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6

Die Fränze war tränenschluckend verstummt. Sie schrak zusammen. Sie frug einen koketten, schwarzgelockten Riesen mit verwegen aufgedrehtem schwarzem Schnurrbärtchen und kleinen Messingringen in den Ohren, der aus einem verschlossenen Nebenzimmer kam:

»Ist der Dicke schon drinnen?«

»Nee! Da mußte deine Sehnsucht noch bezähmen! 'Nacht!«

»Wer das war?« Die Kleine atmete auf. »Ein Preisringer. Den nennen sie Goldhäschen. Der trägt nur Spitzendamenwäsche. Aber von Damen selber will er nichts wissen! Im Gegenteil!«

Wieder bekam sie das Zittern. Sie wandte das blasse Köpfchen nach der Straßentüre. Ein behäbiger, spießbürgerlicher Mann mit Zwicker und Aktenmappe ging von da quer durch das Lokal nach dem Seitenraum.

»Butterkopf – weißte, wo der Dicke steckt? Nee?«

»Der ist der Kassierer von den ›Veilchen‹ da drinnen«, sagte, als er weg war, die Fränze. »Na ja – so nennen sie sich doch, weil sie im Verborgenen blühen! Er hat die Unterstützungskasse vom Verein!«

»Für Krankheitsfälle?«

»Nee doch! Wenn einer wieder freikommt und steht nu da!«

»Also das sind Verbrecher?«

»Na – was haben Sie denn gedacht ...?«

Die Fränze preßte grüblerisch die blassen, weichen Lippen mit den kleinen, etwas schadhaften Zähnen. Sie schaute den Schlosser Werner an.

»Ich glaube, Sie sind ein guter Mensch!« sagte sie.

»Ich meine es gut mit Ihnen!«

»Was sind Sie denn von Profession?«

»Chauffeur 2b und 3b

»In Stellung? Kleben Sie? Haben Se 'ne feste Wohnung? Ja? Denn is gut! Denn glaubt Ihnen der Wachtmeister auf dem Revier ...«

»Was denn?«

»Ich droh' jetzt den Brüdern, wenn die mir was tun wollen, daß Sie morgen hier nach mir fragen und, wenn ich nicht mehr da bin, gleich zur Polizei laufen! Vielleicht hilft das!«

»Ich werde kommen! Wie heißen Sie denn?«

»Franziska Häselich. Fragen Sie nur nach der Fränze! ... 'Tag, Äppelröschen!«

Sie gab über die Schulter einem hereinkommenden, blutjungen Straßenmädchen die Hand. Es war ein zartes, strohblond gefärbtes Geschöpf mit einem spitzigen Kindergesicht – rote Flecke von Schminke und Schwindsucht auf den Backenknochen.

»Röschen – was machste für Geschäfte?«

»Mies ...«

»Haste was von dem Dicken gesehen?«

»Der is schon unterwegs hierher!«

Das verlorene Mädchen hatte eine feine Stimme. Sie ging und setzte sich zu der Simili-Berta und der Ulanen-Guste. Die Fränze schaute ihr verstört nach.

»Um das Äppelrüschen ist es schad'! Das ist'n feiner Kerl! Die hat so viel Gemüt ... Wie? Der Dicke, der jetzt gleich kommt – das ist der Vorsitzende von dem Verein drinnen. Der hat sie alle in der Mache!«

»Und Sie, scheint's, auch!«

Die Kleine schluckte vor Angst. Sie krampfte die Fingerchen ineinander. Sie setzte das Bierglas an die Lippen und, ohne zu trinken, wieder ab.

»Was soll ich denn gegen den Dicken machen? Wenn der sagt: ›Nu gehste‹ – denn geh' ich ...«

»Zu wem?«

»Na – zu dem, der hinter dem Dicken und seiner Kolonne steckt! Dem gehorchen sie doch blind. So einer war doch noch nicht da! Aber zu sehen kriegen sie ihn nicht. Dazu ist er zu vorsichtig. Da darf ich immer laufen und Post zwischen ihm und dem Dicken bestellen!«

»Wer ist es denn?«

»Weiß ich denn? Ich treff' ihn doch immer nur in irgend 'ner Kaschemme! Hier nennen sie ihn den Ale ... Zeitung lesen Sie wohl nie? Da ist doch immer alles voll von dem Nachtdoktor ... Erst heute nacht – da haben sie das Ding bei Wiebeking'n – in dem Bankhaus – schief gedreht! 'mal marschieren wir noch alle in Moabit auf, wie wir gewachsen sind! Davor gruselt's mir bis in die Knochen!«

Die Fränze schluckte hastig, in einem plötzlichen Schauder, ein paar Schluck von dem dünnen, gelben Bier. Ihre hellen, jungen Berliner Augen hefteten sich über dem Glasrand lichtbraun, schreckensweit auf den Schlosser Werner.

