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Es ist am Abend vor dem Versöhnungstage in einer kleinen galizischen Stadt. Früh ging der Tag zur Neige – und nun hüllt die Dunkelheit das Städtchen in tiefes Schweigen. Die Einwohner sind fast ausschließlich Juden, die jetzt vollzählig in der Synagoge und in den vielen kleineren Bethäusern versammelt sind. Nur selten hallen vereinsamte Tritte durch die stillen Gassen ...
Die eng aneinandergereihten Häuschen ragen mit ihren ungleichmäßigen Giebeln gespensterhaft in den bewölkten Himmel hinein. Die Bäumchen, die dem Marktplatze entlang gepflanzt sind, nehmen sich im Finstern wie geballte ungeheure Fäuste an langen, hageren Armen aus – und der Wind, der sie bewegt und schüttelt, läßt sich wie eine klagende Stimme vernehmen; wie ein unterdrücktes Schluchzen, das die Schmerzen eines großen, leidenden Volkes zum Ausdruck bringt ... In der Luft liegt etwas von der Weihe des kommenden Tages. Etwas Gedrücktes und unsäglich Trauriges, das sich um das Gemüt legt – wie ein dichter Nebel. Eine tiefe Schwermut tritt an uns heran; ernste Probleme erheben sich im Hirn, und, von uns ganz Besitz ergreifend, recken und spinnen sie sich weiter fort – wir vermögen nichts dagegen zu tun ...
Es ist uns, als würde es aus allen Ecken mit Donnerstimme erschallen: »... Denn an diesem Tage wird es beschlossen und besiegelt – wer lebe, wer sterbe; ... wer sein volles Ziel erreiche und wer vor der Zeit dahingehe ... wer erniedrigt, wer erhöht werde ...«
In einem alten, im engen Schustergäßchen gelegenen Hause bewohnt der Synagogendiener Jerichim eine kleine Stube. In dem vom matten Licht einer Wachskerze erhellten Raume befinden sich jetzt nur seine beiden Kinder. Beim Tische sitzt der vierzehnjährige Isaak und betet, im Bette liegt der achtjährige Benjamin, an den Masern krank.
Isaak betet mit großer Andacht. Nur ganz leise denkt er daran, daß es ihm an diesem heiligen Tage versagt ist, bei den anderen im Bethause zu sein. Das Bewußtsein, welch hohe Mission ihm zuteil ward, da man ihm die Obhut des kranken Bruders anvertraute, verbannt dieses geheime Sehnen und sein Gebet fließt innig und heißempfunden aus seinem Herzen. Hier und da läßt er den Blick zum Kranken hingleiten, und wenn er seine Augen wieder dem Gebetbuche zuwendet, ist in ihnen eine tiefe Wehmut zu lesen ... Bei jedem Abschnitte flüstert er, den Blick zur Decke gerichtet: »Lieber Gott, heile meinen Bruder Benjamin!«
Nun ist Isaak mit dem Gebete zu Ende. Er setzt sich an das Kopfende des Krankenbettes und beginnt vor sich hinzuträumen. Das Träumen war stets seine liebste Beschäftigung, denn im stillen Winkel ging ihm seine innere Welt auf. Da vergaß er die rauhe Wirklichkeit, die ihm so viele Enttäuschungen gebracht, und gar vieles, das die große Welt nicht verstand, erwachte in ihm zu neuem Leben ... Isaak war ein Stiefkind der Gesellschaft und hatte Grund, die spöttelnden, übermütigen Menschen zu meiden. Auf seiner Schulter erhob sich ein Höcker, der seine Gestalt gekrümmt erscheinen ließ, und den rechten Fuß schleppte er nach.
Diese Gebrechen übten einen großen Einfluß auf sein Seelenleben aus, denn er war gezwungen, vereinsamt und unbeachtet seine Jugend hinzubringen. Keinem seiner Altersgenossen fiel es je ein, mit ihm Freundschaft zu schließen.
Als Kind mußte er als stummer Zuschauer auf den Spielplätzen stehen, und als er älter wurde und ins Cheder kam, war es um nichts besser. So wuchs denn Isaak einsam und verlassen auf, bemitleidet von den wenigen guten Menschen, verhöhnt und zurückgestoßen von den schlechten und boshaften ... Auch seine Eltern waren gegen ihn nicht besser als alle anderen.
