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Theopista, die glückliche Mutter der glücklichen Brüder, saß noch immer auf der Rasenbank, das Haupt zurückgelehnt an das blühende Gesträuch. Ihr Angesicht war leichenblaß, ihr Mund halb geöffnet, ihre Augen waren geschlossen. Sie vermochte nicht ein Wort hervorzubringen oder eine Hand zu bewegen. Das Frohlocken und der laute Jubel der Soldaten weckte sie aus ihrer Ohnmacht. Sobald sie wieder zur Besinnung kam, war ihr erster Gedanke, sich ihren zwei Söhnen zu erkennen zu geben und als Mutter sie zu begrüßen. Allein die Menge der Soldaten, die vor Freude trunken schienen, schreckte sie; es schien ihr nicht ratsam, sich durch das Gedränge der jubelnden Krieger hindurchzudrängen. »Was würde es mir auch nützen?« sprach sie bei sich selbst. »Würden meine Söhne, die jetzt mit Glück und Ruhm gekrönt sind, mich, die arme, verachtete Sklavin, als ihre Mutter anerkennen? Ach, wenn sie – war ich indes nicht fürchte – sich meiner auch nicht schämen würden, so würden sie es mir doch nicht sogleich glauben, ich sei ihre Mutter. Welche Beweise könnte ich vorbringen? Ich wüßte ihnen beinahe nichts anderes zu sagen, als was sie eben selbst gesagt haben, und sie würden denken, ich sage ihnen dies alles nur so nach, damit sie mich aus der Sklaverei erretten und mir ein besseres Schicksal bereiten möchten. Ich könnte mich leicht dem Unwillen der Offiziere und dem Spotte und Gelächter der Soldaten aussetzen. Indes wohnt ja mein Sohn Agapius jetzt mit mir unter einem Dache; wenn er in das Haus zurückkehrt, so will ich ihm in sein Zimmer folgen, und da, unter vier Augen, kann ich ihn dann, wenn es mir je gelingt, mit mehr Ruhe überzeugen, ich sei seine Mutter. Und erkennt einmal Agapius in mir seine Mutter, so wird auch mein Sohn Theopistus, der jetzt mit mir doch in einer Stadt wohnt, mich bald als seine Mutter anerkennen, und wir alle drei werden eine Seligkeit empfinden, die sich nicht aussprechen läßt.«
Sie ging mit noch matten Schritten zurück und begab sich auf ihre einsame Kammer unter dem Dache. Sobald sie sich allein sah, brach sie in einen Strom von Tränen aus. »O Gott,« rief sie, indem sie mit gefalteten Händen auf die Knie niederfiel – »du guter, barmherziger Gott, dir sei Dank! Du, o allmächtiger Gott, der du den Daniel aus der Löwengrube und den Jonas aus dem Bauche des Meerungeheuers errettet hast – du hast meine Kinder dem Rachen des Löwen und den Zähnen des Wolfes entrissen. Denn dir ist nichts unmöglich. Deine Leitung ist es, daß meine Söhne vor meinen Augen sich wiederfanden; daß ich, ihre Mutter, ohne daß sie mich erkannten, Zeuge ihrer Freude sein mußte, ja daß, indem sie einander wiedererkannten, eben dadurch auch mir die Seligkeit bereitet ward, sie beide wiederzuerkennen – eine Freude, über die ich allen Schmerz der langen Trennung und den Kummer vieler Jahre vergesse! Wie du tröstest, so kann keiner trösten; wie du erfreuest, so kann niemand erfreuen. Dir, Vater der Erbarmungen, der du unendlich reich an Trost und der Urquell aller Freuden bist, dir sei unendlicher Dank!«
Sie blieb eine ganze Weile in Andacht versunken knien. »Aber,« sagte sie jetzt, »wo ist der Vater meiner wiedergefundenen Söhne? Was ist ihm begegnet, daß mein Sohn Agapius nichts von ihm weiß? Auch Theopistus scheint, wenn ich recht hörte und es mir nicht bloß träumte, nichts von ihm zu wissen. Haben die wilden Tiere, nachdem ihm die Söhne entrissen worden, vielleicht den Vater angefallen und aufgezehrt? Ist er vielleicht, wie ich, in Sklaverei geraten, und bringt ihm vielleicht jede neue Sonne neuen Jammer? Oder sieht er vielleicht das Licht der Sonne gar nicht mehr? Doch nein, nein, mein Herz sagt es mir, er lebt noch! Du, guter Gott, hast ihn gewiß erhalten und aus allen Gefahren und Leiden errettet. Du wirst dein Werk vollenden, und wie du mich die Söhne finden ließest, mich auch den Vater finden lassen, damit die Freude unser aller vollkommen werde.«
Sie stand auf und trat an das Fenster. Von hier aus konnte sie ihre Söhne unten auf dem Rasenplatze sehen. Sie standen nebeneinander, im Kreise der Offiziere und Soldaten, und schienen sich ihre weitere Geschichte zu erzählen. »Ja,« sagte die hocherfreute Mutter, mit Augen voll Tränen lächelnd, »sie sind es, sie sind es wahrhaftig! Agapius mit seinen dunkeln Locken hat ganz die edle Stellung seines Vaters; auch die schönen blonden Locken des andern zeigen, daß er mein Theopistus ist. Was für schöne, ansehnliche Männer von hoher, edler Gestalt sind aus den zwei kleinen Knaben geworden! Allein noch wissen sie nicht, wie sehr mein mütterliches Herz ihnen entgegenschlägt. Aber wie überzeuge ich sie, daß ich sie unter diesem meinem Herzen getragen, daß sie meine Kinder seien? Nur gleich so zu ihnen hintreten und ihnen gerade zu sagen: »Seht, ich bin eure Mutter!« – geht nicht. Diese Worte aus dem Munde einer Sklavin müßten ihnen zu seltsam vorkommen; in dieser entstellenden Sklavenkleidung und nach so langer Zeit würden sie mich sicher nicht mehr kennen. Ich will ihnen zuerst sagen, daß ich als eine freie Römerin widerrechtlich zur Sklavin gemacht wurde. Das wird ihr Mitleid, ihr Gefühl für Recht, ihren edlen Römerstolz aufregen, und sie werden mich geduldig und aufmerksam anhören. Ich will ihnen sagen, daß ich von edler Abkunft und die Gemahlin jenes berühmten Plazidus sei, der mit mir und seinen zwei kleinen Söhnen nach Ägypten auswandern wollte. Vielleicht glückt es mir, in ihnen solche Erinnerungen aus der Geschichte ihrer Kindheit zu erwecken, daß beide von selbst auf den Gedanken kommen, ich sei ihre Mutter! Oder vielleicht findet sich unter dem Heere noch einer oder der andere alte, biedere Krieger, der ehemals unter meinem Gemahl diente, mich noch kennen und mir bezeugen wird, daß ich die Wahrheit rede. Und so werden wir denn am Ende ins klare kommen – und mir wird die Seligkeit werden, sie als meine Kinder an mein Herz zu drücken.«
Theopista bemerkte jetzt, daß die Kriegerschar auf dem grünen Platze auseinander ging, und daß auch die Offiziere sich nach und nach alle entfernten. Nur ihre zwei Söhne setzten sich wieder auf eine Bank.
