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Leuchtende Augen beim Auflegen des Hörers. Lange Sprünge durch das würdevolle Schweigen der Prunkräume in der Halle.
»Leopold ...« Der Dr.-Ing. Wiebeking klatschte in die Hände. »Stiller im Lande ... man fix ...« Und als das faltige, ältliche Dienerantlitz sorgenvoll auftauchte, »... Sie tranken gerade Ihren Abendtee? Meinetwegen, Mann Gottes! ... Hut und Mantel! Der Markwart soll schleunigst vorfahren! ... Der ist mit meinen Eltern nach Pommern? Und der Klappert? Hat heut' Ausgang? Na – einer von den Dreien soll doch immer ...«
»Der Wietrich hat heute Dienst! Er ist nur gerade fix für 'nen Augenblick auf die Straße!« Das Gesicht des stillen Leopold verzog sich schmerzlich. »Wenn die Minna drüben abends die beiden Pekinesen von der Frau Generalkonsul lüftet, dann ist der Wietrich nicht zu halten!«
»Na – dann die nächste Taxe, die vorbeifährt!« Werner Wiebeking sprang in die Droschke. »Grunewald, Westallee siebzehn. Leopold: Dort soll auch der Wietrich, wenn er wieder Mensch ist, zur Rückfahrt auf mich warten! Los!«
Der Diener Leopold eilte in die Villa zurück, in der das Telephon schrillte. Er horchte hinein. Seine gemessenen Züge runzelten sich in mißfälligen Falten.
»Warten Sie mal!« sprach er knapp und begab sich mit seinen lautlos gleitenden Bewegungen hinüber zu der bebrillten Jungfer.
»Nun rücken einem die Brüder vom Wedding schon sachte auf den Leib, Elise! Da draußen hängt der Stiefvater von der Berliner Pflanze an der Strippe. Er sei Steuerzahler mit geistigen Getränken, dem sie ohnedies egal auf die Finger kiekten, und es stände ein Wachtmeister vom Revier hinter ihm! Der wolle mit der Fränze Häselich selber sprechen, ob sie wirklich hier wäre und nicht von der Kolonne irgendwohin verschoben!«
Die Jungfer Elise überlegte.
»Ehe es noch Krach mit der Polizei gibt ... Der Doktor und die Olle haben ja 'nen Narren an dem Balg gefressen.« Sie öffnete die Türe zu der Kammer, in der die Fränze immer noch mit braungläsernen Augen auf dem Stuhl hockte. »Fräulein: Ihr Revier hat 'ne liebevolle Pupille auf Sie geworfen! Stillen Sie mal dem seinen Wissensdurst!«
Die Fränze ging willenlos, schleppenden Schritts, an den Apparat. Sie nahm den Hörer ans Ohr. Sie begann leise zu zittern ...
»Kennste die Kehltöne?« Ein tiefer, heiserer Baß raunte durch den Draht. »Als wie icke – der Dicke! Der Dicke in Lebensgröße! Verstehste mir? Nun sag' mal erst artig: ›Guten Abend, Herr Wachtmeister!‹ ...«
»... Guten Abend, Herr Wachtmeister ...«
»Ick hab' eben mit dem Ale gesprochen. Er sagt, er hätte dir jenau auseinanderjepolkt, was du morgen nacht zu tun hast ... Sag: ›Jawohl, Herr Wachtmeister ...‹ Es steht sicher jemand neben dir und hört zu!«
Die Fränze Häselich schaute einen Augenblick scheu nach der Jungfer Elise, zwei Schritte von ihr. Ihre Stimme erlosch fast.
»Jawohl, Herr Wachtmeister!«
»... und ick sag' dir nur eines: Paß uff, Mächen, und halt' die Klappe wie'n toter Leichnam uff'm Kirchhof um Mitternacht ... Na – was sollste antworten: ›Jawohl, Herr Wachtmeister!‹ ...«
»Jawohl, Herr Wachtmeister ...«
»Nimm dir zusammen und verpfeif' den Ale nicht noch mal! Sonst hau' ick dich kurz und klein, daß du deine Knochen im Schnupftuch sammeln kannst! Na – wie is es mit der Antwort?«
»... Jawohl, Herr Wachtmeister!«
»Ick verlaß' mich auf dich – dein guter Freund – der Dicke! ... Nu sprich – so recht aus'm Jemüt: ›Ich bin hier bei guten Leuten, Herr Wachtmeister‹ ...«
»Ich bin hier bei guten Leuten ...« stöhnte die kleine Häselich. Die Jungfer Elise trat mißtrauisch einen Schritt näher.
»Aber die Herrschaften sind über Land ...«
»Die Herrschaften sind über Land ...«
»Was ziehen Sie denn für einen komischen Flunsch, Fräulein?« forschte gedämpft die Stimme der kleinen, spillrigen Person nun dicht neben ihr.
