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Der Dr.. Josef Schraudt stieg wuchtig und langsam die Treppe seines großen, leeren Hauses empor. Er trat in das kahle Bücherschränkegeviert seines Arbeitszimmers und schaltete über dem papiernen Wirrwarr des Schreibtisches den gelben Lichtkreis der großen, grünen Lampe.
An die Scheiben klopfte außen schon die Nacht. Er trat an das Fenster und schaute in die stille Gartengegend des Berliner Nordens hinaus. Spärlicher Schein flimmerte drüben aus Krankenhäusern. Steil schattete ein Kirchturm. Das Herbstlaub des undeutlich dunkeln Friedhofs unten rauschte. Aus einer Buschwildnis zwischen Plankenzäunen schrie eine Katze. Fern die finstere Masse eines Museums. Auf der Schwelle des Raums erschien die alte Haushälterin: »Ein Herr möchte Sie dringend sprechen, Herr Doktor!« Da folgte er ihr schon auf dem Fuß. Sprudelnd die Worte, zuckend die Lippen, zappelig das Händespiel.
»Dreimal war ich im Lauf des Tages schon hier und fand Sie nicht!«
»Ah – Herr Hüsgen – bitte nehmen Sie Platz ...«
»Ich laufe seit heute morgen in Berlin herum und warte auf Sie!«
»Ich brachte heute in aller Frühe einen reuigen, jungen Leichenfledderer zu einem Bäckermeister in der Uckermark in Lehre ...«
»Und ich ... Meine Zeit ist doch auch kostbar – nicht wahr? Ich habe doch über wichtige Dinge mit Ihnen zu reden – nicht wahr?«
»Womit kann ich dienen, Herr Doktor?«
»Wir sind doch alte Freunde – nicht wahr?«
»Ich erlaubte mir wenigstens neulich, im Interesse meiner Gefangenenfürsorge, Ihr Haus aufzusuchen, und Ihre Frau Gemahlin hatte die große Güte, mich bei dieser Gelegenheit unter die Gäste des Hauses aufzunehmen!«
»Pah! ... Pah! ... Pah! ... Wir kennen uns schon länger! Wir haben einen gemeinsamen Freund!« Gebhard Hüsgen rieb sich geschäftig die Hände. »Ich habe Sie doch schon vor einem halben Jahr mit dem Dicken in der Kaschemme sitzen sehen ...«
»Mit dem Dicken? ... Ach so ... dem schauderhaften alten Zuchthäusler und Zuhälter ... Ich erinnere mich dunkel ...«
»Ungefähr um die Zeit, als ich mit dem Dicken in Geschäftsverbindung trat! Ich bin Kunstsammler – nicht wahr?«
»Gewiß – aber was hat das damit ...«
»Manchmal findet man in Trödelkellern ein Kleinod. Es kommen da aus Rußland zuweilen noch wunderbare Sachen in wilde Pfandleihen im Berliner Osten. Seit Jahren treibe ich mich da herum. Bei einer solchen Gelegenheit lernte ich den Dicken kennen und schätzen ...«
»Herr Hüsgen – es ist meine frei gewählte Lebensaufgabe, daß ich mit dem Abschaum der Menschheit verkehre. Also vielleicht auch ein- oder zweimal mit dem Dicken! Aber was einen Mann in Ihrer Lage veranlaßt, sich mit einem solchen Kerl zu befassen ...«
»Zuerst bezog ich von dem Dicken gestohlene Kunstgegenstände – Sie verstehen ...«
»Nein. Ich verstehe Sie nicht!«
»Hi – hi – die halt' ich gut verwahrt! Die seht ihr nicht! Die betrachte ich nur heimlich des Nachts!«
»Herr Hüsgen ...«
»Denken Sie mal an!« Gebhard Hüsgen lachte herzlich.