Isaak durchschaute sie ganz. Fr fühlte es deutlich, daß er nur gelitten wurde und daß sein Tod ihnen gar keinen Schmerz, wohl aber Erleichterung bringen würde.
Isaak erfuhr nichts von Mutterliebe und elterlicher Fürsorge; die kleinen Aufmerksamkeiten und Liebkosungen, die das Band der Liebe zwischen Eltern und Kindern bilden, blieben ihm fremd. In seiner Zurückgezogenheit lernte Isaak jedoch klar denken. Den geschärften Sinnen prägte sich jede Kleinigkeit ein und allen Kindern seines Alters war er an klarer Auffassung voraus.
Die anderen Kinder wollten nichts von ihm wissen – und was konnte er ihnen auch bieten! Sein Innenleben vermochte er ihnen nicht zu erschließen.
Sie sahen bloß seine häßliche Gestalt ...
Doch nur äußerlich ging Isaak gedrückt und traurig umher. In seinem Innern glühte und jubelte es. In jedes äußere Ereignis legte er seine Heimlichkeiten hinein und ging darüber hinweg zur innerlichen Veranschaulichung.
Je tiefer er in der Wirklichkeit sank, desto höher erhob er sich in seinen Träumen ... Seine gewaltige Einbildungskraft hob ihn über die Tatsachen hinweg zu einem erträumten Glück, und Isaak wärmte sich an dieser falschen Sonne des Scheins, wenn ihn auch hier und da ein Frösteln an die kalten, bitteren Wintertage des wirklichen Lebens gemahnte ... Ihm aber genügte die erträumte Seligkeit. Wenn er auch durch Nacht und Sturm dahinkeuchte –; vor seinen geistigen Blicken erschien das lachende Morgenrot des Zieles.
Mit verhängten Zügeln ritt er in tiefer Finsternis dahin. In seinen Sinnen aber waren alle Gefahren und Entbehrungen schon überwunden und er empfand im voraus die heitere Wärme und Befriedigung des Siegers ...
Auf dem Dachboden war sein geheimes Reich. Unter allerhand Gerümpel hatte er sich dort ein Plätzchen zum Träumen ausgesucht und allen Gegenständen hauchte er seine Seele ein. Dort saß er mit geschlossenen Augen auf einer Tonne – das war der Thron – und regierte sein Land ... Er schwelgte in sonderbaren Ausmalungen. – Eine alte Wiege, die bei der kleinsten Bewegung jämmerlich ächzte, war die Staatskarosse und eine Menge Flaschen, die er in Reihe und Glied aufstellte, bildeten sein Heer.
Wenn er mit den Füßen auf den Boden schlug, klirrten und klangen die Flaschen aneinander: das waren die Einzelgefechte. Auch der Kanonendonner durfte nicht fehlen. In der Hitze des Gefechts warf der Träumer eine Kiste um, daß es nur so dröhnte ...
Einmal wähnte sich Isaak Simson zu sein, der gegen die Philister kämpfte ... Er schlug den Feind in die Flucht und durchstreifte dann als Sieger stolz und majestätisch den Kampfplatz ... Ein anderes Mal wieder war er Josua, der gegen die Kanaaniter auszog ... Auch dort triumphierte er; unter Posaunengeschmetter brach er mit seinen Getreuen in Jericho ein und eroberte die Stadt.
Jeder Wochenabschnitt brachte ihm neuen Stoff zum Träumen. Las er von der Wanderung der Juden durch die Wüste, so ließ er im einsamen Winkel alle Einzelheiten noch einmal in seinem Geiste vorbeiziehen. Sich selbst aber sah er stets als Führer in der ersten Reihe. Las er vom Auszug der Juden aus Ägypten, so malte er sich jede Begebenheit klar und deutlich aus und lebte sich in eine Zeit, die Tausende von Jahren hinter ihm lag, hinein.
Als Isaak älter wurde, nahmen seine Träume realere Grundformen an, aber phantastisch blieben sie dennoch. Das lag in seiner Natur. Isaak lebte nur in den heiligen Büchern. Da erschloß sich ihm das Leben der Vergangenheit, was war das doch für eine glorreiche Zeit, als sich noch Gott seinem Volke offenbarte und als die großen Wunder geschahen ...
