchern lernen ... Mehr weiß er ja nicht, will er und darf er nicht wissen ... Und wo sollen die jungen Leute wohnen? Zu dir ins Dorf wirst du sie ja nicht nehmen?«
»Sicher nicht, solange der junge Graf da ist!«
»Und wer kann wissen, wie lange er bleiben wird? Bei so einem Grafen ist doch alles möglich. Du weißt ja: Wenn ›ihnen‹ etwas in die Augen fällt! Hat er denn andere Sorgen? Etwa ums Brot zu kämpfen? wie? ... Kurz, zu dir kannst du sie nicht nehmen. Mußt sie also in Prag zurücklassen, ihnen dort eine Wohnung mieten – und ihnen schicken, was sie brauchen. Und sie, was werden sie dann tun? Er, der junge Ehemann wird Tag und Nacht im Beßmedresch sitzen, studieren, Gott dienen. Sie aber, die junge Frau? Welche Gedanken werden sie beschäftigen? Welchen Phantasien wird sie nachhängen?«
»Ihr habt recht, Rabbi«, gibt Chiel Michel mit heiserer Stimme zu. »Was nun aber tun?«
»Was möglich ist,« antwortet der Rabbi, »und ich will dich unterstützen. Ich will selbst einen Vermittler kommen lassen und ihm sagen, wohin er gehen soll. Es muß eine Familie von Ansehen sein, die etwas vorstellt, ein bißchen auf das Diesseits hält, – nur in den Grenzen des Erlaubten ... Du wirst sehen, es wird sich mit Gottes Hilfe machen ... Wenn du aber«, fügt er, um ihn zu trösten, hinzu, »mit Gottes Hilfe auch für die zweite Tochter eine Mitgift beisammen haben wirst und wieder zu mir kommst, dann kriegst du, sag' ich dir, ein Prachtstück von einem Schwiegersohn, der so viel Geld wert ist als er wiegt ... Jetzt aber mach' Hochzeit ...!«
Und wirklich fand man mit des Rabbi Beistand für Malke einen Bräutigam aus gut bürgerlichem Hause. Die Sache wurde in größter Heimlichkeit durchgeführt. Bis zum letzten Augenblick wußte Malke nicht, warum Schneider zu ihr kamen und ihr Maß nahmen, und warum man sie noch vor Tagesanbruch weckte und nach Prag führte ...
Als sie endlich begriff, was das alles zu bedeuten habe, sprach sie auch kein Wort. Ihre junge Seele verschloß sich in ihr. Niemand ahnte, was in ihrem jungen Herzen vorging. Nach außen sah sie aus – mögen alle jüdischen Töchter so aussehen! Ein wenig zu bleich wohl und immer die Augen gesenkt. Doch zuerst nannte man's bräutliche Anmut, später meinte man, Gott habe sie nun einmal so beschaffen, und sie sei ja trotzdem eine Schönheit! Einfach bezaubernd! Und übrigens machte sie keinen Schritt ohne die Schwiegermutter, hatte gar keine Ansprüche ... Aß, was man ihr vorsetzte, trank, was man ihr reichte, kleidete sich so, wie man es wünschte. Ein reines, stilles, schönes Weib, wenn sie am Sabbat das schwarze Atlaskleid mit der goldenen Spange anzog, die Perlen um den alabasterweißen Hals legte und an ihren Ohren die Brillant-Ohrgehänge zitterten, – blieben die Frauen auf der Straße stehen, gafften ihr nach und flüsterten: Wie eine Prinzessin! Sie aber ging weiter, als meinte man gar nicht sie, und still und züchtig trat sie zugleich mit der Schwiegermutter und den Schwägerinnen ins Bethaus. Dort stellte sie sich neben die Schwiegermutter, die am Gitter ihren Platz hatte, senkte die seidenen Wimpern, öffnete mit der kleinen weißen Hand die silbernen Klammern des Goldschnitt-Gebetbuches und ihre Lippen begannen zu beben, zu beben ... Und an den Wochentagen? Des Abends?
»Wohin willst du heute spazieren gehen, Malke?«
Sie habe keinen Wunsch. Sie wolle sich nach den anderen richten. Und wenn man an einem Schaufenster, in welchem Schmuck auslag, vorbeiging und alle stehen blieben, blieb sie wohl auch stehen, aber sah sich nichts an, sondern blickte in die Luft ...
Die Leute sagten: Sie braucht keinen Schmuck, sie ist es selbst!
