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Eustachius sprach über eine Weile: »Die Empfindung wird uns zu mächtig! Auch die Freude ist angreifend, ja oft noch angreifender als der Schmerz. Ich fühle mich ganz beklommen. Kommt und laßt uns ein wenig frische Luft schöpfen!« Er öffnete die zwei Türflügel einer hohen Pforte und ging mit seiner Gemahlin und seinen Söhnen hinaus auf einen Altan, von dem man über die unten liegenden Gärten der Stadt hin die herrlichste Aussicht auf eine reiche Landschaft hatte. Sie blieben an dem marmornen Geländer einige Zeit stillschweigend stehen. Es war ein schöner, heiterer Abend. Kühle Lüftchen säuselten durch die nahen Pappelbäume. Die Wolken, die benachbarten Dörfer und die fernen Wälder und Berge waren von den letzten Strahlen der Sonne gerötet. Eustachius zeigte auf die untergehende Sonne und sagte: »O wie groß ist Gott in seinen Werken! Allein so groß und herrlich er in seiner Schöpfung ist, so freundlich und gütig zeigt er sich auch in der Führung der Menschen. Er, der uns nach diesem glühendheißen Tage diesen kühlen, erquickenden Abend gibt, schenkte uns auch nach mancher heißen Trübsal wieder Freude und Erquickung. Darum danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewig.«
Hierauf setzte sich Eustachius mit seiner Gemahlin auf die marmorne Bank des Altans; die beiden Söhne setzten sich zu beiden Seiten der Eltern und Eustachius sprach: »Ich weiß nun wohl, liebste Gemahlin, daß jene Schiffsknechte, die dich fälschlich für tot ausgaben, dich in die Sklaverei verkauft haben; ebenso weiß ich, daß ihr, meine geliebten Söhne, aus dem Rachen der wilden Tiere errettet worden. Allein wie dieses zuging und was in der langen Reihe von Jahren, seit wir uns das letztemal sahen, euch begegnet, davon weiß ich noch nicht das geringste. Erzählt mir das Wichtigste davon; denn gewiß werde ich neue Ursache finden, Gott zu loben.«
Theopista sagte: »Ihr, meine geliebtesten Söhne, erzählet mir und eurem Vater zuerst, was euch alles begegnete, seit jener grausame Schiffer mich euch und der Löwe und der Wolf euch eurem Vater entrissen hat. Ich brenne vor Begierde, die Geschichte meiner lieben Kinder zu vernehmen.«
Agapius erzählte seine Geschichte zuerst. »Wie jener Löwe,« fing er an, »mich dort am Flusse ergriffen und mit mir in den Wald entflohen, das hat mein Vater mit Augen gesehen und meine Mutter hat es bereits aus meinem Munde gehört. Wie es mir in dem Rachen des Löwen zumute war, weiß ich nicht mehr und wußte es wohl damals selbst nicht. Als ich wieder zur vollen Besinnung gekommen war, erblickte ich mehrere brennende Kerzen. Ich lag in einer ländlichen Stube auf einem Bette und mehrere Männer, Weiber und Kinder, so viel deren die Stube fassen konnte, standen um mich her. Alle bezeigten mir das größte Mitleid und dankten Gott, durch dessen Beistand ich aus einer so schauerlichen Gefahr errettet worden. Sie sahen an meinen Kleidern, daß ich aus einem entfernten Lande und das Kind vornehmer Eltern sein müsse. Sie fragten mich daher sehr neugierig, wie ich in diesen dichten, unwegsamen Wald voll wilder, reißender Tiere geraten sei. Es währte einige Zeit, bis ich ihre Fragen gehörig beantworten konnte. Alle bedauerten meinen Vater und meinen kleinen Bruder von Herzen und die Männer beschlossen, sie aufzusuchen. Allein nunmehr war es bereits Nacht und zu spät, sich durch den wildverwachsenen Bergwald zu finden. Sobald indessen die Tageshelle sich zeigte, machten sie sich auf den Weg. Sie kamen an das Ufer jenes Flusses und fanden unter dem Baume, wo wir unsere letzte Mahlzeit gehalten, noch die Schalen von den Eiern; allein von dem Vater und meinem kleinen Bruder fanden sie keine Spur mehr. Traurig kamen sie zurück und sagten: »Die wilden Tiere haben den wehrlosen Mann und das arme Kind gewiß zerrissen. Wenn wir uns dort so lange hätten aufhalten wollen, so hätten wir wahrscheinlich noch einige ihrer Gebeine gefunden. Denn dort an jenem Flusse ist es sehr gefährlich; die Tiere der Wildnis kommen weit her, dort ihren Durst zu löschen.«