Wie schal und öde sah die Welt aus, in der er zu leben gezwungen war! Wo er nur hinblickte, begegnete ihm Armut und Elend und schmutzige Alltäglichkeit.
Und was waren das für Menschen um ihn! Kalt und trocken, ohne Ziel und Ideale, gingen sie durchs Leben; gedrückt und müde, wie unter einer schweren Last gebeugt Es war zum verzweifeln! Tiefe Traurigkeit bemächtigte sich Isaaks, so oft er über all dies nachdachte ...
Als Isaak zwölf Jahre zählte, traf ihn ein Schlag, den er nicht so leicht überwinden konnte. Seine Eltern rissen ihn aus dem Cheder und gaben ihn in die Zündhölzchenfabrik. Isaak war außer sich ... Die Nächte hindurch lag er schlaflos auf seinem Lager und weinte sich die Augen rot. Das große Sehnen mit den überirdischen Schwingen verflog und von nun ab war nur das Cheder der Zielpunkt all seiner Wünsche. – Dort hatte er es so gut gehabt! Den ganzen Tag über saß er in der warmen Stube mit den anderen Jungen und lernte. Und in seiner Phantasie regten sich liebe Bilder in bunter Reihenfolge, die ihm das Dasein erträglich machten.
Und nun sollte er sich von früh bis abends in dumpfen, gesundheitsschädlichen Sälen bei einer so gefährlichen Arbeit aufhalten! Aber was halfen alle Bitten und Beweise? Er mußte in die Fabrik und alle seine Wünsche zerflossen und zerrannen.
Diesen Schritt konnte er seinen Eltern nicht verzeihen. Noch ein Umstand trug zu seiner Verbitterung bei. Die Liebe, die seine Eltern ihm entzogen, übertrugen sie auf den jüngeren Bruder Benjamin. Dieser wurde verzärtelt und gehätschelt. Stundenlang saßen sie oft beisammen und träumten von Benjamins Zukunft.
Der Vater sah ihn als Leuchte des Judentums vor sich ... »Er wird einmal hinausragen über alle Menschen und sein Name wird bei den Juden hochgepriesen sein, denn ihm ist es beschieden, ein Streiter für das Recht seines unterdrückten Volkes zu werden ...« So sprach der Vater des öfteren.
Die Mutter hatte mit ihm andere Pläne. Sie sah ihn als reichen Kaufherrn vor sich, groß und erwachsen, und alle Frauen des Städtchens beneideten sie um ihren Sohn ... Aber beide waren sich darüber einig, daß er unbedingt »etwas Großes« werden müsse.
Isaak mußte oft stundenlang diesen Hirngespinsten zuhören, und da bemächtigte sich seiner ein Zorn. »Alles, alles für Benjamin«, murmelte er vor sich hin, »für mich nichts ...« Wenn Isaak des Abends von der Fabrik müde und hungrig nach Hause kam, ließ man ihn stundenlang ohne Abendbrot und er mußte zusehen, wie man Benjamin mit den ausgesuchtesten Speisen fütterte ...
Auch in der Fabrik häuften sich für ihn Unannehmlichkeiten von Tag zu Tag. Er war übervoll und hatte niemand, dem er sein Leid klagen konnte.
Da begann Isaak alle Menschen zu hassen; auch seine Eltern und Benjamin verwünschte er aus tiefster Seele.
Er bat Gott, daß er seine Blitze schicken möge, um das Städtchen zu vernichten, wie er es mit Sodom und Gomorra getan ...
Jahr um Jahr ging so dahin. – Isaak wurde älter und klüger. Seine Entwicklung ging rapid vor sich. Es war nicht das langsam emporkeimende, mit jedem Tage sich entwickelnde Verständnis. Seine Reife glich einem kleinen Gebirgsflusse, der, durch Wolkenbrüche und Gewitter in den Bergen mit einem Male anschwellend, sein schmales Bett überschwemmt und sich weithin ausdehnt, was ihm im Wege steht verheerend und mitreißend ... Allmählich jedoch lernte es Isaak, sich in sein Schicksal zu fügen ... Er empörte sich gegen nichts mehr und wurde still und traurig.