Namentlich ihr junger Gatte fühlte ohne sie sein Leben nicht. Er hütete sie wie das Auge im Kopfe, wie den Augapfel ...
Und so im ganzen ...
Nach außen alles gedrechselt, geschnitzt und rein, wie schönes Kristall ... Aber innen?
Innen war die Schenke mit Gesang, Tanz und Spiel ... In ihrem Herzen zwischen ihr und der Welt das Bild des jungen Grafen ... Kaum schloß sie die Augen, – sei es im Bethause am Gitter oder wenn der Sabbat zu Ende ging und sie »Gott Abrahams« sang oder wenn sie Freitag abends den Segen über die Sabbatlichter sprach – brauste das heiße Blut in ihr auf, drehte sie sich – erbarme sich Gott! – im Rad in der Schenke, tanzte sie mit dem Grafen oder ritt mit ihm selband auf weißem Roß durch Wald und Tal ... Und wenn ihr Mann sich ihr näherte, dann schloß sie die Augen und halste und küßte ... wen? Halste und küßte sie den jungen Grafen ...
Er bat sie, ihr junger Gatte, denn er liebte ihre schönen Augen:
»Mein Leben du, öffne doch deine schönen Augen, deine Tore zum Garten Eden!«
Umsonst! Sie tat es nicht. Wollte er aber einmal seinen Willen durchsetzen, nach junger Männer Weise, und rückte von ihr ab, dann hielt sie ihn in ihren Armen wie mit Zangen fest. Und wenn er darob erschrak und sich losreißen wollte, dann flehte sie mit ersterbender Stimme:
»Mein gnädiger Herr! Mein Adler!«
Da dachte er, sie habe ihn so lieb, daß sie ihren gnädigen Herrn, ihren Adler in ihm sah. »Dorfsprache«, sagte er sich. Und mag sie die Augen geschlossen halten, wenn sie sich schämt!
So gehörte Malke in den Armen ihres Gatten einem anderen Manne. Und so lebte sie Jahr um Jahr. Kinder bekam sie nicht.
So glich sie einem Apfel, der scheinbar gesund und frisch auf einem grünen Zweige an einem goldenen Apfelbaume hängt, – die Haut rötlich wie der Osten, ehe die Sonne aufgeht, und von einem frischen Hauch, wie aus dem Paradiese, überzogen, duftend, verlockend, – dessen Inneres aber vom Wurm ganz ausgehöhlt ist ...
Das gerade Gegenteil von diesem Geschick war Chiel Michels älterer Tochter, Nechume, beschieden.
Als Chiel Michel von Malkes Hochzeit aus Prag nur mit wenigen Geldstücken in der Tasche zurückkehrte und an die Grenze des Dorfes kam, sah er sein ganzes Hausgerät samt den Betten und samt den Tischen und Stühlen der Schenke auf freiem Felde liegen. Ein Bauer vom Hofe des Grafen stand als Wächter davor und versperrte ihm den Weg ins Dorf. Bald erfuhr er den Grund. Während er auf der Hochzeit getanzt hatte, war ein höherer Pachtzins angeboten und angenommen worden. Der junge Graf hatte es beim alten durchgesetzt. Und der neue Pächter saß sogar schon in der Schenke!
Chiel Michel wollte sich zunächst noch an den Grafen wenden. Während Frau und Tochter wehklagten und in Ohnmachten fielen, bat er den Wächter, mit dem er bekannt war, ihn doch wenigstens zum Grafen vorzulassen. Aber der Mann nahm nur die Büchse von der Schulter. Er werde schießen, er werde schießen müssen. Befehl des Grafen! Dabei standen ihm die Tränen in den Augen.