»Nun,« sprach sie, »ist der rechte Augenblick gekommen; nun will ich hinunter und mich ihnen zu erkennen geben. O Gott, erleuchte du mich und laß mich die rechten Worte finden, sie von der Wahrheit meiner Aussage zu überzeugen.« Sie trocknete ihre Tränen und eilte hinunter in den Garten. Allein, da sie eben über den Steg ging, der über den Bach führte, standen die beiden Söhne mit einemmal auf, um weiter zu gehen. Sie gingen aber nicht auf das Haus zu; sie nahmen durch den schattigen Wald hin einen andern Weg. Theopista bedachte sich schnell, machte einen kleinen Umweg und kam ihnen entgegen. Ihr Herz klopfte heftig, und es zitterten ihr alle Glieder.
»Ihr edlen, jungen Krieger,« sagte sie mit bebender Stimme, »wäre es mir wohl erlaubt, euch eine Bitte vorzutragen?«
»Fürchte dich nicht und zittere nicht so!« sprach Agapius, indem er ihr mitleidig ins blasse Angesicht sah und wohl bemerkte, daß sie geweint hatte. »Sei guten Mutes und sage deine Bitte getrost. Wenn wir sie je gewähren können, so werden wir es gerne tun.«
Sie sprach: »Ich bin eine geborene Römerin; allein durch widerrechtliche Gewalt ward ich meinem Manne und meinen Kindern entrissen und als Sklavin verkauft.«
»Nun,« sprach Agapius, »da wünschest du wohl, wir sollen dich aus der Sklaverei befreien? Allein das steht nicht in unserer Macht; das kann nur der Feldherr.«
Sie sagte: »Das glaube ich gern; allein ich bitte euch, höret meine Geschichte doch erst an. Ich hoffe euch zu überzeugen, daß ich aus einem der edelsten Geschlechter Roms und die Gemahlin eines jetzt vielleicht vergessenen, aber ehemals allgemein geschätzten Kriegshelden bin.«
»Auch darüber kann der Feldherr am besten urteilen,« sprach Agapius. »Wir sind in Rom fremd, wurden an den Grenzen des Reiches erzogen und wissen wenig von Roms edlen Geschlechtern. Unserem Feldherrn ist aber dein Gemahl ohne Zweifel bekannt. Ihm mußt du deine Bitte vortragen.«
Sie sprach: »Allein wie komme ich bei ihm vor, und wird er wohl sich soweit herablassen, einer armen Sklavin Gehör zu geben?«
»Wir wollen dir bei ihm Gehör verschaffen,« sprach jetzt Theopistus, ihr anderer Sohn. »Er ist sehr gütig und leutselig, und da uns deine Aussage wahr scheint, so wird er deine Bitte sicher erfüllen. Wir gehen jetzt eben zu ihm, seine Befehle zu vernehmen. Komm nur sogleich mit uns.«
Dieses unerwartete Anerbieten war ganz gegen ihren Wunsch. Sie blieb unentschlossen stehen; sie hätte sich ihren geliebten Söhnen gerne in einem vertraulichen Gespräche entdeckt, und ihr Gemüt war gar nicht vorbereitet, dem sieggekrönten, bewunderten Feldherrn, der ihr, wie sie meinte, ganz fremd war, ihre Herzensangelegenheiten vorzutragen. Allein ihre beiden Söhne sagten: »Wozu das Zögern und Zagen? Wir haben Eile und haben uns ohnehin schon verspätet. Komm ungesäumt mit uns. Eine solche schöne Gelegenheit, ihn zu sprechen, wird dir so bald nicht wieder. Wir geben dir unser Wort, du sollst unaufgehalten durch alle Wachen hindurchkommen, unsern ruhmwürdigsten Feldherrn von Angesicht zu Angesicht sehen – und sicher nicht ohne Trost und Hilfe zurückkehren.«
»Nun wohl,« sagte Theopista, augenblicklich gefaßt, »ich nehme euer Anerbieten dankbar an und gehe mit euch.« Die beiden Hauptleute gingen mit schnellen Schritten, und Theopista folgte ihnen mit klopfendem Herzen.