»Wie es zugegangen, daß ich noch glücklich aus dem Rachen des Löwen errettet wurde, haben mir die Männer öfter ausführlich erzählt, und auch das, was ich ihnen damals sagen konnte, mir öfter wiederholt. Die Begebenheit ist kurz diese. Die Männer hatten in dem Walde Holz gefällt und waren eben auf dem Wege nach Hause. Da kam der Löwe, der mich als ein zartes Knäblein in dem Rachen trug, in wilder Eile hinter einem Felsen hervor. Die tapfern Männer drangen augenblicklich mit geschwungenen Äxten auf ihn ein. Einer von ihnen versetzte dem Löwen mit der Axt einen mächtigen Streich. Der Löwe ließ mich augenblicklich fallen, wandte sich gegen den Mann und wollte in seinem Grimme ihn zerreißen. Allein die übrigen Männer standen ihrem bedrohten Gefährten bei. Es erhob sich ein drohender Kampf. Der Löwe bekam manchen starken Hieb und sein Blut quoll aus mehreren Wunden hervor; endlich nahm er unter kläglichem Gebrülle die Flucht. Die Männer hoben mich nun von der Erde auf. Von der schrecklichen Todesangst, die ich im Rachen des Löwen gefühlt habe, war ich ohnmächtig; allein zu ihrer großen Freude unversehrt. Sie waren sehr erstaunt, daß der Löwe mich nicht getötet, ja nicht einmal verwundet habe. Einige meinten, das komme daher, weil der Löwe, von meinem Vater verfolgt, keine Zeit gefunden, mich zu verzehren, sondern im schnellen Laufe über Büsche und Felsen wegsetzend, gerade noch vor dem entscheidenden Augenblicke ihnen in die Hände gefallen. Andere behaupteten, das furchtbare Tier habe, nach Art solcher Raubtiere, mich seinen Jungen lebend vorwerfen wollen und sich daher sorgsam in acht genommen, mich zu verletzen. Alle aber stimmten darin überein, Gott habe mich ganz besonders bewahrt und ich könne ihm deshalb in meinem Leben nicht genug danken.
»Es entstand nun ein edler Wettstreit unter ihnen, wer von ihnen die Freude haben sollte, mich in seinem Hause zu verpflegen und zu erziehen. Allein derjenige, der dem Löwen den ersten Streich versetzt hatte, ließ sich diese Freude nicht nehmen. Er nahm mich voll des herzlichsten Mitleids auf seinen Arm, trug mich in sein Haus und legte mich auf ein Lager, wo ich mich aus meiner Ohnmacht nach und nach wieder erholte, wie ich gleich anfangs erzählt habe.
»Die tapfern, kühnen Holzhauer waren Bauern aus einem kleinen Dorfe, das jenseits der waldigen Felsenhöhen, die es von dem Meere scheiden, in einem tiefen Tale liegt. Alle Bewohner dieses Dorfes waren Christen. Schon vor mehreren Jahren, zur Zeit der Verfolgung, die sich nie bis in dieses abgelegene Tal erstreckte, hatten sich christliche Priester dahin geflüchtet und den Bewohnern das Evangelium verkündet. Die redlichen Landleute hatten es mit Freuden angenommen und machen nun eine christliche Gemeinde aus. Alle sind darauf bedacht, sich als gute Kinder des einen Vaters im Himmel zu betragen; alle lieben einander wie Brüder und Schwestern. Da ist nur Friede und Eintracht. Sie entzweien sich nie über zeitliche Güter; sie teilen alles, was sie haben, willig miteinander. Sie arbeiten alle sehr fleißig und suchen durch Arbeit so viel zu erwerben, daß sie davon alte und gebrechliche Leute reichlich unterstützen können. Die christliche Liebe, dieses schöne Kennzeichen wahrer Christen, macht dort den Leidenden das Leiden nicht nur leicht, sondern durch die unzähligen Beweise der herzlichsten Teilnahme sogar zur Quelle süßer Freuden.
»Für den Unterricht der Kinder ist aufs beste gesorgt. Ein christlicher Priester, ein frommer, heiliger Greis, der sich jenes Tal zu seinem Aufenthalte wählte und sein Leben unter jenen guten Menschen zu beschließen gedenkt, machte sich eine wahre Herzensangelegenheit daraus, ihre Kinder im wichtigsten, was ein Mensch wissen muß, in unserer heiligen Religion zu unterrichten. Diesen Unterricht erteilte er auch mir, und da er ehemals in der Welt ein sehr angesehener Mann war und dafür hielt, ich sei nicht bestimmt, mein ganzes Leben in diesem Tale zuzubringen, so teilte er mir auch von seinen übrigen Kenntnissen und Erfahrungen so viel mit, als er für mich zuträglich hielt. Er war mit großem Ernste darauf bedacht, mich zuerst zu einem wahren Christen und dann auch zu einem brauchbaren Manne für die Welt zu bilden.
»Übrigens mußte ich, sowie ich heranwuchs, morgens, bevor die Sonne aufging, auf den Acker fahren, oder auf der Wiese mähen und alle, auch die schwersten ländlichen Arbeiten, die mir aber sehr leicht von der Hand gingen, verrichten. Dies härtete mich ab und machte mich stark und kräftig. Auch fehlte es nicht an Gelegenheit, Mut und Tapferkeit zu üben, wir lebten mit den Tieren der Wildnis, denen unser Tal gleichsam abgewonnen war, in einem beständigen Kriege, und da galt es keine geringe Kühnheit und Gewandtheit, die Kühe auf der Weide und oft den Stier am Pfluge gegen ein grimmiges Raubtier zu verteidigen. So trug meine ganze Erziehung und Lebensweise dazu bei, daß mir eine gesunde Seele in einem gesunden Leibe wurde. Ich brachte in jenem Dorfe, das mit seinen niedrigen Strohhütten manchem sehr elend und armselig vorkommen möchte, die Jahre meiner Kindheit und Jugend so vergnügt, so glücklich zu, als wohl nie ein Jüngling, der in einem Palaste erzogen wurde.