Wenn der Samstag kam, lebte er wieder auf, denn da war er frei. Am Nachmittag konnte er im Beth-Ha-Midrasch sitzen und sich mit den heiligen Büchern befassen. Isaak wurde ein anderer und fand Trost im Entsagen. Er begann seine Eltern zu bemitleiden und mit der Zeit lernte er es, sie wieder zu lieben ... Auch seine Träume wurden anders. Sie zeichneten sich durch einen lebenswahren Zug aus.
Er malte es sich aus, wie er gerade Glieder hatte und ihm der Vater einen seidenen Kaftan und einen Samthut kaufte. Er war der schönste Jüngling der Stadt, dem alle Mädchen nachliefen, und verlobte sich mit der schönen Rahel, deren Vater der reichste Mann des Städtchens war ... An einem mondhellen Ssmmerabend gingen sie zur Vermählung. Alle Mädchen der Stadt jammerten, denn jede von ihnen wollte ihn zum Manne haben ... Zu anderer Zeit träumte er davon, einen großen Geldbetrag gefunden zu haben.
Seine Eltern baten ihn um Verzeihung für alles Ungemach, das er durch sie erlitten hatte und versprachen ihm, ihn nunmehr wie Benjamin zu lieben ... Und er ließ sich erweichen, gab ihnen das ganze Geld und ein neues Leben begann für die Familie ... Am Markte besaßen sie ein großes Haus und lebten glücklich und ohne Sorgen. Der Vater konnte den ganzen Tag in der warmen Stube sitzen und die Mutter hatte es nicht mehr nötig, zu fremden Leuten waschen und kochen zu gehen ... Aller Groll gegen den jüngeren Bruder war verflogen. Isaak träumte jetzt auch für ihn ...
In seiner Phantasie erhoben sich die kühnsten Projekte und Hoffnungen für Benjamin. Ja! Unzweifelhaft wollte es Gott, daß dieser sein Ziel erreichte, dachte Isaak. Er ist schön und die Eltern lieben ihn ... Für Benjamins Zukunft wollten sie ja jedes Opfer bringen.
Und Isaak beschloß, den Eltern dabei zu helfen. Alle seine Wünsche übertrug er auf den Bruder. Sich sah er in seinen Träumen nur als dessen Sklaven und Untergebenen ... Nicht er, sondern Benjamin marschierte von nun ab als Held und Sieger durch seine innere Welt ... Er sah ihn groß und gewaltig in seiner Phantasie; wie er alle Schwierigkeiten überwand und triumphierend siegesstolz einherschritt. Er gab ihm die Namen aller Tapferen und Heiligen, von denen die Heilige Schrift zu erzählen weiß, und war glücklich in diesen Auslegungen, denn das Hoffen hielt ihn aufrecht und verbannte die Traurigkeit ...
So waren die Verhältnisse beschaffen, als diese böse Krankheit plötzlich und unerwartet kam und sich gerade Benjamin aussuchte ... Wochenlang dauerte es ungeschwächt fort und von Tag zu Tag verschlimmerte es sich nur ... Es kam ein trauriges Erwachen für Jerichim und sein Weib. Die Luftschlösser sanken in die Tiefe und sie sahen wieder die Welt wie sie war.
Anfangs konnten sie es gar nicht fassen, daß Gott Benjamin verlassen werde, aber als es immer ärger wurde, kam die Verzweiflung und ließ sie klar erkennen.
Isaak betete zu Gott und verzagte nicht, wenn auch der Vater mit verstörter Miene umherging und die Mutter still vor sich hinweinte.
Er wußte bei sich, daß Benjamin nicht sterben darf, da große Aufgaben seiner harren ...
Auf der Gasse regte es sich und viele Stimmen drangen an Isaaks Ohr ... Er erwachte aus dem Hinbrüten, in dem er seine jungen Jahre durchlaufen, und näherte sich dem Fenster ... Aus den Bethäusern kamen die Leute. Bald verschlang sie die Dunkelheit und Isaak vernahm nur das Hallen der Tritte, das mit jeder Sekunde schwächer wurde, bis es ganz verstummte ... Benjamin erwachte plötzlich, setzte sich verschlafen auf und verlangte zu trinken. Isaak setzte ihm das Glas an die Lippen und Benjamin trank gierig daraus. Dann fiel er in die Rissen zurück.