»Auf einmal konnt' ich vor einigen Monaten dem Dicken bei Nacht nichts mehr abkaufen und dem Rösing nicht bei Tag! Hoppla: Mein vieles, vieles, vieles Geld war bis auf den letzten Groschen weg! Alles für mein Museum!«
»Hören Sie mal ...«
»Woher Geld nehmen und nicht stehlen? Da sagt' ich mir ...« Der Gemäldesammler hob verklärt den feinen Kopf: »Warum nicht selber stehlen? Alle Menschen außer uns beiden sind doch verrückt – nicht wahr? Die geben ihr Geld für Aktien und Seidenschleppen und Hummern aus! Da nimmt man es den großen Kindern doch lieber weg und verwendet es für die heilige Kunst ...«
»Machen Sie sich über mich lustig?« Drüben zogen sich düster die buschigen Brauen über den finsteren, tiefliegenden Augen zusammen. Der Besucher achtete nicht darauf. Er beugte sich vor und nickte schalkhaft.
»Diebstahl ist auch eine Kunst. Eine große Kunst. Was versteht der Dicke und sein Volk davon? Dürftigste Volksschulbildung – nicht wahr? ... Unwissende, täppische Halbmenschen ... nicht wahr?«
»Erklären Sie mir endlich ...«
»Was wüßten die, wo im Westen was zu holen war? Hinterm Stehlen muß der Sturmwind sein – nicht wahr? – das heilige Feuer ... Ich hab' erst Schwung in die Kolonne gebracht! Seitdem kennt und schätzt uns ganz Berlin ... nicht wahr?«
»... bis zu dem Einbruch heute nacht! ... Die Krönung meines Lebens – die große Zwangsanleihe bei der Hauptbank ist mißglückt! Das wissen Sie ja ...«
»Nein.«
»Seit zwei Stunden schreien es die Zeitungsverkäufer auf allen Straßen – nicht wahr?«
»Ich komme eben vom Bahnhof! Ich habe kein Abendblatt gelesen!«
»So ... so ... so ... Ja ... Weißt du ... Ich bin ein Napoleon ohne Heer. Meine alte Garde ist bis auf den letzten Mann gefangen!«
»Herr Hüsgen – ich weiß nicht, warum Sie mein Interesse an den Parias der Gesellschaft mißbrauchen, um mir diese Räubergeschichten aufzubinden! Wenn ich ein Wort davon glaubte, müßte ich Sie ja der Polizei übergeben!«
»Das werden Sie nicht!« Eine sanft abwehrende Handbewegung drüben. »Sie werden schweigen wie das Grab! Nicht wahr?« Ein schmerzliches Zungenschnalzen. »Die ganze Kolonne abgefaßt. Der Dicke tot. Ich stand selbst an seiner Leiche. Er allein hat gewußt, wer ich bin!«
»Herr Hüsgen: Ist das eine Wette, wie lange meine Leichtgläubigkeit oder meine Geduld reicht? Jedenfalls bitte ich jetzt ernstlich: Machen Sie ein Ende!«
»Nein – mich kriegen sie nicht!« sprach der Kunstsammler sinnend. »Ich bilde mir schon wieder eine neue Kolonne. Aber das braucht natürlich seine Zeit, und ich habe eine dringende, große Zahlung! Die wollt' ich mir heute nacht bei dem Bankhaus Wiebeking besorgen ...«
»Wo ...?« Der Dr.. Schraudt fuhr hastig auf.
»Das wäre ein Schlag gewesen wie keiner!« Der schmächtige, nervös in sich schlotternde Mann trällerte leise und leidvoll vor sich hin. »Man steht schon im Panzergewölbe des Hauptgeschäfts ... Man hat schon die ersten fünf, sechs Stahlkammern geöffnet – nicht wahr? ... Darunter auch Ihre, Herr Doktor Schraubt ... Sie verstehen ...«
»Was phantasieren Sie da ...« Bebend die dunkle, dumpfe Stimme. Leise zitternd die jäh aufgesprungene, massig in dem halbdunkeln Zimmer vor dem Besucher stehende Gestalt.
