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36

Schwerfällig erhob sich im Salon der Dr. Schraudt. Tief unter den starkbuschigen, finsteren Brauen ein suchender Blick. Ein Lächeln des Erkennens über die groben, massigen Züge. Ein Druck der breiten, flaumbehaarten Hand.

»In Abwesenheit Ihrer Frau Mutter muß ich Sie bemühen, Herr Wiebeking! Ich versprach ihr vorgestern, für die Häselich zu sorgen. Der Soziale Hilfsdienst, mit dem ich mich in Verbindung setzte, hat für das Mädchen eine Unterkunft in Ostpreußen ermittelt. Sie kann morgen fahren!«

»Na – gottlob ...«

»Herr Doktor – wäre hier irgendwo ein Raum, wo ich das Nähere mit der Häselich ungestört ... Ich verhandele immer gern unter vier Augen mit meinen Schutzbefohlenen! Es ist ähnlich wie im Beichtstuhl. Man erfährt dann erst die volle Wahrheit!«

»Leider ist die Göre zur Zeit unzurechnungsfähig!« sagte der junge Mann. »Die Polizei war da ...«

»Ja. Ich habe den berühmten Herrn Dürisch gesehen! Aber ich bin nicht die Polizei!«

»Wenn Sie dies Geschrille und Gezappel mitangesehen hätten ...«

»Ich kenne das seit Jahren, Herr Doktor!« Der braungeschorene, wuchtige Rundschädel des Privatgelehrten nickte ernst. »Die Menschheit, aus der das Mädel stammt, ist hemmungslos. Sie folgt dem Zwang des Augenblicks ...«

»Das hab' ich gestern abend leider nicht bedacht ...«

»Es ist die angeborene Willensschwäche, gegen die wir ja auch bei allen Verbrechern ankämpfen müssen. Durch den äußeren Zwang der Strafanstalten wird diese Willenlosigkeit nur noch gefördert, und der in Freiheit gesetzte Häftling tritt nur noch energieärmer in die menschliche Gesellschaft zurück, als er sie verlassen. Das ist das Problem meines Lebens!«

»Die Fränze ist ja keine Verbrecherin! Sie hat sich ehrlich mit dem Sortieren von Altpapier ernährt. Und sie ist noch jung. Man kann ihr noch das Rückgrat steifen!« sagte Werner Wiebeking. »Aber augenblicklich befindet sie sich in einem Zustand der Hysterie ...« Er klingelte. »Leopold: Heult das Mädchen noch?«

»Im Gegenteil, Herr Doktor! Wie sie vorhin gehört hat, daß ich den Herrn Doktor Schraudt anmeldete ...« Ein rätselhafter Blick des stillen Dieners auf den Besucher. »... da hat sie sich mächtig gefreut und ist mit einem Schlag ganz vernünftig geworden!«

»... weil sie sich vor mir nicht fürchtet, Herr Wiebeking!«

»... und ist aufgestanden – sie hat sich ja, wie der Herr Kommissar kam, in den Kleidern ins Bett verkrochen – und hat sich zurechtgemacht. Und wie wir 'reingucken, steht sie doch vor dem Spiegel und lacht und pfeift sich eins!«

»Das wechselt schnell bei diesen armen Wesen!« Die Stimme des Gastes klang tief und dunkel.

»Nun bibbert sie nur vor Sorge, der Herr Doktor Schraudt könnte wieder weggehen, ohne sie zu sprechen!«

»Ist sie in ihrer Kammer?«

»Ich hab' sie nicht halten können. Sie ist hinter mir hergelaufen wie ein Pudel! Draußen vor der Türe steht sie!«

»Na – dann lassen Sie sie in Gottes Namen herein!«

Die Fränze Häselich trat ein und machte bescheiden hinter der Schwelle halt. Ihr dunkler Kopf war notdürftig frisiert, das verwirrte Gesichtchen blaß, mit blauen Schatten unter den hellbraunen Berliner Augen, aber ganz friedlich. Der junge Mann musterte sie ernst.

»Fränze – nun sprechen Sie mir mal nach: ›Ich will ein braves, gutes Mädchen sein!‹ ...«

»Bin ich doch nicht ...« Es klang erstickt.

»Na – dann sagen Sie: ›Ich will es werden!‹«

»Will ich auch!« Plötzlich atemlos, verzweifelt-leise die Stimme: »Es ist mit mir ja gar nicht so schlimm! Ich lüg' ja immer nur! Ich tu' ja immer nur dicke – so wie gestern abend! Ja. So bin ich!«

»Und neulich auf dem Ottoplatz?«

»Ach, Herr Doktor, da, wo ich herkomme, da haben die Männer ja keine Bildung! Sie knuffen einen und sie puffen. Und sie geben einem schlechte Worte. Und da wird man auch mal tück'sch!«