Isaak stand eine Weile da und blickte traurig auf den kranken Bruder. Dann näherte er sich dem Tisch, schlug die Bibel auf und begann halblaut zu lesen. Er nahm sich vor, nicht einzuschlafen, denn er war sich seiner Verantwortung wohl bewußt. Die Mutter, die seit einer Woche ununterbrochen beim Krankenbett wachte, war vor Schwäche und Kummer am Vorabend zusammengefallen und mußte zu ihrer Schwester gebracht werden, und der Vater blieb die ganze Nacht in der Synagoge.
Der Knabe las von der Opferung Isaaks; er pries das Gottesvertrauen Abrahams und die Weisheit des Allmächtigen. Dann las Isaak von dem Traum Jakobs. Er legte den Kopf auf das Buch und bildete sich ein, Jakob zu sein, der auf den harten Steinen ruhte ...
Er sah die Himmelsleiter und die vielen, vielen Engel, die auf und nieder stiegen. Sie kamen nahe bei ihm vorbei. Isaak konnte nach ihnen greifen ... Stundenlang saß er so in wachem Hinträumen und kämpfte gegen den Schlaf – aber vergebens. So oft er ihn auch verscheuchte – er kam wieder, und zwar in voller Rüstung; mit allen Künsten und Mitteln, die ihren Zweck nicht verfehlen – und endlich gelang es ihm, den widerstrebenden Knaben mit sich fortzuziehen in sein fernes, geheimnisvolles Reich.
Isaak befand sich ganz allein in der Synagoge. Es war ein sonniger Morgen und im weiten Raume herrschte eine überirdische Helle. Da öffnete sich die Bundeslade ganz von selbst und ein Mann mit einem langen, wallenden Bart entstieg derselben. Langsam und sinnend kam er auf Isaak zu, blieb einige Sekunden schweigend vor ihm stehen und sprach dann leise: »Komm!«
Isaak folgte ihm, denn er wußte, daß der Mann Moses war.
Schweigend schritten sie nebeneinander durch das Städtchen. Isaak hatte gerade Glieder und bewegte sich fast hüpfend. Am Markte herrschte ein reges Treiben, Jetzt sollen sie mich nur ansehen, und sie werden es bereuen, mich einst verspottet zu haben, dachte Isaak, Gott hat meine Gebete erhört und jetzt wird es anders werden ...
Wo ihn nur Moses hinführt? ging es weiter durch seinen Sinn. Vielleicht in den Himmel zu Gott ...? Ob er dann wohl wieder in das Städtchen kommen wird zu seinen Eltern und Benjamin ...! Ja, was war das nur mit Benjamin! – Der lag doch schwer krank ... was wohl aus ihm wird? Oh, er wird Gott kniefällig um seine Genesung anflehen ... Nur das eine war ihm nicht ganz klar: »Warum läßt Gott mich und nicht Benjamin zu sich kommen ...« Zu seiner Verwunderung beachtete sie niemand von den vielen Menschen, die ihnen begegneten.
Bald lag das Städtchen hinter ihnen. Sie schritten rüstig vorwärts. Über weite, duftende wiesen, voll buntfarbiger Blumen, durch Dörfer kamen sie, bis ins Gebirge. Der Tag wollte gar nicht schwinden; immer war es sonnig und hell und doch fühlte Isaak, daß sie schon lange, lange Tage einherschritten ... Nach vielem Steigen erreichten sie den Gipfel des Berges. Er war ganz in Wolken gehüllt; von der Welt war nichts mehr zu sehen, sie war wo unten, weit – weit ...
Nun machten sie halt. Moses nahm Isaaks beide Hände in die seinigen, drückte sie an sein Herz und küßte Isaak auf die Stirn ... Hierauf kniete er nieder, und die Erde küssend, sagte er einige Male einen Spruch vor sich her. Da erdröhnte der Erdboden.
