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Das Reisen im Ausland ist heute eine schwere Kunst, die viel Geduld und Sanftmut erfordert. Wer einmal solches unternimmt, der weiß auch ein Lied zu singen von langen, geduldigen Wartestunden in den Vorzimmern der Konsulate, von unendlichen Fragebogen, von verlorenen Stunden und Tagen, von einem Gestrüpp von Paragraphen, durch das man sich beharrlich einen Weg bahnen muß. Und wenn man endlich hindurch ist und vor sich nun freie Bahn und offenes Wasser zu sehen glaubt, so stolpert man gewiß zuletzt noch über ein kleines verirrtes Paragräphlein am Wege und muß die ganze Arbeit noch einmal anfangen. Dabei gilt im allgemeinen der Grundsatz: Je kleiner der Staat, desto größer der Büreaukratismus. Wer heutzutage z. B. eine Balkanreise unternimmt, der kann die erstaunlichsten Erfahrungen machen auf diesem Gebiete. Alles das aber verblaßt vor den Schikanen, die sich einem entgegentürmen, wenn man eine Fahrt in die baltischen Randstaaten macht.
Wie dem auch sei: Einmal kommt die Zeit, da man am Ende ist – oder doch zu sein glaubt – mit dieser Tragikomödie, und durch das weite Land dem Osten entgegenfährt. Je weiter man nach Osten kommt, desto niedriger werden die Häuser und desto breiter und holpriger die Straßen, bis dann in Tilsit alles schon recht breit und holperig und gar nicht großstädtisch ist. Dafür ist dort die Butter billiger, die Gänse sind fetter, in den Hotels sind die Preise halb so hoch wie in Berlin, und das ist auch schon etwas wert in diesen Zeiten.
Tilsit ist heute die nördlichste Stadt des Deutschen Reiches. Gleich hinter den letzten Häusern zieht sich jenseits des Flusses die Grenze des »Memelgebietes«, die sie mit Hilfe des stets gefälligen Völkerbundes inzwischen auch schon zu einer litauischen Grenze umgemogelt haben. Früher war die Reise von Tilsit nach Memel eine Kleinigkeit. Mit der Kleinbahn fuhr man über die Brücke nach der Bahn, die von Tauroggen herunterkommt, und war im Handumdrehen in Memel. Heute ist das alles ganz anders. Man höre und staune, wie es mir selbst erging. Der Zug sollte um fünf Uhr morgens von Pogegen nach Memel abfahren, und also marschierte ich schon um drei Uhr durch die stillen Straßen der Stadt, wo nur da und dort die Hunde verschlafen bellten. Es regnete in Strömen, und der Wind sang ein schnurriges Lied in den Telegraphendrähten. Über die große Memelbrücke ging es hinüber ins andere Land. Um fünf sollte, wie gesagt, der Zug in Pogegen abgehen. Bis dahin war es noch ein weiter Weg, und ich mußte mich sputen, wenn ich noch zurecht kommen wollte. Aber wer kennt all die Tücken, die einen trotz bester Pässe immer von neuem an den Grenzen über den Weg laufen? Quer über die Straße am litauischen Ende der Brücke zog sich ein mächtiges Eisengitter von drei Meter Höhe. Dahinter stand die Hütte des Zollwächters, aus deren Fenster ein unsicheres Licht auf die Straße fiel. Ich schrie, ich pfiff, ich rüttelte am Gitter. Endlich rührte es sich im Häuschen, und heraus schaute ein verschlafenes Gesicht unter einer Pelzmütze.
»Haben Sie einen Nachtschein?«
»Einen was –?
»Einen Nachtschein.«
Fort war das Gesicht und überließ mich meinen Betrachtungen. So ungefähr glaubte ich mich ja auszukennen in den Fachausdrücken der Paßämter. Von Unbedenklichkeitsscheinen und solchen Dingen hatte ich schon gehört. Aber von Nachtscheinen – – –
Noch eine Weile rüttelte ich am Tor, aber es regte sich nichts mehr. Da gab ich es auf und faßte mich in Geduld, obwohl von allen Plätzen, an denen ich gewartet habe, dieser der unglücklichste und ungemütlichste war. Der Regen wurde immer stärker, der eisige Wind wehte in wildem Lärm vom Meere herüber. Drunten rauschte und polterte das Hochwasser und schäumte und tanzte in gelben Wirbeln, als ob es im nächsten Augenblick die Brücke mit sich reißen wollte. Eine halbe Stunde verging und noch eine. Allmählich kamen noch einige Reisende, die ebenfalls nicht im Besitz eines Nachtscheins waren und nun in Regen und Wind voll Ungeduld von einem Fuß auf den anderen traten. Es war nicht angenehm und auch nicht erfreulich zum Ansehen. Aber vielleicht war es gut so. Wenn alle die kleinen und großen Ärgernisse, die sich da ansammeln in den Vorzimmern der Konsulate, beim Ausfüllen der Fragebogen, beim Antichambrieren vor den Nachtscheinen sich einmal ansammeln würden zu einer einzigen gewaltigen Flamme, so gäbe es wohl ein Höllenfeuer, das groß genug wäre, um alle Bureaukratie auf ewig zu vertilgen. Aber Zeit wäre es dazu!