Da sah Chiel Michel, daß hier nichts mehr zu machen sei. Aber nach Prag konnte er auch nicht mehr zurückfahren. Dazu fehlte es ihm an Geld. Es waren ihm nach der Hochzeit nur wenige Dukaten geblieben. Auch wollte er der jungverheirateten Tochter nicht mit seiner Armut im Wege sein. So fuhr er denn zunächst mit seinen Leuten in ein anderes Dorf, noch weiter von Prag, zu einem anderen Gutsherrn, den er bat, einen Laden für Salz, Brot und andere kleine Waren eröffnen zu dürfen. Er erhielt die Erlaubnis, überließ dann das Geschäft der Frau und der Tochter, und zog selbst aus, um mit seinem früheren Gutsherrn wegen Kontraktbruchs zu prozessieren, und gegen den Mann, der ihn ausgemietet hatte, vor dem rabbinischen Gerichte sein Recht zu suchen ... Allein, die Sache ging nicht so schnell, zumal er leere Hände hatte. Jahre vergingen. Und schließlich verlor er den Prozeß gegen den Gutsherrn und mußte noch für die Gerichtskosten eine Zeitlang im Gefängnisse sitzen. In der anderen Rechtssache wieder, gegen den Ausmieter, siegte er zwar. Aber sein Gegner wollte sich dem Urteil nicht fügen. Der Rabbi, der die Kraft hatte, ihn zu zwingen, war gestorben, Prag suchte einen neuen Rabbi und konnte keinen passenden finden. Inzwischen gab es kein Recht. Gehetzt und verhungert kam Chiel Michel endlich nach Hause, fiel aufs Krankenbett und war nach einigen Wochen tot. Sein Weib überlebte ihn nicht lange. Und so blieb Nechume allein im Dorfe, allein, verlassen und in großer Not. Das Geschäft ging nicht ... Es war keine Ware drin ... Und dann ließen ihr die jungen Bauern, seit sie allein war, keine Ruhe, trieben Spaß und ärgerten sich, daß sie so unnahbar war, die jüdische Hungerleiderin ...
In ihrer Verzweiflung schrieb sie ihrer Schwester in Prag einen Brief und einen zweiten. Aber wir wissen ja, daß die Schwester in einer Traumwelt lebte. Sie las keine Briefe und so kam keine Antwort. Da stand sie, die verlassene Waise, einmal des Nachts auf, verschloß den leeren Laden und stahl sich zu Fuß aus dem Dorfe heraus. Sie vertraute sich Gottes Führung an, hoffte den Weg nach Prag zu finden. Zur Schwester! Und eine Schwester ist doch kein Stein ...
Und so geht sie denn mit einem Stück Brot in der Hand zum Dorf hinaus. Sie kommt an den Wald und hat Angst vor den wilden Tieren. Drum will sie vorerst nicht tiefer eindringen, sondern warten, bis es Tag wird. Sie klettert auf den erstbesten Baum, um in seinen Zweigen zu übernachten. Gerade spricht sie das Nachtgebet, als sie Hunde bellen und laufen hört. Und das Gebell und Laufen kommt immer näher. Es wird ihr klar, daß Edelleute im Walde jagen und sie versteckt sich noch tiefer in den Zweigen. Aber schon ist die Jagd ganz nahe und ein ganzes Rudel Hunde springt an den Baum heran und beginnt wütend zu bellen. Zwei Reiter, junge Edelleute, sprengen herbei, nach der Ursache zu sehen. Sie klettern den Baum hinauf und holen das Mädchen mit Gewalt herunter, machen Feuer und betrachten es: Eine Jüdin! Eine schöne, sehr schöne Jüdin! Nur halbverhungert. Sie werden ihr nichts Böses tun, sagen sie, denn sie leuchte in der Finsternis wie der Morgenstern ... Man brauche ihr nur andere Kleider anzuziehen und sie werde wie eine Königin strahlen, wie eine Rose duften ... Die Worte erschrecken sie. Inzwischen hört sie, wie die jungen Leute in Streit geraten. Jeder will sie für sich. Jeder behauptet, daß sein Hund sie zuerst gewittert habe ... Sie einigen sich auf einen Zweikampf. Sie soll dem gehören, der den Kugelwechsel überlebt. Schon treten sie an, überlegen sich aber noch die Sache. Besser losen. Und sie losen. Und der Gewinner zieht sie zu sich aufs Pferd und führt sie im Galopp davon, in sein Schloß ... Bewußtlos ruht sie in seinen Armen.