Isaak vernahm ein Krachen unter sich, gleich dem Donner ... Der Berg spaltete sich und eine große Kluft tat sich auf ... Isaak trat bis an den Rand derselben, und was sich dort seinen Blicken darbot, versetzte ihn in helles Entzücken ... Still und friedlich, in güldenes Licht gehüllt, lag eine geheime Welt, tief, tief unten ... Und die Menschen wissen nichts davon, sagte sich Isaak. Wie gebärden sie sich doch allwissend; dabei sind sie aber nur töricht und stolz ... Sie wissen nichts von der Allmacht Gottes und meinen, daß der Ewige nur ihre Erde geschaffen hat ... Aber er ahnte in seinen Träumen gar vieles, vielleicht gab es noch Millionen anderer Welten; alle prächtiger und schöner als die, die er bis nun bewohnte ... Und nun hielt ihn Gott für würdig, ihm seine Geheimnisse zu offenbaren.
Moses nahm Isaak bei der Hand, und stehenden Fußes, wie von unsichtbaren Fittichen getragen, schwebten sie den Berg hinab. – Sie kamen durch Städte voll fabelhafter Pracht, über allen lag eine Sabbatruhe und ein süßer Friede. Soweit das Auge reichte, zogen sich glänzende Paläste aus Gold und Edelsteinen hin. Zwischen den einzelnen Städten befanden sich weite Gärten voll der seltensten Früchte. Auf der Straße lag köstliches Manna, das stets so schmeckte, wie man es gerade verlangte ... Nach langem Umherwandern langten sie in einer Stadt an, die die größte und herrlichste von allen war ... Isaak schien alles wohlbekannt, als ob er es bereits in einer anderen Welt gesehen hätte. – Er wußte auch, wo er sich befand. Das war das Reich, in das der Messias die Juden hinführen wird ... Es bestand schon, seitdem die Welt erschaffen wurde, aber Gott beschloß, daß es sein Volk erst nach langer, vieltausendjähriger Prüfung betreten sollte ... Und diese große Stadt war Jerusalem; genau so hatte sie sich Isaak vorgestellt.
Auf den Straßen befanden sich viele Brünnlein aus Marmor, die seltene Weine enthielten. Auf allen Wegen standen Palmen und Olivenbäume. In der Mitte der Stadt erhob sich der neue Tempel ... Ganz aus Gold und Diamanten stand er groß und gewaltig im lachenden Sonnenschein und drinnen sangen die Engel so wunderlich. Dazwischen klangen Harfen- und Orgeltöne und erfüllten die Luft mit weichen, beseligenden Melodien.
Isaak wurde es so heiß ums Herz. Er warf sich nieder, küßte die heilige Erde und pries die Größe Gottes. Als er sich erhob, sah er Moses zum Himmel emporschweben, und dieser rief ihm zu: »Höre, Isaak! Gott will es, daß dein Bruder Benjamin die Juden hierherführe ... Lange genug hat der Allmächtige gezögert, aber nun ist es an der Zeit. Aber du, Isaak, mußt für Benjamin sterben. – Dann wird er groß und stark werden, und sein sicherer Arm wird siegreich alle Feinde Israels zu Boden strecken ... stirb du seinen Tod ... Alle werden dich preisen und lieben ... Denke an dein armes Volk!« – Darauf verschwand Moses. Ein schwerer Nebel kam und verhüllte alles.
Nach stundenlangem Wandern trat er endlich aus der Dunkelheit und sah vor sich eine weite Lichtung im schönsten Morgenrot. Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen. Alle Bäume des Waldes waren mit weißen und rosigen Blüten bedeckt. Die Luft war durchwogt von Duft und Sonnenschein. Das junge Gras war weich und dicht. Isaak warf sich auf den Rasen und blickte zum Himmel empor, der in Purpur und Gold erglänzte, von den Bäumen sangen viele Vögel gar wunderliche Lieder. Sie riefen in Isaak längstverhallte Erinnerungen wach. Er summte vor sich Wiegenliedchen hin, die ihm seit seiner Kindheit bekannt waren. Ihm war es, als würden die Vögel mit ihm singen. – Die Klänge schmolzen zusammen zu einem großen hehren Liebe, das ihm die Tränen in die Augen preßte. Es lag ein so drängendes Sehnen nach Befreiung und Seligkeit in diesem Sang. Es zitterte und seufzte von Jammer und Elend, Not und Sorge darinnen.