»Also das auf dem Ottoplatz wäre bei Ihnen auch Schwindel gewesen?«

»Der Kunde dort – der hatte mich mal im Winter auf dem Witwenball versetzt, und mir nachher noch 'ne Ohrfeige gelangt – vor allen Damen – und da wollt' ich ihn ein bißchen ärgern, wie ich ihn auf der Straße gesehen hab', und hab' ihn angezeigt! Daß der Kerl wirklich was ausgefressen hatte und Leine zog – davon hatt' ich keine Ahnung! Sie können mich im grünen Wagen wegfahren lassen, wenn's nicht wahr ist!«

»Fränze ...« Der Dr.-Ing. Wiebeking blickte der Kleinen nachdenklich in das schmale Gesichtchen. »Sie spielen seit Tagen mit dem Tod. Ich hab' Sie am Mittwochabend an der Spree aufgegriffen! In der nächsten Nacht rannten Sie von hier nach dem Kanal ...«

»Ach – ich wär' doch nicht 'reingesprungen, Herr Doktor!« Ein kindlich verschmitztes Lächeln.

»Das sagen Sie jetzt! Damals war es Ihnen Ernst! Das ist das Unglück mit Ihnen, Fränze: mal so – mal so! Man weiß nie, woran man mit Ihnen ist!«

»Na – dann schmeißt mich doch ins Wasser!« schrie die kleine Häselich plötzlich wild. »Dann seid ihr mich los! Was liegt denn an mir? Ich kann nicht schwimmen! Ich geh' unter wie 'ne bleierne Ente! Is gut!«

»Reden Sie keinen Unsinn, Fränze!«

»Ich will doch bloß fort von hier – von all den ruppigen Brüdern! Von nichts mehr hören und sehen! Ich will ja bloß aufs Land! Ganz weit weg von hier!« Die Fränze schrie immer lauter. Sie hob, mit vor Angst schiefem Mund und wirren Augen die kleinen, gerungenen Hände. »Ach – bitte ... bitte ... bringt mich doch aufs Land!«

»Fränze – hier neben mir steht ein Herr! ...«

»Fräulein Häselich – wer ich bin, ist ja gleich ...«

»Sie kenn' ich doch!« sagte die Fränze freudig, noch mit nassen Wimpern. »Sie hab' ich doch schon bei Krügern gesehen!«

»Auch dort komme ich hin!« Die massige Gestalt des Dr. Schraubt überragte breitschulterig die zutraulich wie zu einem alten Freund zu ihm aufblickende kleine Berlinerin. »Fräulein Häselich – von heut' ab fängt für Sie ein neues Leben an!«

»Gott – wie gern!«

»Eine hellere Zukunft liegt vor Ihnen! Darüber möchte ich jetzt noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen! Darf ich mit Fräulein Häselich vielleicht in dem Nebenzimmer ...? Danke sehr, Herr Doktor!«

Werner Wiebeking wartete. Es dauerte eine Viertelstunde, bis die Fränze wieder herauskam. Ihr frühreifes, feines Gesicht lachte. Die kessen, haselnußfarbenen Augen glänzten. Die Flügel des zierlichen Näschens bewegten sich in einem Zittern des Glücks.

»Morgen früh darf ich nach Ostpreußen fahren, Herr Doktor!« Jubel in der jungen, scharfen Berliner Kehle. »Nee – wie ich mich freue! Ich kann's gar nicht erwarten!«

»Nun machen Sie aber Herrn Doktor Schraubt dort auch Ehre! Alles Gute, Kind!« Werner Wiebeking gab ihr die Hand. »Und halten Sie sich heute still hier im Haus! Ich muß jetzt weg!«

»Schönsten Dank auch im Namen meiner Mutter!« sagte er vor der Villa zu dem Privatgelehrten, der mit ihm in das Freie hinaustrat. »Darf ich Sie in meinem Wagen 'ne Ecke nach Westen mitnehmen? Nein? ... Auf Wiedersehen!« Er stieg ein, »Wietrich – Westallee siebzehn – nach der Villa Hüsgen!«

Drinnen in seinem Elternhaus stand die Fränze Häselich noch allein, mit halboffenem Mund, mit hängenden Armen, unbewegt in den Vorderräumen. Die Jungfer Elise näherte sich ihr unwirsch.

»Na – wollen Sie hier noch 'nen Schuhr abhalten? Wenn die Herrschaften bloß so was vom Pflaster aufpicken können! Damit machen sie ein Wesen! Unsereiner ... Laufen Sie man! Ihr Polizeirevier ist wieder am Telephon ...«

»Warum haste denn jestern abgehängt? Hat am Ende einer mitjestöpselt?«

»Jawohl, Herr Wachtmeister!«

»Dacht' ich mir doch! Na – alles in Ordnung? Biste unter der Fuchtel?«

Schweigen.

»Ob du unter der Fuchtel bist – he?«

»Jawohl, Herr Wachtmeister!«

»Also heut' nacht um Uhre elf. Das wird das Dollste, wat der Ale noch je jefingert hat! Da kannste dir von oben bis unten mit Ruhm bekleckern! Daß du mir uff'n Posten bist, wenn dir dein Leben 'nen Groschen wert is!«

»Jawohl, Herr Wachtmeister!«


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