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Oben, in einem Hinterzimmer der Pionierstraße Nummer fünf, krümmte sich ein Häufchen Todesangst, in eine alte Wolldecke gewickelt, auf einem schmalen, eisernen Bett, das Gesicht gegen die Wand. Man sah nur von hinten den dunkeln Wuschelkopf. Hörte ein ersticktes Keuchen.
Mitten in dem kahlen Raum, steingrau das bartlose Bulldogg-Gesicht unter braunem Borstenhaar, ein massiger, breitschulteriger Kerl, in seinem grellkarierten Mantel und Mütze sportähnlich, wie ein englischer Buchmacher ausstaffiert. Um ihn zwei andere. Finstere Blicke nach dem zitternden Klümpchen in der Ecke. Der eine, ein behäbiger, bürgerlicher Mann mit Zwicker, halblaut:
»Nur noch 'n paar Tage – dann steigt doch die größte Sache, die je in Berlin ...«
»Pscht ... det kleene Biest drüben hat Ohren ...«
»... denn machen wir uns doch alle dünne! Denn können se sich in Deubels Namen die Fränze in Gold fassen ...«
»Und wenn vorher wat passiert? Hier is sie nu mal nich sicher!«
»Die is nirgends sicher! Die verrät uns immer wieder! Wo wir sie auch hinbringen! Die hat det so in sich!«
»Denn mach' ihr doch kalt, wenn du ihr den Brotladen uff immer zusperren willst! Aber dazu haste keenen Mumm nich! Feige biste, du oller Preisringer!«
Der schwarzgelöckelte, weichliche Riese mit den koketten Ringen in den Ohren machte eine ängstliche Bewegung mit der mächtigen, schmuckbeladenen, weißen Hand, an deren Gelenk die Spitzenkante eines Damenhemds ans Licht lugte. Wieder ging die gedämpfte Kehle des guten Bürgers:
»Und wenn's 'rauskommt, wackelt dir die Rübe uff'm Kopp! Mensch: Bloß die Rübe oben behalten! Im Zuchthaus wirste doch über kurz oder lang begnadigt oder du seilst dir als milder Mann aus der Charité! Du kommst immer mal wieder unter die Menschen. Aber dot is dot!«
»Und außerdem – wenn man ihr umbringt – wohin nachher mit ihr – mitten in Berlin!« murmelte das riesige Goldhäschen bang. »Die Spree ist 'ne Viertelstunde von hier. Dahin kannste nich hinterher mit 'nem Sack und der Fränze drin 'nen Spaziergang riskieren. Das merken sie! Und hier in irgend 'nem Haus finden sie sie erst recht gleich und kommen uns auf die Spur ...«
»Dann muß sie vorher aus Berlin 'raus!«
»Tut se nich! Die geht nich gutwillig mit einem von uns 'raus in die Natur! Die denkt sich schon ihr Teil! So dumm is se ooch nich!«
»Nu horch mal, was der Dicke sagt!«
»Mit mir läuft se wie 'n Schaf, wohin ich will!« Es raunte dumpf und heiser unter der breitflügeligen Nase von den aufgeworfenen Lippen. »Überlaßt det doch mal mir!« Er schob die andern zur Tür hin. Ein kaltes Funkeln in den kleinen Pupillen. Ein Murmeln. »Ick mach' jetzt, heute noch, mit ihr 'ne Landpartie nach Stralau 'raus, wo die Spree hübsch breit und tief ist! Wenn ick denn morgens alleene zurückkomm', denn hat det nich viel weiter zu bedeuten!« Ein bedauerndes Zucken der breiten Schultern. »Denn hat det eben leider ein kleines Mißverständnis gegeben, wie det unter Verliebten vorkommt! Ick bind' ihr 'nen tüchtigen Stein um die Taille. Dann kommt sie nich wieder hoch! Die war' ja sonst imstand' und verpfeift uns noch als Wasserleiche!«
Allein geblieben tat die vierschrötige Gestalt drei wuchtige Schritte gegen die Lagerstätte an der Wand. Ein finsterer Baß.
»Ufjestanden, Fränze! Du jehst auf Reisen!«
Drüben nur ein Schlottern.
