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Das Obstfräulein war wieder bei sich im Osten. Im Zittern der Zimmerwände unter dem Rädergerassel der Straße, im schrillen Gebimmel der Elektrischen: Vorwärts! ›Von der Wiege ...‹ und dem dumpfen Antwort-Getute der Hupen: ›Bis zur Bahre!‹ Ein Geißelgeschwirre: Eilt euch! Eilt euch! auf den Gesichtern, von denen der Stuck des Lebens abgefallen war wie der Mörtelputz von den grauen Häusern. Und mitten in der fahlen Hast ohne Rast lachte grün und golden, ein Gruß vom blauen Mittelmeer, die kleine Fruchtinsel der Hilde Luders.
»Ich hab' so furchtbar lang warten müssen beim Zahnarzt!« sagte sie beim Eintreten zu der Tante. »Und heute nachmittag um vier muß ich noch mal hin!«
Die Tante rieb rotbackige Tiroler Äpfel mit Seidenpapier blank. Sie sah nicht wie eine Witwe aus, sondern wie eine mißvergnügte, magere, mittelalterliche Jungfer.
»Und was aus dem Mittagbrot wird ...« Sie ließ die Äpfel Äpfel sein und humpelte nach hinten, die Treppe zur Küche hinauf. Ein knappes Kinnzucken dabei nach der Ecke. »Die Polizei sitzt da und wartet auf dich!«
»Die Polizei ...« Ein phantastisches Zusammenfahren des Obstfräuleins. Eine Gedankenjagd hinter der niederen, wirr überkrausten Stirn ... Mitgefangen ... Moabit ... die todbringenden schwarzen Talare ... Nein ... das war keine strenge Verhaftungsmiene drüben. Dies bartlose, junge Gesichtsrund schaute tief bekümmert und gekränkt darein.
»Gott – Herr Peschke! Sieht man Sie auch mal wieder!«
»Es hat mich Seelenkämpfe genug gekostet, mich noch einmal zu zeigen!« Der Schupo Peschke stand düster auf. »Nachdem Sie mich vor acht Tagen am Zoo so schmählich versetzt haben!«
»Ich?« Die romantischen braunen Augen des Obstfräuleins waren die Unschuld selber.
»Das war nicht schön von Ihnen, Fräulein Lüders, so mit den reellen Gefühlen eines Mannes zu spielen – nein – das war nicht schön!«
»Daran war doch nur der gebildete, alte Herr Schuld! Der meckerte neben mir: ›Flugs, Gnädige! Ihr Bräutigam ist schon voraus in die Untergrund!‹ Ich stürze hinunter und bilde mir ein, ich sehe Sie da in einem Wagen und drängele mich im letzten Moment mang den Heringssalat – und los!«
»Ach so ...« Der freundliche Vollmond drüben verklärte sich.
»... und dann waren Sie's gar nicht, und die olle Pestleiche, der gebildete, alte Herr da oben, hat sich mit mir 'nen schlechten Witz gemacht und mir war der schöne Tag verdorben. Fragen Sie nur die Tante: drei Schnupftücher hab' ich beim Heimkommen vollgeheult!«
»Ein andermal passiert uns das nicht wieder, Fräulein Hilde!« sprach der Schupo Peschke gerührt. »Nun ist zwischen uns ja alles wieder gut!«
»Von mir aus war es nie anders, Herr Peschke!« Ein sanfter, seelenvoller Aufblick von drüben über die Tiroler Apfel hinweg, die ihre schlanken Finger polierten. Dann, unvermittelt, schnell: »Haben Sie denn nun den Ale?«
Ein Seufzen als Antwort.
»Ich denke. Sie geistern immer um die Villa im Tiergarten 'rum, wo er drin ist?«
»Hab' ich auch getan! Aber er zeigt sich seit 'ner vollen Woche nicht mehr! Und wenn man so unter der Hand nach ihm fragt, dann sagen sie, es gäbe gar keinen Schofför Werner im Haus. Da stimmt was nicht! Und das Mädel – die Häselich – sei Sonntag vor acht Tagen nachts davongelaufen – sagen sie ...«
»Herr Peschke – wissen Sie vielleicht zufällig, wohin?«
»Keine Ahnung! Da werd' einer klug draus! Nee – die zehntausend Eier Belohnung – auf die hin unsereiner flott aufs Standesamt stiefeln könnte, Fräulein Lüders – meinen Sie nicht?«
»Möchten Sie 'nen Apfel?«
»Danke! – ja – die Gelder sind vorläufig noch ein schöner Traum! Ich muß jetzt in den Dienst! Sind Sie morgen um die Zeit im Laden? Ich kann's da, wenn ich Glück hab', so wie heute, mit 'ner Zeugenvernehmung vor dem Amtsgericht Mitte, einschmuggeln, daß es zu 'ner Minute hier langt!«
»Ich freu' mich immer, wenn Sie kommen, Herr Peschke!«
Das Obstfräulein blinzelte spitzbübisch hinter dem liebevoll lächelnden, sich mit Überwindung entfernenden Schupo Peschle her. Sie hantierte aufgeregt mit ihrem Früchtekram. Sie bediente zerstreut die Kunden. Sie fuhr hastig, als die Tante um vier Uhr von ihrem Nachmittagsschlaf heruntertappte, aus ihrem weißen Arbeitskittel.
»Wenn's dich im Backenzahn so piekte, Tante, dann hielten dich auch keine zehn Pferde vom Zahnarzt zurück! Zwei Zähne sind im Jahr frei! Wozu soll ich der Kasse was schenken?«
»Wann ich wiederkomm'?« Die Hilde Lüders stand ungeduldig, lang und dünn, in dunkelm Hut und Mantel in der Ladentür. »Kann ich wissen, wie viele vor mir dran sind? Wenn ich hellsehen könnt', tät' ich nicht Äppel verkaufen! Mahlzeit!«