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Frühe Nacht über Berlin. Berlin wimmelt und kribbelt. Rasselt und rollt. Läutet und lacht. Tutet und flutet. Scheinbar immer dieselben Gesichter im Kreislauf der Millionen.
Und doch verändert sich dort im dunkelsten Berlin das Gesicht Berlins: Müßig beisammenstehend bleiche, junge Kerle, die Mützen im Genick. Schlampige Weiber an den Straßenecken. Bärtige Patriarchen, wie vom Filmregisseur zurechtgemacht, in schwarzen Torhöhlen. Schatten in den Hinterhöfen. Langsam durch den aufgerührten Bodensatz der Weltstadt wandelnde Schupo-Zwillinge ...
›Heute abend Tanz‹ – Werner Wiebeking las es auf dem Weg von seinem zurückgelassenen Wagen zur Schlünzigstraße. ›Löffelerbsen mit Speck‹ ... ›Café zur Gemütlichkeit‹ – und da, einsam, dunkel, nahe der Spree: ›Krügers Restaurant‹.
Um diese Stunde ganz leer. Hinter den rot erleuchteten Fenstervorhängen dusselte Vater Krüger einsam zwischen den Rollmöpsen und Soleiern seiner Theke und rieb sich gähnend die verschlafenen Schnapsäugelein.
»Da biste ja schon wieder, Mensch! ... Setz dir! ... Wat willste haben?«
»Nichts! Ich will die Fränze abholen!« sagte Werner Wiebeking.
»Ach nee!«
»Jetzt wo's duster is und niemand im Lokal! Ich soll sie anderswohin bringen!«
»Auftrag vom Dicken?«
»Du darfst noch viel höher 'raufraten, du Dussel!«
»Weiß ick doch, det du janz injeweiht bist!« Daniel Krüger erhob sich achtungsvoll auf seine kurzen Säbelbeine. »Na – ick danke meinem Schöpfer! Ick jenehmige mir 'nen Hochachtungsschluck, wenn ick det Jewürm jlücklich aus dem Haus hab' ... Na komm!«
Und auf der Treppe zum Oberstock, geschäftig vorauswatschelnd, heiser:
»Bisher hat noch keener vom Revier wieder nach der Fränze jemeckert! Aber ick bin 'n oller, erfahrener Mann – ick traue der Polente nich!« Er sperrte eine Tür auf.
»Fränze – mach' dir fertig! Dein Freier is da! Et jeht nach Italien!«
»Fränze!« Der junge Mann stand ungeduldig vor dem schmalen, eisernen Bett, auf dem etwas, unter der Decke vergraben, zuckte und schluchzte. »Ich bin's! Kommen Sie!«
»›Sie‹ sagt er ooch noch uff det Balg!« Vater Krüger feixte.
»Fränze!« Er flüsterte ihr ins Ohr: »Ich bring' Sie zu einem freundlichen Fräulein in der Färberstraße. In einen netten Obstladen. Da können Sie nach Herzenslust ...« und laut: »Aber nun 'mal auf!«
»Det is nich wejen der Schenierlichkeit! Sie is ja janz anjepellt! Sie will bloß nicht 'raus – das Luder ...«
»Fränzel! Ich mein' es doch gut ...«
»Aber ich bin so schlecht!« stöhnte es unter der vermotteten, alten Wolldecke. »... Wo ich ihn doch zuerst gestern bei euch 'ringelassen hab'!«
»Hat sie einen bei euch nachts ausbaldowern lassen?« Daniel Krüger rieb sich die speckige Glatze. »Na – det stimmt einen ja schon milder!«
»Und hinterher dann ... ach – ich weiß ja gar nicht mehr, was ich tu'!« keuchte es in den Kissen.
»Fränze – das erzählen Sie mir alles nachher! Aber jetzt ...«
»Schmeißt mich doch in die Spree! ... Ich verdien' nich zu leben! Erst bring' ich da Unglück – denn bring' ich dort Unglück! Durch mich geht alles verschütt! Ich kann Ihnen nicht ins Gesicht sehen, Herr Doktor!«
»Herr Doktor is jut!« Der alte Krüger drängte den andern zur Seite. »Du machst det viel zu gebildet, Mensch!« Plötzlich brüllte er los. »Willste warten, bis der Dicke kommt?«
Die Fränze sprang, völlig angekleidet, auf die schmalen, in gelben Halbschuhen steckenden Füße. Sie starrte entsetzt um sich. Sie langte nach ihrem kaninbesetzten Mäntelchen.