Isaak mußte plötzlich an sein armes Volk denken und an seine Eltern ... Dann erinnerte er sich seines kranken Bruders, für den er hinsterben mußte, und er wollte zu ihm ... Es bemächtigte sich seiner eine tiefe Traurigkeit, und er begann bitterlich zu weinen. Da verstummten die Vögel und finstere Nebel legten sich um die Sonne ... Es herrschte tiefe Stille. Aus weiter Ferne jedoch vernahm Isaak eine Stimme, die also sprach: »Wisse, Isaak, daß du der Sohn Abrahams und der Vater Jakobs bist. Gott wollte, daß du wieder auf die Erde steigst, um zu sehen, wie es den Juden ergeht und ob es Zeit ist, daß sie der Messias in ihr Land führe ... Darum schlug er dich auch mit Vergessenheit, daß du wie die anderen leidest ... Nun aber kehre in den Himmel zurück, stirb für Benjamin, denn er ist der Messias, den Gott entsandt hatte.«
Tiefe Stille trat nach diesen Worten ein. Isaak warf sich auf die Knie und schrie laut, daß es weithin vernehmbar war: »Ja, ich will tun, was mir Gott geheißen ...«
Isaak erwachte. Erschrocken sprang er auf und blickte um sich; es war ihm schwer, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden ... Betäubt rannte er durch die Stube. In seinem Hirn hämmerte es unablässig. Er erhitzte sich, jagte wie besessen herum und wußte sich keinen Rat ...
In seiner Phantasie lebte er seinen Traum noch einmal durch und versuchte es, sich jede Einzelheit desselben zu deuten ... Aber er konnte zu keinem Resultate gelangen. Er hielt es in der Stube nicht länger aus und rannte auf die Gasse. Die frische Luft tat ihm wohl. Regen war gefallen. Der Himmel war unbewölkt und ganz mit Sternen übersät. Fast taghell lagen die Gassen da ...
Isaak geht langsam in die schweigsame Nacht hinein und viele Gedanken sind mit ihm. Beim Flusse hält er dann. Die Fluten ziehen wie ein träger Strom geschmolzenen Silbers oder wie ein flüssiger Kristall, denn sie sind ganz durchsichtig und in ihrem Grunde ruht ein zweiter Himmel in großer Sternenherrlichkeit. Hier hat er oft gestanden und geträumt von unerhörten Märchenseligkeiten – damals, als er noch für sich träumen durfte.
Nun war er lange schon hier und alle Gewalten seines Wesens waren wach geworden, wie er sich für Benjamin zum Opfer bringen sollte. Endlich aber nahm sein Wille Gestalt an und er wußte: dem Tode, der meinen Bruder bedroht, dem Dunklen und Gewaltigen, biete ich mein armes Leben an, damit er von dem Erwählten Gottes ablasse, damit uns der Erlöser lebe! Gott will es, Gottes Werkzeug bin ich! Er dachte der Mutter, die am vergangenen Sabbat in die Synagoge gekommen war, glühend vor Angst und Liebe zu ihrem Kinde, die vor der offenen Bundeslade den Herrn um Benjamins Genesung gebeten. – Wie ein gewaltiger Willensstrom schien der Mutter Begehren dem seinen sich zu verbinden und er wurde stark und wußte, was ihm zu tun geboten war.
Isaak ging nach Hause. Das Städtchen ist schlafen gegangen und liegt nun tief in Ruhe versunken wie ein müdgespieltes Kind. Am Marktplatz hört man den Fluß rauschen und Isaak ist es, als wollten die Wellen ihm nacheilen, ihn einholen. Unwillkürlich geht er rascher. Da, ein Kinderweinen, vom Winde hergetragene kurze, abgerissene Laute. – Und nun nichts mehr.
Eine wunderliche Verschollenheit weht um das alte ruthenische Kloster, das Gemeindehaus mit seinem niederen Turm taucht traumhaft auf. Auf der anderen Seite des Marktplatzes steht die Synagoge mit den hellerleuchteten Bogenfenstern und weiterhin dehnen sich die armseligen, baufälligen Judenhäuser. Und da drinnen dämmert nun ein tot elend gehetztes Volk ein paar Stunden hin, fährt gepeinigt aus dem Schlafe auf und sinkt seufzend wieder zurück. Bis der Morgen da ist, strahlend und unbarmherzig, um die große Fülle seiner Leiden zu beleuchten.
