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Als die Morgenröte anbrach und Wolken und Meer, Felsen und Bäume mit ihrem Rosenschimmer erhellte, erwachte Eustachius. Sein großer Verlust, das Schicksal seiner Kinder und ihrer geliebten Mutter war sein erster Gedanke. Die erfreuenden Träume mußten der traurigen Wirklichkeit weichen. Allein er erhob Augen, Hände und Herz zum Himmel und empfahl sich und alles, was sein Herz beschwerte, der treuen Vatersorge Gottes. Die Sonne ging jetzt herrlich auf und erleuchtete Himmel und Erde mit ihrem allerfreuenden Lichte. »Gestern,« sprach Eustachius, »ging sie zwischen Duft und Nebel trüb und blutrot unter, und heute geht sie mit all ihrem Glanze in erneuerter Herrlichkeit wieder auf! Sei es denn, daß unsere geliebten Freunde, die uns der Tod oder sonst ein widriges Schicksal raubte, für uns gleich der Sonne untergehen – daß wir sie in diesem Erdenleben nicht mehr erblicken und eine finstere, lange Nacht zwischen uns und ihnen liegt – es kommt einst der Morgen, da wir sie, gleich einer aufgehenden Sonne, in Glanz und Herrlichkeit wiedersehen werden.«
Eustachius richtete nun all sein Sinnen und Trachten darauf, sobald als möglich jene Seestadt zu erreichen, wohin die Landung jenes Schiffes bestimmt war, und wo er seine Gemahlin zu finden und sie unter dem Beistande der Obrigkeit aus den Händen jenes gottlosen Räubers zu erretten hoffte. Unverzüglich machte er sich auf den Weg. Er wanderte beständig auf dem kiesigen Grunde zwischen dem Meere und den hohen Felsen hin und mußte unsägliche Mühseligkeiten ausstehen. Die Hitze der Sonne war beinahe erdrückend. Einige Austern, die er am Meere fand, füllten seinen Hunger; der reichliche Tau, der sich zwischen den breiten, faltigen Blättern einiger Gewächse jenes Landes sammelt, löschte seinen Durst. So legte er eine Tagreise zurück. Allein die Felsen, die er bisher immer zur Seite hatte, erstreckten sich nunmehr weit hinein in das Meer. Er konnte nicht mehr weiter; seitwärts aber öffnete sich eine Schlucht, die in das Gebirge führte. Er ging hinein und kam in eine noch furchtbarere Wildnis. Nirgends erblickte er eine Spur von Menschen; nur die Fußstapfen wilder Tiere bemerkte er im Sande. Er kletterte, da es bereits Nacht war, auf einen steilen Felsen und übernachtete in einer Felsenkluft, um nicht im Schlafe von wilden Tieren zerrissen zu werden. Mit Anbruch des Tages setzte er seinen Weg weiter fort. Die Wildnis wurde immer schauerlicher. Die Sonne neigte sich bereits zum Untergange, und noch immer fand er keinen Ausweg. Etwas Wasser aus einer fast versiegten Quelle und einige herbe Beeren der Wildnis waren seine einzige Labung. Er glaubte schon in diesem wüsten Gebirge verschmachten zu müssen – da bemerkte er einen schmalen, wenig betretenen Fußsteig. Nachdem er eine Weile darauf fortgegangen war, öffnete sich zwischen den kahlen Bergen die Aussicht in ein Tal. Nach einigen Schritten erblickte er mit Freude hohe, schattenreiche Bäume von saftreichem, dunkelgrünem Laube, dann das schönste Wiesengrün, das von reichlichen Blumen hellgelb und purpurrot gestreift war, dann wohlgebaute, reiche Kornfelder, und endlich ein ganzes, sehr freundliches Dorf, dessen Dächer aus einem Walde von Fruchtbäumen hervorschauten. Das Tal, von der untergehenden Sonne beleuchtet, hätte kaum schöner und lieblicher sein können.