»Ich hätte auch nie daran gedacht, meinen seligen Aufenthalt, mein zweites Paradies, zu verlassen. Allein da kam plötzlich ein Befehl des Kaisers, einen der Jünglinge als Soldaten in das Feld zu stellen. Denn weil das Vaterland in Gefahr war und die Not an den Mann ging, so wurde auch in den entferntesten Grenzen des Reiches, was sonst selten geschah, junge Mannschaft ausgehoben. Alle Bewohner des Dorfes waren höchst bestürzt; denn Krieg und Blutvergießen war diesen friedlichen Menschen ein schrecklicher Gedanke. Indes war die Sache nicht abzuwenden. Der römische Krieger, der die Aushebung in diesem Dorfe besorgte, stand da, rüttelte die Lose in seinem Helme und befahl zu ziehen. Väter und Mütter, Schwestern und Bräute standen blaß und zitternd umher. Da regte sich auf einmal ein wunderbarer Mut, den mir Gott gab, in meinem Herzen. Ich brannte vor Begierde, für mein Vaterland zu fechten; ich dachte daran, daß mein Vater auch ein Kriegsmann und doch ein Mann und guter Christ, gleich dem Hauptmanne von Kapernaum und dem Hauptmanne Kornelius, war; ich freute mich hoch, daß ich den guten Leuten, die mich einst dem wilden Tiere entrissen und mir so viel Gutes erwiesen, nun auch einen kleinen Dienst erweisen konnte. Ich trat vor den Krieger und sprach: Das Los soll nicht entscheiden; ich gehe freiwillig mit dir. Der Krieger sah mich an, klopfte mir auf die Schulter und sprach erfreut: Das ist brav! Dein Mut, auch deine Größe und deine Gestalt gefallen mir. Mache dich also sogleich reisefertig und komm mit mir.« Unter dem Segen des frommen Priesters und den Tränen und Segenswünschen der ganzen Gemeinde zog ich mit dem Krieger fort.
»Wie es mir nun weiter ergangen, ist meinem lieben Vater und meinem lieben Bruder bekannt; jedoch muß ich noch einiges erwähnen, was unserer geliebten Mutter noch unbekannt ist. Als ich unter einer großen Anzahl junger Mannschaft bei dem Kriegsheere angekommen war, kam der Feldherr herbei, uns zu mustern, und wählte mich sogleich zu einem seiner Satelliten aus. Ach, wie hätte ich damals denken können, der Feldherr sei mein Vater! Ich wußte zwar wohl, der Feldherr heiße Plazidus. Allein, daß dies der Name meines Vaters sei, wußte ich nicht; ich erinnerte mich aus meiner Kindheit bloß, daß unsere Mutter den Vater nur immer »lieber Eustachius« nannte. In den täglichen kleinen Gefechten, die vor der großen, entscheidenden Schlacht vorfielen, war ich immer sehr glücklich, und wurde, da einst der Hauptmann unserer Schar von einem Pfeile durchbohrt worden, von dem Feldherrn zum Hauptmanne ernannt. Mein Bruder war mit einem andern Zuge neuausgehobener Mannschaft angekommen. Auch er wurde von dem Feldherrn zu einem Satelliten auserkoren, aber einer andern Schar zugeteilt; auch er schwang sich, wie ich, sehr bald zum Hauptmanne empor. Als Hauptleute lernten wir uns bald von Angesicht kennen; aber wie hätte uns einfallen können, wir seien leibliche Brüder! Wir sprachen uns auch öfter, aber bloß im Dienste und über Kriegsangelegenheiten. Erst an dem heutigen, ruhigen Tage, nach erkämpftem Frieden, ward mir die Veranlassung, die Geschichte meiner Kindheit zu erzählen, und so, ohne es selbst zu wissen, das Geheimnis zu offenbaren, daß wir Brüder seien.
»Weise und wunderbar hat Gottes heilige Vorsehung unser aller Wiederfinden und Wiedererkennen herbeigeführt. O welche Freude war es für uns Jünglinge, die wir uns längst kannten und schätzten, uns nun als Brüder zu erkennen; welches Entzücken, in dem siegreichen Feldherrn, der heute seine Lorbeeren mit uns geteilt hatte, einen liebevollen Vater zu erblicken; welche Seligkeit, als der eben erkannte Vater uns der von uns noch unerkannten, liebenden Mutter zuführte! Wir können in Wahrheit sagen: Das ist ein Tag, den uns der Herr bereitet hat; laßt uns ihn feiern mit Freude und Jubelgesang!«