»Du reist doch so jerne! Du hast doch nach Ostpreußen wollen! Nu fährste mit mir! Na – nu freu' dir doch!«
Nur ein Keuchen als Antwort.
»Vorwärts! Soll ich dir Beene machen? Det wäre det erstemal, det du mir nich parierst! ... Siehste woll ... so ... da fängt sie an, sich zu entwickeln! ... Du kommst doch mit?«
»Ja.«
»Wohin es mir jefällig is?«
»Ja.«
»Na – siehste – Puppe – da sind wir ja schon einig!«
»Also hören Sie mal, Verehrtester – das geht doch nicht – nicht wahr?« Der Schatten eines mittelgroßen, glattrasierten Mannes war in das dämmerige, von einer Lampe durchblinzelte Zimmer gehuscht. Seine aufgeregte Fistelstimme überschlug sich in der nervösen Hast des leisen, vertraulichen Sprechens.
»Na – wat denn – wat denn ...« Der Dicke trat unschlüssig, unwillig etwas vom Bett zurück.
»Ich sah da eben unten den Butterkopf und das Goldhäschen ... Goldhäschen ... hähä ..« Es kicherte. Zwei magere Hände rieben sich ineinander. »Diese peinlichen Menschen wissen nicht, wer ich bin – nicht wahr – die sehen mich nur des Nachts bei der Arbeit – nicht wahr – wo ich mir aus Gesundheitsrücksichten, wie es mir der Doktor verordnet hat, einen schwarzen Schal um Mund und Nase zu binden pflege ... hi – hi – der Mörtelstaub reizt doch sonst meine Lunge – Sie verstehen ...« Ein geschäftiges Hüsteln. »Aber ich kenne sie! Die Schnauzen dieser Raubtiere sagten mir eben nichts Gutes – Sie verstehen ... wegen der Fränze ...«
»Wat sein muß – det – muß – doch – sein ... nicht ...?«
»Ich muß mich hier selber mit Ihnen treffen, da wir uns der Fränze nicht mehr als Galopin bedienen können! Und Ihr Besuch bei mir würde doch auffallen – nicht wahr?« Ein belustigtes, trockenes Lachen. »Da liegt die Fränze!« Wieder ein sachliches, verbindliches Händereiben, wie das eines Hoteliers. »Sie wollen sie umbringen – nicht wahr?«
Der Dicke stand geduckt wie ein verprügelter Jagdhund. Er schwieg störrisch und unsicher.
»Das gibt's nicht – nicht wahr? Das gibt's nicht!« Unvermittelt ein schneidender, unheimlicher Ton in dem atemlosen Geflüster. »Der Besitz muß nachts richtiger verteilt werden – nicht wahr? Ekelhaft – aber herrlich! Besorge ich – nicht wahr? Liegt im Interesse der Menschheit – nicht wahr? Aber Blut macht mich krank! Da müßte ich weinen! Die Fränze wird nicht angetastet! Sie verstehen! Das befehle ich – der Ale ... ohne den ihr Dreck seid ... päh ... päh ... pah ... Dreck ...«
»Ick wasche meine Hände in Unschuld!« Der Dicke betrachtete seine blautätowierten, riesigen Boxerfäuste. »Wenn det Aas ...«
»Es kann gar nichts durch die Fränze passieren – weil ich doch gar nicht existiere – nicht wahr?« Es raunte eindringlich, überzeugend in die spitzen Verbrecherohren des Dicken. »Das ist doch so lustig – nicht wahr?« Ein hartes, meckerndes Herrschen. »Die Fränze bleibt am Leben! Fertig! Sie verstehen? Sie verstehen gut? Kommen Sie an die frische Luft, verehrter Freund und Kupferstecher!«
Sie traten vor das Haus Nummer fünf. Die aufgeregte Pionierstraße strudelte um sie von Gestalten der Nacht. Gejohle im Laternengeflimmer. Gelaufe Halbwüchsiger. Geschrille von Frauenzimmern. Vom Bülowplatz her ein wirres hundertstimmiges Kampfgeschrei. Das kurz bellende ›Klack! Klack!‹ von Schreckschüssen der Polizei.