»... ›Ich weiß noch nicht, was aus mir wird‹!« sprach es dumpf im Draht vor. »›Vielleicht rufen mich der Herr Wachtmeister morgen noch einmal an‹!«
»Ich weiß ... noch nicht ...« Die Fränze schrie es plötzlich. Sie hängte mit einem milden Griff den Hörer an den Haken. Sie floh von dem Apparat – den Gang entlang – in die noch hellen Vorderräume hinein. Die Jungfer atemlos hinterher.
»Wo ist der Herr Doktor?«
»Fräulein – da vorne haben Sie gar nichts zu suchen!«
»Wo ist der Herr Doktor ...?« Die Fränze Häselich rannte weiter durch die totenstille, feierliche Zimmerflucht. »Ich muß dem Herrn Doktor was sagen ...«
»Ob Sie stehenbleiben ... Nein! Läuft doch das Frauenzimmer im Haus herum, als ob es ihr gehörte ...«
»Herr Doktor – um Gottes willen ... wo ist er?«
»Fräulein ... Schluß mit dem Theater!«
»Hu ...« Die Fränze prallte mit einem Kreischen des Entsetzens auf der Schwelle zum Arbeitskabinett des Geheimrats Wiebeking zurück und streckte den zitternden Zeigefinger aus. »Da sind schon welche eingestiegen! Da stehen sie im Dustern in der Fensterecke!«
»Quietschen Sie doch nicht so unchristlich!«
»Ganz kleine Kerle haben sich da verstochen – einer neben dem andern ...«
»Das sind die Rollen von den Bauplänen, die die Kassenboten vorhin für den Herrn Geheimrat gebracht haben!« sagte die Jungfer Elise trocken und faßte die Kleine am Arm. »Das könnte Ihnen so passen – was? ... Gleich hier im Hause die Bekanntschaft mit dem Nachtdoktor machen ...«
»Hu ... Hu ...«
»Nun kommen Sie vor allem gefälligst da 'raus! In die guten Stuben hier sind Sie weiß Gott nicht großgezogen!«
Die Fränze ließ sich ohne Widerstand bis in die Halle zurückführen. Aber dort riß sie sich von der Spinnenhand der Jungfer los. Die keifte:
»Sie sollen nicht so rasaunen! Das gehört sich nicht in einem so feinen Haus!«
»Ich will zum Herrn Doktor! Er hat gesagt, Sie müssen mich jederzeit zu ihm führen, wenn ich ...«
»Der Herr Doktor ist doch weg!«
Draußen surrte ein Stadtwagen vor. Ein junger Chauffeur stürzte herein und schaute sich ratlos um.
»Nun kriegen Sie Ihren Schnaps, Wietrich! Das kommt davon, daß Sie egal mit der Minna poussieren!« sagte die Jungfer.
»Herrgott – wie kann ich denn wissen ... die Ollen sind abjestunken! Und daß der Doktor auf einmal wieder hier in der Villa pennt ...«
»In 'ner ganz gemeinen Taxe is er abgefahren! Und Sie sollen, sobald Sie von Ihrem Liebeskummer genesen sind, hinterdrein! Westallee siebzehn!«
»Na – ick sause ...«
»... und ich mit!« schrie die Fränze.
»Marsch jetzt nach hinten!«
»Ich fahr' mit!« Die Kleine kämpfte gereizt wie eine Katze mit der kurzsichtigen Elise. Sie verdrehte ihr, mit einem blitzschnellen Fingergriff, die haltenden Hände. Die Jungfer rieb sich die geröteten Knochen.
»Was sind denn das für Kaschemmenkniffe von der Rübe ...«
»Der Herr Doktor hat gesagt: Ich darf immer zu ihm kommen!« Die Fränze stemmte herausfordernd die Fäuste in die Seite und beugte sich kampflustig vor. »Is wahr – oder nich?«
»Gesagt hat er's ...«
»Sie haben die Verantwortung«, die Fränze Häselich schrie es mit irren Blicken, »wenn durch so 'ne olle Spinatwachtel ...«
»Spinatwachtel sagt sie auf mich – die ausverschämte Puppe ...«
»... wenn da das größte Unglück hier im Hause geschieht ...«
»Zugehen tut's hier im Haus, seit die da ist, Wietrich!« sagte die Jungfer Elise erschöpft. Und der Chauffeur ungeduldig:
»Für mich ist's höchste Zeit! Soll ich ihr nu mitnehmen oder nich?«
»Stoppen Sie sie in Gottes Namen neben sich!« Ein Blick zum Himmel durch die Brille. »Der Herr Doktor will's! Ich wasche meine Hände in Unschuld!«
Der Wagen raste durch Charlottenburg. Der Fahrer Wietrich frug, in polizeiwidrigem Schwung um die Straßenecken, die kleine Berlinerin, die stumm, mit bloßem, dunkeln Wirrkopf und in einem dünnen Jäckchen, zu seiner Rechten kauerte:
»Was haste denn dem Doktor zu melden, wo's brennt?«
Keine Antwort.
»Na – dann schweige dir man aus!«
Hinter der Halenseebrücke verstärkte der Chauffeur Wietrich sein Tempo auf sechzig, auf siebzig Kilometer.