Vor dem Bette des Bruders stand Isaak und betrachtete ihn, während ein Sturm von Gefühlen sein armes, mißhandeltes Herz erschütterte.
Liebe und Heldentum und der ganze Jammer seines mißgestalteten, liebelosen Daseins und dann die Angst vor dem großen Vorhaben, die arme, kindliche Angst, die ihn schüttelte und seinen Hals mit der Bitterkeit, verhaltener Tränen füllte. – Ganz ausdrücklich hatte der Arzt gewarnt vor der großen Ansteckungsgefahr, vor dem Atem und der Körpernähe des Kranken. Dies erwog Isaak und das gab ihm die Sicherheit des Gelingens, und er kleidete sich aus und schlüpfte zu dem kranken Bruder unter die Decke, bettete sich still und eng neben ihm. Der schrie erst ungestüm auf, fiel dann aber wieder in tiefen Schlaf, sich dicht und begierig an den kühlen, gesunden Körper Isaaks schmiegend. Schließlich schlummerten beide. Isaak sah träumend die Wunderherrlickkeiten des kommenden Messias. Hoch zu Roß, im Purpurmantel, mit einer goldenen Krone auf dem Haupte, erschien ihm Benjamin an der Spitze seines Volkes ... Der zarte überreizte Körper vermochte die nahe Gefahr nicht zu überwinden, und Fröste und Fieber sagten dem Erwachenden, daß ihn der erbetene Gast wirklich heimgesucht.
Wahrhaftig, das war eine schwere Zeit für den armen Synagogendiener Jerichim. Statt des einen nun beide Knaben krank! Isaak hatte man in das zweite, noch vorhandene Bett gebracht und die Eltern streckten sich des Nachts auf den Dielen aus. Schlaflos waren ihre Nächte ja ohnedies. Zwei kranke Kinder – welche Qual und Sorgen, und wie lange währten diese Nächte! Zuweilen tobten beide Kranke im Fieber. – In lichten Stunden lag der kleine Isaak still und glücklich da mit seinem Geheimnis, ganz erfüllt von der Süßigkeit des Opfertodes, den er herbeisehnte wie einen zärtlichen Freund.
Aber dann kamen diese Fieberträume, wüst und verworren, und gaukelten ihm Ungeheuerlichkeiten vor. Er verlor alle vernünftigen Begriffe und sagte die unsinnigsten Dinge vor sich her – wie im Wahnsinn ... Und nie, nie hatte Isaak es so gut gehabt. In der Angst des Verlustes waren die Eltern so liebevoll zu ihm, wie früher niemals, sie waren nicht anders als zu Benjamin, sorgsam und freundlich. Und sie beteten gleich stürmisch um beider Leben und hofften gleich für beide. Das fühlte der Knabe und ein wundervoller, goldener Reichtum füllte sein Herz, denn er war glückselig in das Reich der Liebe eingegangen ...
Wunderlich und den Menschen oft unverständlich sind die Wege des Allmächtigen, sagten sich die armen Eltern. Gott wird ein Wunder tun und die beiden Kinder wieder gesund machen. Aber es geschah kein Wunder – der Tod stand auf der Lauer und ließ nicht nach ... Eines Morgens erwachte der kleine Isaak zu hellem Bewußtsein, und alles war ihm klarer als je zuvor im Leben. Es war lichter, warmer Herbst und goldig warm auch in der dürftigen Krankenstube des Judenstädtchens. Stumm und von unendlicher Liebe bewegt, streichelten die Eltern seine Hände, in ihren feuchten Augen las er die süßesten Schmeichelnamen. Benjamin aber spielte schon frisch und ausgelassen in der Stube herum ...
Neben dem Bette stand der milde Freund, den er gerufen, und winkte, ihm zu folgen. – Um die Mittagsstunde entglitt die Seele des kleinen Helden still und friedsam dem unholden Leben – ganz ohne Kampf.