Eustachius dankte Gott, der ihn wieder menschliche Wohnungen und bebautes Land erblicken ließ, stieg freudig den Felsenpfad hinab und erreichte das Dorf. Vor einem der ersten Häuser, an denen er vorbeikam, saß ein alter Mann, der sich der untergehenden Sonne zu freuen schien. Zu seinen Füßen spielten ein paar liebliche Kinder, die wohl seine Enkel waren. Eustachius ging zu ihm hin und sprach: »Lieber alter Vater! Wäre in diesem Dorfe für einen Fremden wohl eine Nachtherberge zu finden?«
»O jawohl,« antwortete der Greis, »warum denn das nicht? Und, wenn du, lieber Mann, mir eine recht große Freude machen willst, so bleibe unter meinem Dache über Nacht. Was ich habe, ist wenig; doch gebe ich es mit Freuden.«
Eustachius nahm das Anerbieten mit Freuden an und ging mit in das Haus. Der Mann brachte Brot, Obst und Wein. »Hier,« sagte er, »sind einige Erfrischungen, bis meine Tochter von ihrer Feldarbeit nach Hause kommt und das Nachtessen bereitet. Erquicke dich, und der Herr segne es dir!« An diesen Worten erkannte Eustachius mit unbeschreiblicher Freude, der gute Greis sei ein Christ.
»Gott sei gelobt,« sprach er, »der meine Schritte hierher leitete; denn sieh, auch ich glaube an Christus den Herrn, unsern göttlichen Erlöser.«
Der Greis hatte eine ebenso große Freude, in seinem Gaste einen Christen zu erkennen. Es war ihnen beiden, da sie als Christen inmitten roher und grausamer Heiden leben mußten, in diesem Augenblicke nicht anders zumute, als zwei leiblichen Brüdern, die in einem fremden Weltteile und unter einem feindlichen Volke einander unvermutet finden und wiedererkennen. Beide, Eustachius und der alte Landmann, der Klemens hieß, umarmten einander mit inniger, wahrhaft brüderlicher Liebe. Der eine Glaube, die eine Hoffnung, die eine himmlische Liebe, diese Verwandtschaft der Geister ging ihnen über alle Blutsverwandtschaft. Sie fühlten zueinander ein so großes Zutrauen, als hätten sie schon zehn Jahre lang miteinander gelebt.
Jetzt kam die Tochter des Greises mit ihrem Manne von der Feldarbeit nach Hause. »Seht,« sprach der freundliche Greis zu ihnen, »in diesem lieben Gaste hat uns der Herr einen seiner Jünger und Freunde zugeführt!« Beide hatten die herzlichste Freude und begrüßten ihn auf das freundlichste. Eustachius erzählte nunmehr, wie er wegen seines Glaubens an Christus aus seiner Heimat vertrieben worden, und wie böse Menschen und wilde Tiere ihm Frau und Kinder geraubt hatten. Alle hörten ihm mit großer Teilnahme zu; die junge Hausfrau vergoß viele Tränen; der fromme Greis aber sprach am Ende: »Sei getrost! Jene Träume, mit denen Gott in der Nacht nach dem Verlust deiner Kinder dich tröstete, scheinen mir nicht ohne Bedeutung. Du hast die guten Knaben doch nicht von den Raubtieren zerreißen sehen; vielleicht wurden sie noch gerettet.«
»Wie wäre das möglich!« rief Eustachius.
»Bei Gott ist kein Ding unmöglich,« sprach der Greis; »wir dürfen seiner Allmacht keine Grenzen setzen. Wenn indes jene Träume nur auf die künftige Welt deuten sollten, und wenn deine Kinder auch wirklich für diese Welt tot sind – so leben sie nunmehr als holde Engel an Gottes Thron, und dort wirst du sie gewiß wiedersehen! Was aber deine Gemahlin betrifft, so wird Gott sie schützen. Ja, es ist große Hoffnung, daß du sie in Ägypten wiederfinden und der Gewalt des gottlosen Heiden entreißen werdest. Wenn ich nicht so alt wäre, so würde ich dich gerne dahin begleiten. Allein mein Schwiegersohn Klitus hier, der schon einmal dort gewesen und aller Wege kundig ist, macht sich eine Freude daraus, mit dir zu gehen. Morgen soll er mit dir dahin ziehen.«
Diese Worte brachten dem betrübten Eustachius großen Trost. Er aß mit den guten Landleuten nun zu Nacht. Freundliche Gesichter, aus denen er sah, daß ihm alles herzlich wohl gegönnt sei, waren die beste Würze der mäßigen Mahlzeit, hierauf begab er sich, da seine Kräfte fast erschöpft waren, unverzüglich zur Ruhe.