Der Tag begann schon zu grauen, als der Torhüter sich zum Öffnen bequemte, und selbstverständlich war zu dieser Frist auch der Zug schon über alle Berge. – – –
Die Eisenbahn im Memelländischen ist schon gründlich litauisiert. Das reisende Publikum besteht zwar ausschließlich aus Deutschen, auch das Personal gibt einem bereitwillig in dieser Sprache Antwort, aber die Inschriften an den Wagen und über den Schaltern sind abgefaßt in einer Sprache, die die Götter verstehen mögen. Jedes deutsche Wort ist gewissenhaft ausgemerzt, und selbst die Fahrpläne an den Wänden führen nur bis zur Grenze des kleinen Landes, als ob jenseits von Litauen ein Niemandsland läge, das zu betreten die Reise nicht lohnte.
Der abgetretene Memelzipfel ist nicht so klein, wie man gewöhnlich annimmt. Drei volle Stunden fährt man durch das flache Land, bis endlich Fabrikschornsteine aus dem Dunst aufsteigen und da und dort ein enger holländisch anmutender Kanal sich zeigt, auf dem mit schlaffen Segeln die Fischerboote träumen.
»Klaipeda«, steht an dem Bahnhofsgebäude.
Wer hat schon einmal etwas von Klaipeda gehört? Nun wohl, es ist nichts anderes als unser altes deutsches Memel. Manchem mag solche Umtaufung als ein starkes Stück vorkommen. Aber sie paßt in die Zeit. Wir haben doch auch ein Bolzano, ein Vigiteno, ein Brissolano und Strasbourg erlebt, ohne daß die alten Mauern eingestürzt sind.
Wir wandern durch die Straßen von »Klaipeda«, die trotz allem Wandel der Zeiten denen von Memel zum Verwechseln ähnlich sehen. Wäre nicht da der leere Sockel des Kaiser-Wilhelm-Denkmals und eine gelegentliche Inschrift an einer hereingeschneiten litauischen Bank, so könnte man sich zurückgesetzt glauben in vergangene Zeiten. Freilich der stolze Königlich Preußische Schutzmann ist spurlos verschwunden, und an seine Stelle traten Gestalten in khakifarbenen Uniformen von russischem Zuschnitt mit Revolverfutteralen, die man gesehen haben muß, um sich ein Bild zu machen von ihrer Größe. Es sind überhaupt recht viele Uniformen unterwegs. Sogar ein Trupp Pfadfinder kommt durch die Straßen marschiert. Es ist die junge Garde des all-litauischen Verbandes. Denn sollte man's glauben – auch dieses kleine Volk mit seinem tönernen Staatsgebilde hat seinen Imperialismus. Der Erfolg von Memel hat gewissen Leuten den Kamm schwellen lassen. Nun schielen sie begehrlich über die Grenze nach der urlitauischen Stadt Tilsit, nach Insterburg und nach ihrer zukünftigen Hauptstadt Königsberg. Was sage ich? Nach – Karakaigas.
Und was soll ich noch erzählen von diesem Tage in Memel? Es war ein kalter, trüber, häßlicher Tag. Der Wind ging sturmbewegt und regenschwer durch die Gassen. Die Müdigkeit lag mir wie Blei in den Gliedern, und in meinem Kopfe rumorte das bittere Gefühl, das einen je und je überkommt bei den endlosen Wanderungen durch Städte, die deutsch sind und waren und es nun nicht mehr sein sollen. Auf einmal aber – auf einem großen, kahlen Platz – mußte ich anhalten vor dem Standbild eines hübschen jungen Mädchens mit langen Zöpfen. Mühsam entzifferte ich die Inschrift auf dem Sockel, und dabei war es plötzlich, als ob alles in mir anfinge zu singen und das Mädchen zu tanzen.
Ȁnnchen von Tharau
Ist's, die mir gefällt.
Sie ist mein Leben
Mein Gut und mein Geld.«
Ob sie es wohl zu ihren Lebzeiten geahnt haben mochte, daß man ihr einmal ein Standbild auf dem Markte setzen würde?
Und dazu noch in – Klaipeda