»Na – schnell – schnell!« drängte der Stiefvater. »Det ick bloß erst uff'm Alex mit propperem Jewissen die Finger uffheben kann, det du mir hier nich mehr bewußt bist ...«
Die Fränze suchte nach ihrem roten Topfhut. Sie flatterte irr in der Stube herum wie ein gescheuchter Spatz.
»Fertig, Fränze?« Werner Wiebeking trat mit ihr auf die morschen Dielen des halbdunkeln Flurs. »Vorwärts!«
»Nee – nu laßt det mal unterwejens!« Der kleine Krüger horchte und spuckte aus.
»Warum sollen wir nicht die Stiege 'runter?«
»Weil et zu spät is, Mensch!« Ein Grinsen drüben unter der Glatze. »Haste deine Ohren zujeknöppt? Da kommt doch der Dicke die Treppe 'rauf!«
Und ein schadenfrohes Zwinkern gegen die Fränze hin und nur die zwei Worte:
»Nu aber ...«
Es stieg wuchtig die krachenden, ausgetretenen Stufen empor. Eine breitschulterige Boxergestalt im Zwielicht. Ein steingraues, schläfrig-bösartiges Bulldogg-Gesicht mit breitflügeliger Nase und aufgeworfenen Lippen unter starrem Borstenhaar. Ein grimmiges:
»Na – wat denn – wat denn? Wer vergreift sich denn da an der Puppe? Det is meine Sache!«
»Na – den Kunden kennste doch ...«
»Wer soll denn det sein?«
»Den Kunden haste uns doch selber warm ans Herz jelegt – neulich – wie sie ihn bei Feuerstaken versohlen wollten! ... Da haste dich doch noch vor ihn gestellt und jesagt: ›Wat der tut, det jetzt richtig!‹ Deswegen hab' ick mir jetzt injebildet, der holt die Fränze in eurem Auftrag ...«
»Den muß ick mir doch bekieken!« Der Dicke trat, brutal durch das Zwielicht zwinkernd, näher. Plötzlich wiegte er sich breitbeinig, mit vorgestrecktem Oberkörper, und ballte die mächtigen Fäuste.
»Sie sind's!« Und zu dem Säbelbeinigen. »Det jing damals in Ordnung – bei Feuerstake – aber nu nich mehr!« Er drehte wieder die breitgewölbte Brust gegen Werner Wiebeking. »Seitdem is uns 'ne Jasbeleuchtung uffjejangen, wer Sie sind!« Er grinste. »Ick hab' die Fränze unterdessen schon bei Ihren verehrten Herren Eltern im Jarten besucht. Sie haben det bloß in der Zerstreutheit nich bemerkt!«
Die kleine Häselich heulte leise. Er packte sie als sein Eigentum am Arm.
»Det könnte Ihnen so passen: det Mächen auf die Polizei bringen – und uns ins Loch – durch das, was sie da quatscht ...«
»Ich bringe das Mädchen in Sicherheit!« sagte der Dr.-Ing. Wiebeking. »Kommen Sie mit mir, Fränze!«
»Fränze – untersteh dir! ... Und Sie ... Ick jebe Ihnen eine Minute, det Sie sich unsichtbar machen! Det jeht um Ihr Leben!«
»Ich glaube, ich nehme es noch mit Ihnen auf!« Werner Wiebeking griff im Halbdunkel nach dem Browning in der Hosentasche und entsicherte den Stellhebel. »Lassen Sie mich jetzt mit dem Fräulein Häselich durch!«
»Fräulein Häselich – so 'n Stiesel!« Der Glatzkopf kicherte. Dumpf der Dicke:
»Nu wird's Tag!«
»Fräulein Häselich ist großjährig!«
»Et is mir nich wejen Ihnen!« Die kleinen Augen drüben funkelten bösartig. »Nur wegen der Aaserei hinterher, mit der Polizei! Det 's nämlich 'n Millionär, Krüger! Da regen sich die uff – beim Leichenbegängnis!«
»Kommen Sie, Fränze!«
»Zurück – sag' icke!«
»Mutter – stör' jetzt det zärtliche Zwiejespräch nich!« schrie Daniel Krüger. Der schwammige, schnurrbärtige Koloß keuchte die Hühnerleiter empor.