»Nu hatt' ich heut' im Westen von dem Jakob Grünspan drüben, wo ich tagsüber Zeitungen sortier', 'ne Rechnung zu zahlen, für Altpapier – damit handelt er doch – der Schlemihl – und da seh' ich doch auf dem Rückweg zufällig auf dem Ottoplatz den Ale in Lebensgröße ...«

»Wie sieht er denn aus?«

»Gott – auch nicht viel anders wie Sie ... auch so um die Dreißig und mittelgroß und glattrasiert – und fein in 'nem kurzen Paletot und da ...« Die Fränze hob sich halb vom Stuhl. Sie keuchte ... »Da hat's mich plötzlich gepackt: Nu machste mal Schluß! ... Nu bringste den Ale ins Kittchen und die ganze Kolonne mit ...«

»... aber sich selber doch auch ...«

»Kann ich denn dafür? Ich muß ja! Ich möcht' ja nicht! Ich möcht' ja gern ordentlich leben! Aber sie zwingen einen ja ... Der Dicke macht ja Hackepeter aus mir, wenn ich nicht ... Da täten sie mit mir noch ein Einsehen haben – bei's Gericht! Und wenn ich 'n Jahr auf'm Barnim 'runterhau' oder zwei – lieber als das Leben hier! Aber der Schupo – bis der Großpapa seine krummen Beene zusammengefunden hatte, da war der Ale schon weg ...« Sie biß in Todesangst in ihr zerknülltes Taschentuch. »Aber er hat mich gesehen! ... Das wird jut mit mir ...«

»Kinders – die Wechsel-Lotte!« schrie hinten eines von den drei Frauenzimmern mit Federhüten und Boas.

Die Ruine einer alten Frau wankte auf Krücken herein. Ärmlich gekleidet. Ein verwüsteter Graukopf. Die Ulanen-Guste sprang mit gierigen Augen auf sie zu.

»'raus mit dem Koks!«

»Die handelt mit dem weißen Pulver!« sagte die Fränze. »Irgendwo hat sie die Briefchen im Rockfutter versteckt!«

»... damit du hier bei mir abgeklappt wirst, olles Aas!« Der Säbelbeinige wankte vom Schenkschragen heran. »Hier is 'n Familienlokal! Verklopp' du deinen Dreck draußen unter der Laterne!«

Die Ulanen-Guste bückte sich wild nach dem grauen Wollstrumpf der Alten, in dem sie das Kokain vermutete. Die hielt sich schmerzhaft, hüstelnd, die gedunsene Hand vor die Brust. Sie krächzte erloschen.

»Erst de Pinke!«

»Lotte – laß mich nur einmal schnupfen!« drängte die Simili-Berta.

»'raus!« Der Kneipwirt packte das gebrechliche Bündel Lumpen und Krücken an der Schulter. Es war ein Getümmel. Das Äppelröschen sah von seinem Tisch aus still zu. In der Eingangstüre standen zwei Männer, dunkel angezogen, in Schlapphüten. Der eine in den Vierzigern, wohlbeleibt, kleinbürgerlich-solide, ein Schnurrbärtchen in den ausdruckslosen Zügen. Der andere – jung, untersetzt, mit vergnüglichem, rundem, bartlosem Gesicht – zwinkerte kaum merklich nach dem Tisch, an dem der Garagenschlosser mit der Fränze saß.

»Nu ist's doch gut, Herr Kommissar, daß Sie mich heute auf die Streife mitgenommen haben! Die Göre dort drüben – das ist die, die mir heute nachmittag auf dem Ottoplatz den großen Unbekannten gezeigt hat!«

»Und der Kerl neben ihr?«

»Kenn' ich nicht!«

»Kommen Sie, Peschke! Die Gesellschaft braucht mich nicht erst zu bemerken! Ich bin hier überall bekannt wie ein bunter Hund!« Der Kriminalkommissar verständigte sich, über das Gezerre um die zu Boden gefallene alte Kokainhändlerin weg, durch einen Augenwink mit dem blassen, jungen Frauenzimmer in der Ecke, die teilnahmlos an einem Strohhalm saugte. »Das ist die Jräfin. Eine von unseren Vigilantinnen. Die ist nun schon im Bild!«

