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Berlin da drinnen – das Herz Berlins – war jetzt, am frühen Sonntagnachmittag, so still und tot wie sonst nur in den letzten Stunden vor Tag und Tau. Ausgestorben, sonnenhell, menschenleer die unter der Woche donnernden und flutenden Straßen.
Der Schupo Peschke hörte seine raschen, vergnügten Schritte an den Hauswänden widerhallen, wie er, in feiertäglichem Bürgergewand, tief in der Altstadt, die verlassene Färberstraße entlangging, an Feuerstakes Hotel vorbei, auf das geschlossene Obstlädchen drüben zu. Sein bartloses, rundes, humoristisches Gesicht strahlte.
»Da sind Sie wirklich, Fräulein Lüders!«
Das Obstfräulein stand wartend, blaß und aufgeregt, auf dem Bürgersteig vor der großen Ladenscheibe, hinter der grellgelb ihre Orangen und Zitronen schimmerten, kleidsam in rosa Sonntagsputz die lange, schmale Gestalt. Unter dem Schutenhut mit rosa Schleife liefen unruhig die romantischen, braunen Augen in dem regelmäßigen Gesicht. Sie reichte dem Schupo stumm und eilig die Rechte.
»Was Sie für eine kalte Hand haben, Fräulein Lüders!«
»Das ist ja nur äußerlich! Also gehen wir auf die Reise! Es ist doch eine Reise – da hinaus nach der Siemensstadt.« Sie schritt neben ihm und blieb stehen. »Zur Untergrundbahn müssen wir da links!«
Aber Friedrich Peschke winkte einem Taxameter und stieg ein.
»Bis zum Bahnhof Zoo!« beorderte er stolz. Und während sie durch das leere Berlin dahinfuhren. »So bin ich! Ich hab' Ihnen mündlich was anzuvertrauen, Fräulein Lüders! ... Das dürfen um Gottes willen fremde Leute um einen 'rum nicht hören! Sehen Sie da an der Litfaßsäule das rote Plakat der Polizei: Zehntausend Mark Belohnung – von dem Bankhaus Wiebeking – dem, der Angaben macht, die zur Ermittlung des Einbruchsversuchs Dienstag nacht in der Filiale – na also kurz –: Wer den Nachtdoktor ans Tageslicht zieht!«
»Den kriegt ihr doch nicht!« sagte Hilde Lüders neben ihm mit dem stillen Lächeln einer Wissenden und ordnete die rosa Falten ihres Kleides.
»Zehntausend Märker. Da ist man ein gemachter Mann. Kann heiraten ... Meinten Sie was, Fräulein Lüders?«
»Nein. Reden Sie nur weiter! Das interessiert mich!«
»Nicht wahr? Die zehn Mille – die stechen mich in die Nase!«
»Sie haben doch nichts mit der Untersuchung zu tun?«
»Die vom Alex – die ziehen unsereinen natürlich nicht 'ran! ... Aber ich schaff' es still für mich! Ich hab' ein paar Tage Urlaub herausgeschunden! Fräulein Lüders – nun erschrecken Sie nur nicht! Ihnen allein verrate ich das große Geheimnis ... Ich bin dem Nachtdoktor auf der Spur! Ich hab' ihn sozusagen schon beim Wickel!«
»Ach ...« Das Obstfräulein sah ihren Nachbar unruhig an. Sie wurde sehr blaß.
»Passen Sie auf!« Er rückte aufgeregt dicht an sie heran. »Da ist doch der Kerl – der Werner – Sie wissen ...«
»Ja – ja ...«
»Der Garagenschlosser! Das heißt: Garagenschlosser nennt er sich ...«
»Was ist mit dem?«
»Der hat nu 'ne Stelle als Chauffeur – im Westen – Güntherstraße drei – in einem pikfeinen Haus – und bei wem? – Sie werden lachen ...«
»So reden Sie doch ...«
»Ausgerechnet bei dem Geheimrat Wiebeking, in dessen Filiale sie eben erst eingestiegen sind! Ich glaube, der alte Herr ist schon 'n bißchen taprig! Auf den Einbruch setzt er zehntausend Mark Belohnung. Aber den Einbrecher nimmt er zugleich zu sich ins Haus! Gottvoll – was?«
»Erzählen Sie doch weiter!«
»Das kommt noch besser! Nu staunen Sie mal: Der Herr Chauffeur hat die Unverfrorenheit und bringt dem altersschwachen Bankonkel auch noch seine Geliebte ins Haus!«
»Seine Geliebte ...«
»Schreien Sie doch nicht so! Das Auto wird ja scheu!«
»Was für eine Geliebte?«
»Na – die dunkle Bolle aus Krügers Kaschemme, die mich am Mittwoch auf dem Ottoplatz angeredet und mir ihren Freund Ale gezeigt hat. Mit dem hat sie sich inzwischen wieder ausgesöhnt. Pack schlägt sich und Pack verträgt sich. Daß dieser Herr Chauffeur Werner und kein anderer der Nachtdoktor ist, den sie in ganz Berlin mit der Laterne suchen ...«
»Meinen Sie wirklich ...?«
»... das wird sich nächstens zeigen – aber durch meiner Mutter Sohn! Ich geh' dem Chauffeur Werner und seiner Liebsten nicht mehr von den Hacken!«
»Ach Gott ...«
»Und daß die beiden jetzt im Haus dieses vertrauensseligen Greises was Neues und ganz Besonderes auskochen – na – das flüstert einem ja ein Waisenknabe zu! Aber ich beobachte meinen Herrn Werner! Darauf kann er sich verlassen!«
»Und der ahnt von nichts?«
»Wie sollt' er sich von mir was versehen? Mich kennt er gar nicht! Ich bin ja aus'm Revier – im Westen ... 'n kleiner Mann ...«
»Ja freilich ...«
»Aber wenn ich die Belohnung hab' – ein großer Mann! 'ne gute Partie! Finden Sie nicht auch, Fräulein Lüders?«
Das Obstfräulein schwieg. Sie warf ihm nur einen sanften, sinnenden Blick zu. Der Schupo Peschke wurde ein wenig rot vor Glück, während er aus der haltenden Droschke stieg und zahlte.