Am folgenden Morgen, lange bevor der Tag anbrach, machte er sich mit Klitus, dem jungen Bauern, auf den Weg. Sie eilten, so sehr sie konnten, und waren, die heißesten Mittagsstunden ausgenommen, unausgesetzt auf dem Wege. Als sie aus den Bergen in die ebenen Gegenden herabkamen, mietete Eustachius von dem Gelde, das er noch bei sich hatte, ein Kamel, um schneller und bequemer weiterzukommen. Endlich erreichten sie die Seestadt, wo eine Reihe von Schiffen nahe am Ufer vor Anker lag. Eustachius besah die Schiffe und erkannte zu seiner großen Freude bald das Schiff, auf dem er und seine Gemahlin sich befunden hatten, und das jetzt auf den Strand gezogen war. Er betrachtete es genau; alle Verzierungen des Schiffes, die er sich wohl gemerkt hatte, trafen richtig ein.
Ein Lastträger, der auf einer Kiste voll Waren saß, um auszuruhen, rief ihm zu: »Warum besiehest du das Schiff so bedachtsam von allen Seiten? Willst du es kaufen?«
Eustachius, dem diese Worte als Scherz vorkommen mußten, blickte ihn mit wehmütigem Ernste an. Allein der Mann sprach: »Ich scherze nicht! Das Schiff ist feil; der reiche Mohr, dem es gehörte, ist tot.« Eustachius erkundigte sich näher. »Glaube mir,« sprach der Mann, »es ist nicht anders. Das Schiff lief erst vor wenigen Tagen hier ein; allein der Schiffsherr war nicht so glücklich, das Land lebendig zu erreichen. Ich war dabei, als sein entseelter Leichnam vom Schiffe gebracht wurde. Er soll sozusagen jähen Todes gestorben sein.«
»Das wundert mich!« sprach Eustachius; »aber sage mir, wo ist die Frau, die auf dem Schiffe angekommen ist?«
»Eine Frau?« sprach der Lastträger. »Es ist keine Frau mit angekommen.«
»Es muß sich eine Frau auf dem Schiffe befunden haben,« sprach Eustachius mit Eifer. »O sage mir, lieber Mann, wo ich sie finden kann. Du erzeigest dadurch ihrem betrübten Ehemann einen großen Liebesdienst.« Der Lastträger blieb dabei, er habe nichts von einer Frau gesehen, die mitgekommen sein sollte.
Ein paar Kaufleute, die eben vorbeigingen, blieben stehen und hörten zu. »Es ist so, wie der Mann sagt,« sprach der eine Kaufmann. »Ich hatte auch Waren auf dem Schiffe, die ich mit Sehnsucht erwartete. Ich war in dem Augenblicke zugegen, als das Schiff landete, und blieb da, bis es ausgeladen war. Allein ich versichere dich, es hat sich keine einzige Frau auf dem Schiffe befunden. Es war auch niemand darauf, als die Schiffsknechte und der Leichnam des Schiffsherrn.«
Eustachius erzählte nun so viel, als er für nötig erachtete, von seiner Geschichte, und bat dann die Kaufleute, die ihm sehr teilnehmend zuhörten, ihm Gelegenheit zu verschaffen, die Schiffsknechte zu sprechen, um sich bei ihnen zu erkundigen, wohin seine Gemahlin gekommen sei.