»Heute können sie mir aufschreiben! So 'ne dammlige Taxe hol' ich noch lange ein! Ich bin noch vor dem Doktor an Ort und Stelle! Dahinten – der kleene Luna-Park mit den vielen bunten Laternen – wo die Wagen alle vorfahren – das muß det Lokal sein!«
Er stieß im Halten einen leisen Freudepfiff durch die Zähne.
»Da steigt der Doktor eben aus seiner Droschke!« Er kletterte hastig vom Sitz und lief schuldbewußt auf Werner Wiebeking zu, der dem Kutscher zahlte. »Herr Doktor ... Herr Doktor ... Da bin ich ... Herr Doktor – ich war gerade nur 'nen Moment vor's Haus ...«
»Ich freue mich, daß Sie soviel Interesse für Hundezucht haben! Pekinesen sind etwas Seltenes und Schönes!« sagte der Dr.-Ing. Wiebeking statt der gefürchteten Strafpredigt, und, während der Chauffeur erleichtert aufatmete: »Nun hemmen Sie hier nicht den Verkehr, sondern bauen Sie sich seitlings auf!«
»Herr Doktor, das Mächen wollte partuh mitkommen!«
»Nanu?« Der junge Mann erkannte im dunkeln Rahmen der Fensteröffnung des Stadtwagens das wachsbleiche, schmale Gesichtchen der Fränze Häselich – den Mund schreckensweit offen – die Augen starr aufgerissen. Er trat näher und half ihr heraus.
»Kind – was ist denn passiert?« Er zog sie mit sich über den breiten Fahrdamm auf den dunkeln und leeren, baumüberdachten Bürgerweg gegenüber dem Haus Hüsgen. Viele Italienfahrer und Italienfahrerinnen bewegten sich vor der Villa in neckisch-südlichen, herbstlich-lichten Reisekleidern, mit grünen Autoschleiern und umgehängten Opernguckern und roten Baedekern auf dem taghellen, grünen Rasen unter den farbigen Glühwürmern der Papierlaternen, und immer neues Berlin W strömte der frösteligen Riviera zwischen den Grunewaldföhren zu. Alle Fenster der Villa leuchteten in die Nacht. Leise Musik webte hinter den hohen Scheiben des heute in Tanzsäle umgewandelten Museums.
»Nun reden Sie, Kind! Es muß sich doch um etwas ganz Besonderes handeln!«
»Herr Doktor – der Dicke ...«
»Ach Gott – der Dicke – wenn's weiter nichts ist ...«
Die Fränze rang nach Luft. Sie schauderte leise.
»Stehen Sie nicht da wie ein Ölgötze, Fränze! Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß! Denken Sie sich: Ich bin den unheimlichen Kerl los für immer ...«
»Herr Doktor ...«
»Beißen Sie die Zähne zusammen!«
Die Zähne der Fränze Häselich klapperten.
»Ja ...«
»Sagen Sie sich: Ich will!«
»Ja. Ich will!« schrie die Fränze Häselich plötzlich wild.
»So ist's recht!«
»Ich will! Ich will!« Ihre Lippen flatterten. Ihre Augen flackerten. Ihr Körper zitterte. »Ich will Ihnen sagen, was mit dem Ale ist ...«
»Na – da bin ich gespannt ...«
»Ja – so reden Sie doch ...«
Aber die Fränze Häselich stand entgeistert. Sie hob langsam den rechten Arm. Sie deutete nach dem hellbewegten Nachtbild der vorfahrenden Wagen, der aussteigenden Menschen im farbigen Lichterglanz des Portals drüben.
»Fränze – ist Ihnen ein Gespenst erschienen?«
»Herr Doktor ... ...« Sie flüsterte geistesabwesend.
Ihr Blick hing gelähmt am Eingang der Villa.
»Na?«
»Der Ale ...«
»Der Ale ... Der Ale ...! Also was ist mit dem Ale?«
»Herr Doktor – da geht der Ale eben ins Haus!«
»Was?«
»Da geht der Ale eben ins Haus!«
»Sind Sie verrückt?«
»Na – ich kenn' ihn doch! Das ist der Ale!«
»Wer?«
»Der jüngere Herr ...«
»Wo denn nur?«
»... der mittelgroße, glattrasierte ...«
»Zeigen Sie mir ihn doch, um Gottes willen!«
»Der Diener kennt ihn gut! Er verbeugt sich tief vor ihm!«
»Wenn ich ihn nur sehen könnte ...«
»Jetzt ist er schon drinnen!«
»Der Nachtdoktor in dem Haus?«
»Ja.«
»Wahr und wahrhaftig?«
»Und wenn die mich kalt machen – ja!«
»Warten Sie hier, Fränze!« sagte der junge Mann hastig. »Ich spreche drinnen mit der Dame des Hauses! Bleiben Sie stehen, wo Sie sind! Versprechen Sie mir das?«
»Ja.«
»Mein Chauffeur drüben paßt auf Sie auf! Ich komme gleich wieder und hole Sie!«