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Das Ghettobuch
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David Pinski

Im Sturm.

Zur Warnung für leichtfertige junge Leute und Zweifler erzählte mir eine fromme Frau die nachfolgende Geschichte:

Am klaren Himmel zeigten sich schwarze Wolken. Zuerst waren sie weit in der Ferne, hinter dem Walde zu sehen, doch bald bedeckten sie den ganzen Himmel über dem Städtchen, vom Wind gepeitscht kamen sie in wilder Eile daher. Der Sturm wirbelte Staubwolken auf und schleuderte sie bis zu den Wolken empor; entwurzelte Bäume und riß die Dächer von den Häusern. Eine drückende Finsternis senkte sich nieder, und der Tag ward zur Nacht.

Die Menschen schlossen sich in ihren Häusern ein und verrammelten Türen und Fenster. Die Gesichter der Frommen wurden noch ernster und ihre Gemüter wurden noch mehr bedrückt. Gott grollt! Die traurigen Stimmen der Psalmbeter wurden noch inniger ...

Eine alte Frau sah vom Gebetbuche auf, blickte durch die Brille zum Fenster hin und seufzte schwer.

Eine weile saß sie so und blickte auf die Gasse hinaus. Draußen wollte es nicht heller werden. Immer neue Wolkenmassen kamen, und der Wind heulte.

Die Alte konnte die Psalmen nicht weitersagen. Sie legte die Brille in das Buch, erhob sich und ging in das Zimmer ihrer Tochter.

»Was sagst du zu ...«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, denn die Tochter war nicht im Zimmer.

Die Frau ging in die Küche und wieder ins Zimmer, aber das Mädchen war nirgends zu sehen. Der Hut lag nicht am gewöhnlichen Platze. Mit zitternden Händen öffnete die Alte den Schrank – auch die Jacke fehlte ...

Das Mädchen ist nicht zu Hause. Und die Mutter hat ihr doch ausdrücklich gesagt, daß sie wenigstens heute – am Schabbos-Tschuwoh – nicht zu jenem Abtrünnigen, jenem gewesenen Studenten gehen soll.

Das Gesicht der Alten verdüstert sich wie der Himmel draußen. Ein Zorn erwacht in ihr, und sie blickt um sich, als wollte sie jemand schlagen oder etwas zerbrechen.

»Oh, wär' sie doch nicht mehr meine Tochter«, schrie sie und erhob die Hände zum Himmel.

Sie erschrickt nicht vor dem Fluch, den sie am Schabbos-Tschuwoh ausgestoßen hat. Sie hätte am liebsten noch mehr geflucht und geschrien. Wenn sie die Tochter hier gehabt hätte, sie hätte sie geschlagen und bei den Haaren gezogen.

Rasch warf sie ein Euch über und lief in den Sturm hinaus.

Sie wird die beiden aufsuchen und ihnen ihre Meinung sagen.

Ein Blitz fuhr aus den Wolken und der Donner grollte. Dann folgte Blitz auf Blitz, Donner auf Donner ...

Die Juden im Städtchen ängstigten sich sehr und ihre Seelen waren voll Andacht.

Aber die Alte fürchtete sich nicht vor dem Gewitter. Sie hatte die Augen voll Staub und der Wind riß an ihrem Tuch und an ihrem Kleide. Sie schritt tüchtig weiter, sah und hörte nichts, und nur in ihrem Innern wühlte es.

Ihre kleine Figur schrumpfte noch mehr zusammen. Es schien, als sei sie noch schneller als der Wind. Der Wind jagte hinter ihr, und wenn er sie einholte, stieß er sie vorwärts und sie schritt noch schneller aus.

Sie erreichte die Wohnung des »Abtrünnigen«, riß die Tür auf und warf sie hinter sich zu. Die Menschen, die sich im Zimmer befanden, sprangen entsetzt von ihren Plätzen auf. Sie musterte sie mit einem wilden, feindseligen Blick und rannte in die anderen Zimmer, die Türen hinter sich zuschlagend, daß es nur so dröhnte... Und der Donner grollte unausgesetzt. Es schien fast, als habe sie mit dem Donner gewettet, wer die Fenster und Türen mehr erzittern machen werde ... Ein Knabe, der sich in einem Zimmer befand, erschrak so sehr vor ihr, daß er heftig zu weinen anfing. Und die Alte rannte von Zimmer zu Zimmer, aber sie fand hier weder ihn noch ihre Tochter.

