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53

Die Pionierstraße lag hinter dem Bülowplatz. Vorhin hatte es auf dem Bülowplatz die gewöhnlichen Unruhen gegeben. Jetzt gähnte die weite Fläche mit dem weißen Theaterbau in der Mitte in schwarzer Leere. Die Schupos überwandelten sie gemessen, jeweils zu viert, die kurze, graue Gummischlange mit dem kupferbraunen Köpfchen hiebbereit zur Linken.

Vereinzelt noch auf dem Platz dunkle Blasen aus dem Sumpf des dunkelsten Berlin. Undeutliche Gruppen. Nächtliche Rattenkönige von ein, zwei Dutzend Burschen. Sie standen, die Hände in den Hosentaschen, die Hüte im Genick. Die Hauptmasse war in das anstoßende Scheunenviertel hineingefegt. Da brodelte es in den engen Gassen. Gesichter aus hellerleuchteten Fenstern. Gelle Pfiffe. Plötzliches Gekreisch und Gerenne vor dem Aufblinken der Tschakos.

Der Schiffer Räder stand mit seiner Begleiterin vor dem niedrigen, schmierigen, alten Haus Nummer fünf in der von Gemüseresten, Papierfetzen, Roßäpfeln überkrusteten engen Pionierstraße. Rechts zur ebenen Erde war da die wilde Diamantenbörse, von der das Äppelröschen gesprochen. Unstet stechende Augen des Ostens lugten hinter den staubgrauen Scheiben besorgt auf den Tumult hinaus. Auf der andern Seite des offenen Haustors schnörkelten sich die hebräischen Lettern einer Handlung mit Talmudschriften und Gebetartikeln der Synagoge. Graubärte in kostbaren Pelzmänteln steckten drinnen die schwarzen Schirmkappen auf den Patriarchenköpfen in gedämpftem Gespräch zusammen.

Steil, halbverschwommen, stufte sich im Hintergrund des dunkeln Hausflurs eine ausgetretene Stiege zum ersten Stock. Der junge Schiffer nickte.

»Das Äppelröschen hat nicht gelogen. Da ist's! – Da muß man 'rauf und nachsehen! Aber wenn oben welche sind – mich kennen sie! Erst vor 'ner Woche haben sie mich in der Schlünzigstraße verwalkt – sechs gegen einen! Es ist mir nicht wegen der Bange – die hab' ich nicht – aber für die Fränze wird's nachher nur noch schlimmer!«

»Mich erkennen vielleicht welche da oben auch wieder!« sagte die Hilde Lüders, ... »wenn es von denen sind, die neulich in Feuerstakes Hotel waren!«

»Dann geht's mit Ihnen also auch nicht?«

»Ich geh' trotzdem 'rauf! ... Den Kopf wird's nicht gleich kosten!«

»Haben Sie so viel Traute, Fräulein?«

»Zur Not sag' ich, ich hätt' mich im Haus geirrt!« Die Hilde Lüders stieg die drei glitschigen Steinstufen von der Straße empor. Ein Dunst von Lumpen, Zwiebeln, Moder wehte ihr aus der feuchten Dämmerung des Flurs bis in die Lungen. Die alten Holzstufen der Hühnerleiter krachten. Oben eine Türe. Ein undeutliches, undeutsches, vielstimmiges Kauderwelsch dahinter, daß niemand ihr Pochen hörte. Sie öffnete.

Ein großer, einmal weißgetünchter Raum mit Wanzenflecken an den Wänden. Die staubigen Bodenbretter durch Kreidestriche in vier einzelne Wohnquartiere geteilt. Jedes Geviert mit Matratzen, Sardinenbüchsen, Kleiderbündeln, Körben voll kleiner Kinder belegt. Dazwischen kauernd, kochend, schlafend, flickend, Galizien. Vier kopfreiche Familien. Vom Großvater bis zum Enkel. Ein Greis faßte die Hilde Lüders am Arm. Sie verstand sein Jiddisch-Deutsch nicht. Und er nicht ihr Berlinisch. Sein Handwink nach dem Teergepinsel auf vernagelten Kisten ließ erraten, daß der polnische Ghetto auf dem Weg nach Amerika war.