»... da wird man gestört ... Gott sei Dank ... Ich habe vorher den sechsten Sinn – nicht wahr? ... Ich war gerade zehn Minuten vorher durch den Tunnel mit meinem Fund nach dem Ausgangspunkt in die Werkstatt zurückgekrochen – nicht wahr ...?«
»Welchem Fund ...?«
»... der allein ein Vermögen wert ist ...« Gebhard Hüsgen lächelte zutraulich. »ch weiß: Sie haben Ihr riesiges Vermögen ganz wo anders liegen. Sie haben es bei dem Bankhaus Kieselbach – dem guten Kieselbach in Verwaltung ... Geht einem auf die Nerven – nicht wahr? ... Das Kerlchen mit seinen ewigen Berliner Börsenwitzen – nicht wahr? Schade um die schöne Frau ...«
»Ich weiß nicht, was ich dabei zu tun habe ...«
»Aber es ist ja ganz begreiflich – es ist ein Gebot des Feingefühls – nicht wahr? ... daß Sie der Stahlkammer des Herrn Kieselbach nicht gerade die Liebesbriefe seiner Frau an Sie anvertraut haben – nicht wahr?«
»Sie haben sie doch nicht ...«
»Doch. Ich habe sie!« Der Sammler nickte schelmisch und zog ein Päckchen Papiere aus der Brusttasche. »Da. Ich zeige sie Ihnen! Aber nur von fern! Sie verstehen! In der andern Hand hab' ich 'nen Revolver, wenn Sie näher kommen!« Neugierig. »Haben Sie keinen Revolver?«
»Ich habe nie eine Waffe!«
Gebhard Hüsgen steckte die Briefe wieder sorglich ein.
»Das kommt davon! sprach er vertraulich. »Frau Kieselbach schreibt Ihnen nicht nur immer wieder, daß sie sich wegen ihrer beiden Kinder nicht von ihrem Mann trennen kann – nicht wahr?«
»Die Briefe ...«
»... sondern sie bittet Sie auch in jedem Brief, den Brief sofort zu verbrennen – nicht wahr? Das haben Sie nicht getan. Sie waren zu verliebt. Sie verstehen ...«
»Um Gottes willen ... die Briefe ...«
»... und führten sich deswegen als Wohltäter der Menschheit bei meiner verrückten Frau ein, um sich mit ihrer Freundin Iris Kieselbach dort unauffällig zu treffen – nicht wahr?«
»Die Briefe ...«
Der Privatgelehrte stürzte an das Telephon.
»Ist dort Bankhaus Wiebeking? ... Ich komme eben von der Reise ... Ist heute nacht wirklich ein Einbruch ...? Meine Stahlkammer? ... Doktor Schraudt ist mein Name ...« Er horchte. Er furchte die Stirne. »Nein. Danke. Es braucht keine Verhandlungen! Ich erhebe keine Entschädigungsansprüche. Ich hatte nur ein Paket Geschäftspapiere in dem Safe, die für einen Dritten wertlos sind!«
Er setzte sich. Er stützte den massigen Rundschädel in die breiten Hände. Er fuhr auf.
»Geben Sie mir die Briefe!«
»Ich verkaufe sie!« sagte der Sammler sanft.
»Sie können sie ja zum Glück zahlen!« fuhr er heiter fort. »Für heute brauche ich nur hunderttausend Mark bar, als Anzahlung auf den Andrea del Sarto. Sie verstehen – die späteren größeren Zahlungen – nicht wahr – geben Sie mir in Wechseln. Darüber einige ich mich mit den Leuten schon. Ihre Unterschrift ist ja bar Geld! Zug um Zug kriegen Sie von mir die Briefe!«
»... und Sie mein ganzes Vermögen ...«
»Ich leihe es doch nur!« belehrte der Irre milde. »Ich sagte Ihnen doch schon: Ich bilde sofort eine neue Kolonne. Sowie die im Betrieb ist, erhalten Sie Ihr Darlehen zurück!«
»Durch Raub und Diebstahl ...«
»Sie leben ja selbst für die Räuber und Diebe!«
»Ich rette Menschen!«
»Und ich sammle Kunstwerke!« kreischte es drüben. »Und ein Rembrandt ist mehr als ein Einbrecher. Und eine Raffaelsche Madonna mehr als eine alte Ladendiebin!«
»... wo Sie selbst sich mit dem Gesindel Verbrüdern ...«
»Ich benutze es zu meinen höheren Zwecken! Für Sie ist es Selbstzweck! Sie sind für die Krankheit ... Ich bin für die Schönheit!«
»Sie vernichten meine Lebensaufgabe!«
»Ich erfülle meine! Die steht höher!«
»Ich kann mich nicht von meinem Werk trennen!«
»... und ich mich nicht von meinen Kunstwerken!«
Der Irre stand behutsam auf. Er schob sich, mit dem Rücken gegen die Türe, geräuschlos gleitend, nach dem Ausgang. Er behielt den finsteren, plumpen, wild keuchenden Mann im Lichtkreis der grünen Lampe drüben unverwandt im Auge. Er rieb sich verbindlich die Hände.