Die beiden mischten sich eilig in das Getümmel, trennten sich und wurden zu nichts in der Nacht. Neben dem Eingang des Hauses Nummer fünf sahen ihnen ein Mann und ein Mädchen nach.
»Haben Sie sich den Preisbullen betrachtet, der eben 'rauskam, Fräulein?« sagte der Schiffer Räder. »Das war der Dicke selber!«
»Den kenn' ich von Feuerstakes Hotel her ...« Das Obstfräulein zog leise schauernd die Schultern hoch. »Das war 'n Theater! Ich danke! Ohne den hätten sie mich damals womöglich abgemurkst!«
»So? Das ist Ihr Wohltäter?« Der Paule Räder schüttelte etwas mißtrauisch den gebräunten Kopf. »Mir ist's lieber, daß wir ihn da oben nicht treffen! Der nimmt's allein mit sechsen auf! Na – der wird sich wundern, wenn er den Schaden besieht!«
»Und der andere – der mit ihm?«
»... ist mir unbekannt ...«
Der Spreeschiffer Paule Räder hob sich auf die Spitzen seiner hohen Wasserstiefeln, schaute umher, steckte zwei Finger in den Mund und sandte einen gellen Signaltriller über die Straße hin. In deren Lärm fiel ein Pfiff mehr nicht auf.
Gleich darauf stapfte er gemächlich die drei Steinstufen empor in das Haus. Mit ihm, hinter ihm, pomadig schlendernd wie er, ein paar junge Männer – noch mehr – ein Dutzend. Braun vom Wind überm Wasser alle gleich ihm. Es polterte die Treppen hinauf. Wurde still. Unten harrte die Hilde Lüders.
Nach zwei Minuten tröpfelten die ersten zurück, plinkerten ihr vielsagend zu: ›Das Geschäft is richtig‹ ... wieder welche – verteilten sich rasch und unauffällig im Wirrwarr der Gasse. Dann kam der Schiffer Räder mit vier Freunden, in ihrer Mitte ein zerstrubbeltes, wie eine Nachtwandlerin wankendes, wachsbleiches Mädel.
»Na – das war ein schmerzloses Zahnausziehen, Fräulein!« Das offene und freundliche Gesicht des Spreeschiffers strahlte zu der Hilde Lüders. »Nicht gemuckt hat der Kerl ohne Beine da oben – so fix ging's – hatte gar keine Handgranaten ... das verlogene Schwein ...«
»Hat der denn seine Beine im Krieg verloren?«
»Tüten geklebt während dem Krieg hat er«, keuchte die Fränze Häselich. »Und wie er dann später mal im Januar aus'm Zuchthaus ausgebrochen ist, da hat er die Nacht durch bis an den Bauch unter den Weiden im kalten Fluß gestanden. Da sind ihm die Spazierhölzer abgefroren! Nu verwenden sie ihn so ...«
»Nicht laufen, Fränze! Das fällt auf!«
»Gotte doch – der Dicke!« Der Kleinen klapperten die Zähne. »Gerade vorher is er weg! Wenn der noch oben ...«
»Mit dem wären wir auch noch fertig geworden! Wer war denn der mit ihm – der Jüngere – Glattrasierte?«
»Das war doch der Nachtdoktor – der Ale selber!« Die Fränze kroch zitternd in eine an der Straßenecke bereitstehende Droschke. Der Schiffer Räder und seine Freunde hinterher.
»Das war der Ale nicht!« Das Obstfräulein schüttelte, neben dem Taxameter auf dem Bürgersteig stehend, mitleidig den Kopf.
»Freilich war er's! ... Macht schnell! ... Ich hab' so Angst ...«
»Das müssen Sie andern als mir erzählen ...« Ein still belustigtes Lächeln.
»Na – ich weiß doch wahrhaftig, wer der Ale ist!« klang es erstickt aus dem dunkeln, menschenvollen Inneren des Wagens.
»Mich machen Sie nicht dumm!« sagte die Hilde Lüders träumerisch. »Wenn ich alles so genau wüßte, als daß der Ale in diesem Augenblick am andern Ende von Berlin ist – in 'ner Villa im Westen – dicht am Tiergarten!«