»Die Polente – die Polente ... Zum Glück hat's die Juste an der Straßenecke jesehen ... Sie sind schon dabei, det Haus zu umstellen ...«
»Fürchten Sie sich nicht, Fränze! Halten Sie sich immer hinter mir! Hier in der Ecke, bis die Polizei kommt!«
In der Faust des Dicken schnurrte etwas Schuhlanges, Stählern-Elastisches wie eine Schlange durch die Luft. Es traf Werner Wiebeking, während er den Browning in Drohbereitschaft hob, auf Hut und Kopf. Die Waffe plumpste dumpf auf die Dielen. Er knickte in den Knieen und stürzte hinterdrein.
Der Dicke packte die Fränze am Arm. Er rannte den Flur entlang. Er spähte:
»Da – im Hof sind sie noch nicht! Wirste gleich mitkommen!«
Die Fränze lief willenlos wie ein Lamm im Trab nebenher. Fort.
Daniel Krüger hastete die Treppe hinab zu seinem Schanktisch. Nebenan scheuerte seine Frau emsig Kasserollen blank. Er spülte Biergläser aus und wandte, als die Straßentüre aufflog, leutselig den verschwiemelten Kopf:
»'n Abend, Herr Kommissar! Bei mir brauchen Sie sich doch nicht erst zu bemühen und die Marke vorzeigen! Ick habe doch die Ehre Sie zu kennen! Razzia? Sie sehen: det janze Lokal jlänzt durch Abwesenheit! Schlechte Zeiten!«
»Wo ist Ihre Stieftochter – die Fränze Häselich?«
»Da fragen Sie mich zuviel!« Der Säbelbeinige kam unschuldig hinter dem Schragen hervor. »Weg! Det is der Freiheitsdrang ... die heutige Jugend – wissen wir ja, Herr Kommissar – wir waren ja ooch mal jung ... Und wer sich so rüstig erhalten hat wie der Herr Kommissar ... Sie wollen Haussuchung halten? Bitte – bedienen Sie sich!«
Schwere Tritte im Oberstock. Türenschlagen. Dann die laute Stimme des Kriminalkommissar Dürisch.
»Kommen Sie sofort herauf!«
»So schnell 'n oller Mann kann! Na – Sie sehen ja, Herr Kommissar: alle Türen uff! Alle Stuben leer! Alles im Stande der Unschuld! Wie det so mit Daniel Krüger is ...«
»Wer ist der Mann, der hier bewußtlos liegt?«
»... 'n Mann, sagen Sie?« Der kleine Kerl faltete erschüttert die Hände. »Na – wie kommt denn der daher?«
»Und da liegt der Totschläger!« Ein Beamter hob die biegsame kinderarmdicke Rolle aus gewickeltem Zaundraht.
»Damit wird er sich den Schlag wohl selber beigebracht haben!«
»Reden Sie keinen Unsinn! Was ist hier geschehen?«
»Ja. Der muß sich wohl heimlich eingeschlichen haben! Ick hab' keine Ahnung! Ick war die janze Zeit unten im Lokal und meine Frau in der Küche! Ick habe nischt jehört und nischt jesehn!«
»Na – das wird ja die Untersuchung ergeben! Krause – leuchten Sie mal dem Mann auf dem Boden ins Gesicht ...«
»Äußerlich verletzt ist er nicht! Nur schummerig von dem Hieb! Aber – Herr Kommissar ... Herr Kommissar ... Nun sehen Sie nur, wer das ist!«
»Nanu?«
Der Kommissar Dürisch beugte sich vor. Sein energisches, schnurrbärtiges Dienstgesicht wurde noch ernster.
»Der Doktor Wiebeking selber, Herr Kommissar!«
Der Kriminalkommissar Dürisch schüttelte den Kopf und richtete sich wieder auf.
»Herr Wiebeking junior! Nun frag' ich Sie, Krause: Was tut der Mann in der Verbrecherwelt? Was treibt ihn dahin? Welche Rolle spielt er?«
»Das wird er uns in seiner gegenwärtigen Verfassung nicht verraten, Herr Kommissar!«
»Nein! Besorgen Sie schleunigst 'ne Droschke, Krause! Wir wollen ihn vor allem mal ohne Aufsehen nach Hause bringen!«