Dann wies er aufgeregt in der Runde. »Sucht Ihr die Blume Blumenreich? – die Taube Klavier? – die Fanja Allerhand? – die Mirel Gewürz? ...« Die Hilde Lüders entzog sich seinem zutraulichen Griff. Sie sah gegenüber eine Tür. Sie stieg über die Auswanderer am Boden hinweg, durch den brütenden Menschenmuff, den östlichen Dunst von Schmierstiefeln, Papyrossen, staubigem Pelzwerk, und drückte drüben die Klinke nieder.

Ein Trödellager füllte dahinter bis zur niedrigen Decke eine dunkle Kammer. Motten flatterten gespenstig aus längst verschobenem, verschollenem Heeresgut des Weltkriegs: Feldgraue, vom Entlausen papierdünne Waffenröcke mit kreuzweis vernähten Schußlöchern. Abgeschabtes Altleder von Kummeten und Koppeln. Grünspan der Jahre auf Türmchen kupferner Führungsringe. Stapel regen- und schweißgebleichter Feldmützen. Ein Geruch von einst ... von einst ... den die Hilde Lüders nicht kannte ... Sie ging den Engpaß zwischen den Wänden voll düsterem, weltgeschichtlichem Warenkram hindurch. Der Lattenverschlag an seinem anderen Ende gab auf den ersten Handgriff nach.

Da öffnete sich ein kleiner, ziemlich heller Gang. Er war völlig leer, bis auf einen Krankenwagen, der ganz hinten vor einer Türe stand. Eigentlich nur ein Stuhl auf Rädern. Ganz kurz. Denn das schwammige Geschöpf, das darauf saß und schläfrig rauchte, hatte keine Beine. Zwei mit altem grauem Armeetuch verkleidete dicke Stumpfe gleich unterhalb der breiten Hüften streckten sich der Hilde Luders entgegen. Darüber bauchte sich eine unförmlich dicke Leibwölbung bis zu dem Specknacken. Der feiste, grauköpfige Krüppel nahm die Zigarre aus den gewalttätigen Kiefern. Er fletschte eine Reihe gelber Zähne. Er knurrte drohend wie ein bißbereiter Wachhund.

»Wie kommen Sie denn hier 'rin?«

»Bitte – wohnt hier Frau Nathansohn?«

»Quatsch! Hier hat keener wat zu suchen! Adjö – aber schnelle! Ick hab' Knallerbsen im Sack!«

»Entschuldigen Sie!« Das Obstfräulein zog sich zurück.

»Oben sitzt 'n Kerl wie 'ne Tonne«, meldete sie auf der Straße, »der hat keine Beine. Aber Knallerbsen hätt' er – spricht er!«

»Handgranaten! Oder tut so!« sagte der Schiffer Räder. »Auf alle Fälle muß gleich netto 'n Dutzend Jungens zu gleicher Zeit über ihn her, damit er gar nicht erst zum Schmeißen kommt – wenn er wirklich welche hat ...«

»Aber woher so Leute kriegen?«

»Unter meinen Freunden auf den Spreekähnen schon – für so 'ne gute Sache – bloß – für nischt is nischt ...«

»Ich hab' doch mein Erspartes ...«

»Wollen Sie sich da was von der Seele reißen?«

»Ich geb's Ihnen gern! Kommen Sie mit mir in meinen Laden!«

»Und vor acht Uhr abends, ehe die da ihre Saftbude zumachen«, der Schiffer Räder musterte die schmuddelige Front des Hauses Nummer fünf, »müssen mir uns alle so sachte hier in der Pionierstraße verkrümelt auf dem Posten halten!«


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