Der Stadtbahnhof Zoologischer Garten spülte hier, an dieser tosenden Ecke, Menschenströme über seine Treppen hinunter. Der Untergrundbahnhof daneben schluckte sie wie ein Wirbeltrichter in seine Tiefen. Die Elektrischen entluden bimmelnd ihre lebende Fracht. Gepäckdroschken rollten. Der Schupo Peschke bahnte sich und dem Obstfräulein durch das Gewühl einen Übergang zu den Schalterreihen drüben auf der Straße.
»Warten Sie 'nen Momang, Fräulein Lüders! Ich nehme schnell zwei Karten für uns, nach dem Siemensplatz!«
Er mußte in der Schlange stehen. Endlich hatte er die Pappstücke in der Hand. Er drehte sich um.
»Fräulein Lüders!«
Er schaute in die Runde. Er lief suchend hin und her. Er störte den Verkehr. Er wurde von seinem eigenen diensttuenden Kollegen gefragt, ob er aus Kyritz sei – aber die Hilde Lüders war nirgend mehr zu sehen ...
Der Schupo Peschke stand. Er hoffte. Er harrte. Umsonst.
Vielleicht war sie, als sie ihn verloren hatte, nach dem Siemensplatz vorausgefahren und erwartete ihn dort ... Friedrich Peschke stürzte sich in das Köpfegewoge treppenabwärts. Ein Menschenknäuel trug ihn und quetschte ihn in den Untergrundbahnzug hinaus gen Westen.
Unter dem blauen Himmel breitete sich da, eine Stunde im Umfang, das Barackengewimmel der Laubenkolonie im Sonnengold. Unzählige farbige Fähnchen feindlicher, deutscher Parteien flatterten über den schwarzen Dachpappefirsten. Geranien, Astern, Sonnenblumen blühten herbstbunt zwischen dem silbergrauen Holz der Hütten. Weiße Hemdärmel leuchteten auf grünem Rasen. Grammophonmusik wehte im Wind. Hundegebell. Hähnekrähen. Hundertfaches Kindergeschrei.
Gleich am Eingang ein bekanntes Gesicht. Da buddelte ein junger Vater mit vier Bübchen Kartoffeln und buk sie im Feuer auf dürrem Kraut.
»Rödicke – Mensch – hat 'n Fräulein nach mir gefragt? Nicht? ... Herrgott – über die Frauenzimmer!«
»Na, na – Herr Peschke!« Die kleine Frau Rödicke, die auf der Bank vor der Hütte Bohnen pahlte, mußte lachen.
»Heiraten Sie lieber nicht!« riet, auf seine Schaufel gestützt, ein bleicher Intellektueller mit Zwicker und Stehkragen. Der Monteur Rödicke brummte:
»Sie müssen's ja wissen, Herr Doktor!« und zu Peschke: »'n Doktor! Und was is er nu? Abgebauter Kellner!«
»Dort drüben lief vorher so eine 'rum!« meldete der Müllkutscher Weiß, der von Hütte zu Hütte in einem alten Sack Gras für seine Karnickel daheim sammelte.
Der Schupo Peschke rannte den Weg entlang. Ein Haufen junger Arbeitsloser würfelte da um Groschenstücke in einer Mütze. Ein Mädel hockte dazwischen ... Die Hilde Lüders war es nicht ... ...
»Na – ooch mal wieder hier, Herr Wachtmeister?« Mutter Hille, die Portiersfrau, fütterte ihre Hühner. Ihre beiden Töchter knieten vor einer Lattenkiste. Sie wies stolz auf das Gegrunze darin. »Ich bin doch vom Lande. Schauen Sie nur, wie det Schwein jedeiht!«
»Es ist zu süß!« rief die Stenotypistin. Und das Ladenfräulein neben ihr:
»Nee – das rosige Schnäuzchen ...«
»Und dabei sammelt Vater schon Wacholder zum Räuchern!«
»Ich krieg' keinen Bissen 'runter von dem lieben Tier!«
Friedrich Peschke hastete weiter. Der alte Lokomotivführer a. D. Bründel, der beschaulich dasaß, nahm die Pfeife aus dem Weißbart und deutete damit zur Nebenlaube.
»Wat Ihre Eltern sind – die kieken schon nach Ihnen aus!«
»Fritze – wo steckste denn?«
Vater Peschke, der alte Arbeiter, wandte den verwitterten Graukopf von dem Gänsemarsch seiner Enkel, die mit seinem Schwiegersohn, dem Straßenbahner, in Gießkannen Wasser für die letzten Gemüsebeete schleppten.
»Ein Fräulein?« sprach er bedächtig. »Nee – mein Sohn! Wenn die kommen sollte, denn hat die dir versetzt! Wat, Mutter?«
Mutter Peschke faltete die gichtsteifen Finger über dem Sonntagsrock.
»Fritze – wat ziehste denn für 'n Flunsch?«
»Die Seinige kommt nicht!« lachte der Schwiegersohn, der Straßenbahner Schüßler.
»Nee – sie kommt nich!« Der Schupo Peschke setzte sich und schaute gramvoll in das bunte Sonntagsbild umher. »Ich möcht' nur wissen, wo die Hilde Lüders geblieben ist!«