»Nun ...?«
»Nein!«
»Ich gehe jetzt zu Herrn Kieselbach! Sie verstehen – nicht wahr ...?« sprach der Sammler friedlich. »Es wird vorn schon zu sein. Aber es ist ja noch früher Abend. Er arbeitet sicher noch in seinem Privatkontor! Nicht wahr?«
»Warten Sie! Ich komme mit!«
»Und dort, Herr Doktor Schraubt ...?« Ein verschmitztes Blinzeln in den wolkig-gläsernen Augen.
»Ich zahle Ihnen in Gottes Namen die Summe! Kieselbach sperrt mir zuliebe schon seinen Kassenschrank auf!«
»Dann brauche ich mich dort bei ihm nicht zu zeigen, sondern warte auf Sie draußen vor der Bank – nicht wahr?« sprach Gebhard Hüsgen erfreut. »Gehen Sie vor mir die Treppe hinunter, Herr Doktor! ... Sie verstehen ...« Und unten mit heller Fistelstimme: »Nein – ich hab' vor Ihnen Angst! Ich setze mich nicht neben Sie in eine dunkle Droschke! Wir gehen zu Fuß! Ich schleiche still hinter Ihnen ...« Und auf dem Weg längs des Schiffahrtskanals zum Humboldthafen, ein kichernder Schatten: »Mich verlieren Sie nicht!«
Weit und öde dunkelten zur Linken der beiden einsamen Fußgänger, mit Haufen von Ziegelsteinen, Holzstapeln, Schichten von Eisenschienen die verschwimmenden Pflasterflächen der Kais. Zur Rechten spiegelte sich schwarz das Wasser des Kanals. Wenig Menschen kamen vorbei. Gerhard Hüsgen hielt vorsichtig zehn Schritte Abstand von der wuchtig stiefelnden, breitschulterigen Gestalt vor ihm. Der Irre lächelte. Er versank immer mehr in feine Gedanken. Sein hageres Gesicht gewann einen frommen, verträumten Ausdruck.
Eine plötzliche Kehrtwendung auf dem Absatz – da vor ihm ... der Boxhieb einer Bauernfaust auf seine Stirne, zwischen die Augen – hart, im Sturz, das Pflaster ... Ein Schnaufender, Wütender kniet auf ihm – hält ihm die nach der Waffe krabbelnde Rechte fest ... die andere fremde Hand reißt ihm Paletot und Rock auf, daß die Knöpfe rollen, fingert fiebrig in die Tasche, zieht Papiere heraus.
Josef Schraudt stand schwer atmend neben dem am Boden Liegenden. Er öffnete seinen Mantel, schob die Briefe der Iris Kieselbach hinein. Seine beiden Hände waren beschäftigt. Ein Würgeriff umkrallte ihm die Kehle. Gebhard Hüsgen war aufgesprungen. Die drosselnden Finger des Irren hatten Riesenkräfte.
Die Finger drohten, im Gestolper der beiden längs des Kais, den mächtigen Mann zu ersticken. Er riß sich mit letzter Anstrengung los. Er versetzte, halb betäubt, dem Gegner einen Abwehrstoß vor die Brust, daß dessen schmächtige Gestalt rücklings über den Rand der steinernen Kanalböschung taumelte.
Vereinzelt ankerten, an dieser einsame Stelle des Wassers, im Dunkel Kähne. In der einen Kajüte saß der Schiffer mit seiner Frau beim Abendessen. Er hob den Kopf von den Kartoffeln mit Grieben.
»Hast du nischt gehört, Mutter?«
»Wat soll's denn sein, Hinrich?«
»Da hat's eben drüben so 'nen Plumpser getan ...«
Beide horchten. Die Frau schüttelte den Kopf.
»Nee – lat man gut sin! Da is ja woll allens wieder still!«