Als sie aber des Morgens im Schlosse des Edelmanns zu sich kam, auf seinem Schoße sich sah und seine Küsse auf sich brennen fühlte, da wußte sie, daß es keine Rettung mehr für sie gab. Und bat ihn nur:
»Ich bin in deinen Händen, gnädiger Herr ... Und du bist zu stark, als daß ich mich gegen dich zur Wehr setzen könnte. So gewähre mir nur eine Bitte, hab' mit mir Erbarmen und versprich mir nur eins: Meinen Leib hast du befleckt! Beflecke mir wenigstens die Seele nicht! Laß mich bei meinem Glauben ... bei meinen Gedanken ... Laß mich sinnen und denken, was ich will ...!«
Der Schloßherr verstand nun zwar nicht recht, was sie meinte. Aber da er sie ernstlich liebgewonnen hatte, gab er ihr das Versprechen, um das sie ihn bat ... Und was konnte es ihm auch schaden, da er ja ohnehin nicht die Absicht hatte, sie zu heiraten? Einmal brachte er ihr sogar ein Gebetbuch, das er bei einem Juden in Prag gekauft hatte. Voll Freude griff sie danach, um es aber bald wieder aus den Händen gleiten zu lassen:
»Meine Hände«, sagte sie, »sind nicht wert, das reine Buch anzufassen ...«
Der junge Edelmann schwieg verwundert.
Im übrigen führte Nechume auf dem Schlosse ein Leben, das ganz der Gegensatz des Lebens war, das ihre Schwester in Prag führte ... Wohl pflegten beide die Augen zu schließen und beide gingen fremd und verträumt daher. Doch während Malte in reinem Leibe mit der Seele sündigte, gab Nechume den Leib hin und hielt die Seele rein ...
Näherte sich ihr der Edelmann, dann schloß sie die Augen und dachte: Die Mutter küßt mich, die Mutter halst mich, lehrt mich beten, »Gott Abrahams« singen ...
Wenn er sie bat, ihn lieb zu haben ...
Ja, da liebte sie, liebte sie heiß – die Mutter. Die Mutter war es, die sie umarmte... »Noch einmal, Mameschi: Tojru ziwu luni ...« flüsterte sie, und wagte nicht, mit den sündigen Lippen die Worte zu sprechen, die tief, tief innen in ihrer Seele leuchteten ...
Alles Leben hat ein Ende, und beiden Schwestern war kein langes Leben beschieden ...
Als Malke, die jüngere, starb, kam ihre sündenbefleckte Seele wie eine schwarze Krähe aus ihrem weißen Leibe heraus und sank dann bald irgendwo zu den Qualen der Hölle hinab. Dagegen stieg die weiße, klare Seele Nechumes, sowie sie sich aus den Banden des sündigen Körpers befreit hatte, leicht und still, gleich einer Taube, zum hohen Himmel empor. Zwar hielt sie ängstlich zitternd vor dem Himmelstore inne, aber Gottes Barmherzigkeit selbst ließ sie ein, tröstete sie, trocknete ihr die Tränen aus den Augen.
Freilich die Menschen auf der Erde wußten von alledem nichts ... Die angesehene Prager Bürgersfrau hatte ein großartiges Leichenbegängnis, das eine Unsumme Geldes kostete. Man hielt ihr eine große Grabrede und bestattete sie auf einem Vorzugsplatze, unter den edelsten, sittigsten Frauen. Und am ersten Jahrestage ihres Todes wurde ein großer Grabstein, auf dem allerlei Löbliches über sie zu lesen war, auf ihr Grab gesetzt ...
Als dagegen der Schloßherr die Leiche der anderen nach Prag schickte ... da wollte keiner von denen, die den Totendienst versahen, dem sündigen Körper nahekommen, man mußte Träger zur Reinigung mieten. Und dann hüllte man die Leiche in einen alten Sack und warf sie irgendwo an der Friedhofsmauer in eine Grube ...
Des Menschen Blick streift nur die Oberfläche ...
Und später einmal, als man ein Stück des alten Prager Friedhofes zur Stadt schlug, um eine Gasse breiter zu machen, und daran ging, die Knochenreste auszugraben und nach einer neuen Ruhestätte überzuführen, – da fand der Totengräber im Grabe Nechumes an der Friedhofsmauer nur einen Schädel, vom Fleisch und den übrigen Knochen war nichts mehr da. Und als er unwillkürlich mit dem Fuße an den Schädel stieß, kollerte dieser davon, kam nicht mehr zum Vorschein ... und wurde nicht mehr begraben.
Der Totengräber aber, der das Grab Malkes öffnete, fand sie unversehrt und frisch, fast mit einem frischen Lächeln auf dem weißen Antlitz ...
»Oh, was für eine fromme Frau!« riefen die Menschen. »Die Würmer kamen ihr nicht bei...«
Denn so denken und sprechen nun einmal die Menschen, die mit ihren Blicken nur obenhin sehen und niemals wissen, was im Herzen und in der Seele vorgeht ...