Und draußen, auf der Straße, zu ein paar schnurrbärtigen Männern, die ihn da erwarteten:

»Hier – im elften Lokal, haben mir nun endlich Glück gehabt. Herr Schupo Peschke hat da drinnen das Mädel vom Ottoplatz heute nachmittag wiedererkannt! Na – die und die Veilchen und die ganze Kaschemme kennen wir schon lange. Nun wollen wir uns vor allem den neuen Freund von der Bolle merken – der mit ihr am Tisch sitzt!«

»Für heute«, er wandte sich an den Schupo Peschke, »brauche ich Sie nicht mehr! Sollten Sie noch irgend etwas in Erfahrung bringen, so wissen Sie meine Adresse auf dem Präsidium: Kommissar Dürisch!«

Die düstere Gasse draußen lag menschenleer. Nur drüben, in dem nächtigen Pompeji abgebrochener Wanzenbaracken, bewegte sich zuweilen der Schatten eines, von dem Kommissar zurückgelassenen, polizeilichen Beobachters gegenüber dem verwitterten Schild ›Restaurant Daniel Krüger‹ über den sechs rot verhängten, hellen Fenstern im Erdgeschoß des windschiefen, niederen Hauses.

Die alte Rauschgifthändlerin kam, sich vorsichtig umsehend, auf ihren Krücken herausgehumpelt. Sie wimmerte vor sich hin: »Is det 'ne Welt!« Innen im Lokal beugte der Schlosser Werner seinen frischen und freundlichen, lebhaften Kopf zu dem dunkeln Wuschelhaar der Fränze Häselich und sagte:

»Also ich verspreche Ihnen, daß ich nicht nur morgen komme, sondern Ihnen überhaupt helfe!«

»Ach! Sie haben ja selber nischt!«

»Soviel schon! Sie müssen hier 'raus! Das ist das erste! Dafür werde ich sorgen! Sie müssen nur Zutrauen zu mir haben, Kind!«

Der Fränze blinkten Tränen in ihren blanken Berliner Augen.

»Wenn die mich nicht bis morgen in die Spree geschmissen haben!« versetzte sie hoffnungslos. Ein junger Herr schlenderte leise pfeifend an ihr vorbei, den Hut im Genick, stutzerhaft herausgemustert, eine riesige Wachsperle im feuerroten Schlips. Er ähnelte einem Korpsstudenten, mit den paar langen, rot verharschten Schmissen in dem übernächtigen Gesicht. Aber außerdem lief dem Elegant noch eine furchtbare fingerbreite Narbe halb um den hageren Hals. Er zwickte im Vorbeigehen die Fränze scherzhaft in die Schulter. Sie stieß seine Hand zurück.

»Laß die Zicken, Blaumüller – ja?«

»Na – wart' nur! Der Dicke kommt gleich hinter mir! Der is heut' scharf uff dir!« Der Zuhälter lachte und trat in das Sonderzimmer. Die Fränze stand schnell auf. Sie gab dem Schlosser Werner ihre eiskalte, kleine Hand.

»Gehen Sie jetzt man! Jetzt klappt's! Sie können hier doch nichts helfen! Gegen all die Kerle! Aber kommen Sie morgen! Bitte – – bitte – kommen Sie!«

Draußen stand der Schlosser Werner. Er prägte sich die Nummer des schmierigen, abgebröckelten Gebäudes ein, ohne auf einen Mann zu achten, der breitschulterig, wuchtig über das holperige, halbdunkle Pflaster seinen Weg zur Krügerschen Wirtschaft nahm und mit einem harten Ruck deren Türe aufstieß.

Dann schritt der Fahrer Werner weiter, die finstere, einsame Ruinengasse entlang. An der Ecke las er: Schlünzigstraße. Und an der nächsten Ecke war auf einmal wieder Berlin. Licht. Leben. Litfaßsäulen. Menschen ... immer noch Menschen am späten Abend. Menschen ... Mengen ... Millionen ...

Und der Garagenschlosser Karl Werner ging, und es ging ihm durch den Kopf:

Wohin zieht ihr, ihr Millionen – unter dieser unheimlichen rötlichen Feuersbrunst am Nachthimmel über der Stadt ohne Nacht? Nacht und Not, Küsse und Kummer, Tanz und Tod – es ist ein Wandern – ein Brausen – ein ewig fließendes Riesenrätsel. Und seine Lösung nur, wenn du in all den vieltausend Gesichtern immer wieder dein eigenes Menschenantlitz erkennst ...


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