Die Kaufleute sagten: »Es wird schwer halten, noch einen oder den andern aufzufinden. Sie nahmen nach dem Tode ihres Herrn sogleich auf andern Schiffen Dienst, auf denen sie vielleicht schon alle abgefahren sind; denn der Handel geht sehr stark. Indes wollen wir selbst sogleich nachforschen.« Sie kamen bald zurück und sagten: »Zum guten Glücke haben wir noch ein paar Schiffsknechte aufgetrieben; allein sie wollen nichts davon wissen, daß eine Frau auf dem Schiffe gewesen sei.«
Auf Verlangen des Eustachius wurden die zwei Schiffsknechte vor Gericht gefordert. Sie erschraken sehr, als sie in den Gerichtssaal traten und ganz unerwartet den Mann erblickten, den sie an ein unbewohntes Land ausgesetzt hatten. Sie gestanden nun ein, daß Eustachius, dessen Frau und zwei Kinder sich allerdings auf dem Schiffe befunden hatten. Der Schiffsherr aber, ein Mohr, habe, da Eustachius das Fahrgeld nicht bezahlen konnte, ihn und die zwei Kinder an das Land bringen lassen, die Frau dagegen als Sklavin zurückbehalten. Dieser Mohr habe sie dann in einem Anfalle von Wut mit dem Schwerte getötet und den Leichnam in das Meer geworfen. Hierauf hätten Reue und Verzweiflung ihm das Herz abgedrückt; wenige Stunden nachher sei er eine Leiche gewesen. Da diese Geschichte ihrem verstorbenen Herrn keineswegs zur Ehre gereiche, so hätten sie miteinander abgeredet, davon zu schweigen; allein vor Gericht aufgefordert, müßten sie, so hart es sie auch ankomme, der Wahrheit dieses Zeugnis geben. Nachdem sie ihre Aussage beschworen hatten, gingen sie hinaus.
Wie es aber dem tiefbetrübten Eustachius zumute war, kann keine Zunge aussprechen. Erschüttert ging er aus der Gerichtsstube und wandelte voll stummen Schmerzes am Ufer des Meeres auf und ab. Endlich blieb er stehen, blickte mit hervorströmenden Tränen zum Himmel und sagte: »Nun, du guter Gott, so war es denn deine Schickung, daß ich meine Gemahlin durch den Tod verlieren mußte! Deinem Willen unterwerfe ich mich in tiefster Demut und Anbetung. Du hast mein geliebtes Weib zu dir genommen. O du meine geliebte Theopista, so sehe ich denn in dieser Welt dein holdes Angesicht nicht mehr! So lebe denn wohl, seliger Geist, und bete für mich, damit ich dich und unsere lieben Kinder an Gottes Thron wiedersehen möge.«
Der junge Bauersmann Klitus, der mit Eustachius gekommen war, hatte, während die Schiffsknechte verhört wurden, das Kamel in die nächste Herberge gebracht, es gefüttert und getränkt. Er vernahm die traurige Neuigkeit sogleich: »Die Frau, die mit dem Schiffe hätte ankommen sollen, sei auf dem Schiffe ermordet und in das Meer geworfen worden.« Der gutherzige Landmann hörte diese Nachricht mit Schaudern. Tiefbetrübt und mit weinenden Augen näherte er sich dem bestürzten Eustachius, der mit Augen voll Tränen in das Meer hinaus sah.
»Ach Gott,« sprach Klitus zu ihm, »mich wundert es nicht, daß du das Meer nicht ohne Tränen ansehen kannst! Denn es ist ja das Grab deiner geliebten Ehegattin. Allein schaue lieber zum Himmel auf! Wiewohl ihr Leib in dem Abgrunde des Meeres begraben liegt, so ist doch ihr Geist in dem Himmel. Weine also nicht – freue dich vielmehr und lobe Gott!«
»Du hast recht, lieber Freund,« sprach Eustachius und drückte ihm die Hand; »Gott sei gelobt! Sie hat es überstanden und hat – so gräßlich ihre Ermordung war – doch selig geendet. Gott gebe, daß unser Ende, von so schauerlichen Umständen es übrigens begleitet sein möge, auch so selig sei!«