Sie eilte aus dem Hause, aber auf der Schwelle hielt sie einen Augenblick an, hob die Hände zum Himmel empor und schrie mit heiserer Stimme:

»Verbrannt soll dieses Haus werden...!«

Dann riß sie die Tür auf, ließ sie weit offen und stürzte davon. Die Menschen im Zimmer waren sprachlos vor Überraschung.

Ein schwerer Regen, der mit Hagel gemischt war, stürzte nieder, und der Sturm peitschte den Regen, daß man keinen Schritt machen konnte. Aber die Alte lief immer weiter und suchte alle Häuser auf, in denen sie ihre Tochter mit ihrem Geliebten anzutreffen hoffte. Sie hielt sich nirgends auf, sprach nirgends ein Wort, sondern kam hereingestürzt und war im Nu wieder fort.

Sie muß sie finden! »Aber wohin nun?« fragte sie sich, als sie das letzte Haus erreicht hatte. Sie machte sich wieder auf den Heimweg, denn sie hoffte, daß sie die Tochter zu Hause antreffen werde.

Als sie nach Hause kam und die Tochter nicht vorfand, warf sie sich auf einen Stuhl und begann zu jammern.

Da ertönte ein furchtbarer Donnerschlag, daß das Haus erzitterte.

Die Menschen im Städtchen erschraken fürchterlich und blickten durch die Fenster, ob draußen nicht ein Unglück geschehen sei. Mit bebenden Lippen sagten die betenden Juden die Psalmen her.

Die alte Frau hörte aber den Donner nicht. Sie saß da und weinte jämmerlich, doch plötzlich fing sie laut zu schreien an:

»Sie soll nicht mehr lebend nach Hause kommen. Tot soll man sie mir bringen, Herr der Welt!«

Und wie zur Antwort grollte der Donner, und der Sturm blies pfeifend um das Haus.

Dann raffte sich die Alte auf und eilte noch einmal in den Sturm hinaus. Der Wind stieß sie vorwärts und bewarf sie mit Kot und Regentropfen.

Sie eilte zum Wäldchen vor der Stadt. Gewiß sind sie dort spazierengegangen, und sie wird ihnen im Wirtshaus oder sonstwo begegnen.

Auf der Dorfstraße, die ins Freie führte, hörten die Hunde ihre schnellen Schritte und begannen aus den Hütten, wohin sie sich verkrochen hatten, laut zu bellen. Aber die Alte achtete nicht darauf, sondern sah immer vor sich auf den Weg, der zum Wäldchen führte.

Im Freien wütete der Sturm noch stärker. Der Weg war mit zerbrochenen Zweigen bedeckt und auch einige entwurzelte Bäume lagen da.

Plötzlich hielt die Alte inne. Einige Schritte vor ihr lagen zwei Menschen auf der Erde, die vom Blitz getroffen waren. Die Gesichter der Toten waren kohlschwarz.

Die Frau erkannte ihre Tochter. Die Hand des Mädchens lag unter dem Arm des jungen Mannes.

Die Frau wollte einen Fluch ausstoßen. Ihre Augen leuchteten fieberhaft, und sie wollte ihrem Herzen Luft machen und laut herausschreien, daß das Mädchen dieses Ende verdient hatte. – Doch plötzlich sank ihr Kopf auf die Brust herab. Ihre Augen wurden matt und glanzlos, ein Zittern ging durch ihren Körper, und eine Müdigkeit übermannte sie, daß sie sich kaum auf den Füßen halten konnte ...

Der Donner grollte. Blitze zuckten und der Sturm heulte – aber im Innern der alten Frau war es ganz still geworden. Sie ließ sich vor der Leiche ihrer Tochter auf die Knie nieder, breitete ihre zitternden Hände über die Tote und stöhnte mit heiserer, klangloser Stimme:

»Henietschka. Mein Töchterchen ...!«


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