Kurt Faber
Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer
Kurt Faber

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Gottes Land

In Memel ging ich frühzeitig auf den Bahnhof, denn wenn irgendwo, so gilt für die litauischen Bahnen das Dichterwort: »Was du dem Augenblicke ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit zurück.« Nur wunderselten fährt ein Zug, und der hat es auch nicht eben eilig auf seinem Weg.

Hinter einer tatendurstigen Lokomotive stand der Zug nach Libau; ein seltsames Tuttifrutti von deutschen und russischen Wagen, die man dem jungen Staatsgebilde als Aussteuer mit auf den Weg gegeben hatte. Die Schlaf- und Speisewagen sahen elegant genug aus, aber die der dritten Klasse mochten in ihrer Entstehung noch nahe heranreichen an die Zeiten des alten James Watt. Die Treppen waren von der hohen, altmodischen Sorte, die man vom Bahnsteig aus nur mit Siebenmeilenstiefeln erreichen kann. Das Innere des Wagens bestand aus vielen kleinen Abteilen, die kümmerlich beleuchtet waren von einer einzigen großen Stearinkerze, die aus einem Kasten unter der Decke ein flackriges Licht auf diese graue Armseligkeit warf. Mir gegenüber saß ein polnischer Jude, der eigentlich nichts war als Bart und Pelzmütze. Eine Weile schaute er mich nachdenklich an, bis er die Gelegenheit zur Anknüpfung eines Gespräches gekommen sah. Aus seinem Kaftan zog er eine Schnupftabakdose, auf deren Inhalt ich aber verzichtete. Dafür nahm er eine doppelte Dosis, auch für mich. Längshin legte er sich auf die Bank und schnarchte mit einem Temperament, das die Fensterscheiben klirren machte.

Gemächlich fuhr der Zug weiter durch das flache, vom Mondschein fast taghell erleuchtete Land. Es ist ein spärlich besiedeltes Land, in dem nur in großen Abständen die Stationen stehen, mit je einer niedrigen Bretterbude, in der die Telegraphen ticken, und nebenan eine noch kleinere, vom matten Licht einer Petroleumlampe beleuchtete Hütte, in der man gegen ein paar Kopeken immer noch einmal Tee trinken kann. Zwischen den Stationen liegen die Wälder; ruppige, struppige Wälder, ganz anders wie unsere heimischen Forste, wo die Bäume wie die Soldaten stehen. Dann kommen Felder, oft überschwemmt von den Fluten dieses unnatürlichen Winters. Dann Ödland und wieder Wälder. Es ist eine Gegend, die in der Weite ihres Blicks und in der Zufälligkeit ihrer Bebauung an manche Teile des westlichen Kanadas, etwa an Alberta oder Saskatchewan, erinnert.

Wenn man heute durchs Baltenland reist, so geht es einem ähnlich wie bei einer Reise auf dem Balkan. Man steht so ungefähr an jedem neuen Tag vor einer neuen Grenze. Diesmal war es Lettland, das wir noch vor Mitternacht erreichten.

Lettland! Der Name will einem nicht recht über die Zunge. Er ist so neu und nichtssagend, so gar nicht historisch gewachsen. Wieviel schöner und heimlicher klingt dagegen der andere: Kurland! Das geliebte »Gottesländchen« des russischen Zaren. Die eine und einzige Kolonie des heiligen römischen Reiches deutscher Nation. Hier sind wir auf den Spuren der großen Armee.

Während wir uns auf der Karte eine Reiseroute aussuchen, tauchen Namen auf, die uns noch heute in den Ohren klingen aus den Berichten der Obersten Heeresleitung. Wohl mag man sich fragen, mit welchen Gefühlen der deutsche Soldat sich zuerst in diesem »Gottesländchen« umgeschaut hatte, nachdem er so lange im Schmutz von Polen und Litauen gelegen und nur mit Unbehagen den Weitermarsch angetreten hatte, mit der Gewißheit im Herzen, daß mit jedem Schritt nach Osten die polnische Wirtschaft noch immer schlimmer werden würde. Und wie dann unvermutet die Wege besser und die Gehöfte stattlicher wurden. Und überall leuchtende Seen und dämmernde Wälder, und da und dort ein stolzes Schloß und stattliche Guts- und Herrenhäuser, wo alte deutsche Geschlechter hausten, die mit uns verbunden waren durch ein halbes Jahrtausend gemeinsamer Geschichte. Manch' einem ist da die Idee gekommen, hier zu bleiben und sich seßhaft zu machen nach dem Krieg. Und sicher wäre es auch dazu gekommen, wenn nicht –

Es stimmt einen traurig, wenn man darüber nachdenkt, während der Zug immer weiter hineinfährt in die dunkle Nacht und in den grauenden Morgen.

»Jelgova« ruft der Schaffner. Auch einer von den umgetauften Namen! Dem deutschen Ohre klingt er nur als Mitau gut. In Mitau ist das Auto noch nicht wie anderwärts große Mode. Dafür stehen am Bahnhof viele Panjewagen und einige von den schönen russischen Kutschen, die über jeden Stein einen lustigen Luftsprung machen, so daß man schwören möchte, daß man schneller dahinjage als in der schnellsten Limousine. Die Stadt liegt ein gutes Stück abseits vom Bahnhof, und so fuhren wir denn mit unserer Panje-Limousine über eine lange, schnurgerade Straße, die zu beiden Seiten mit Bäumen bestanden war. Immer in gleicher, halsbrechender Karriere ging es vorbei an einigen Blocks von hohen, häßlichen Mietskasernen, die aussahen, als ob sie ein böser Wind eben erst aus Berlin-Schöneberg hierhergeweht hätte, aber bald war man wieder in der Region der lieben kleinen Häuschen mit den verschrobenen Giebeln und holzbeschlagenen Wänden.

Mitau ist schon eine recht alte Stadt, die sich breit und behaglich ausdehnt am Ufer der kurländischen Aa, die ebenso breit und behaglich in vielen Windungen und Krümmungen durch die weite Ebene schleicht. Man sieht es ihr kaum mehr an, daß sie einmal eine Residenzstadt war. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts, als Herzog Jakob, der Schwager des Großen Kurfürsten, hier regierte, war sie sogar nahe daran, die Hauptstadt eines großen Reiches zu werden. Dieser, von den Ideen des Colbertschen Merkantilismus erfüllte Herzog, hob mit allen Mitteln die Produktion des Landes durch Anlage von Metallhämmern, Glashütten, Tuchfabriken usw. In Windau baute er eine Flotte und in Afrika und Westindien legte er Kolonien an. Es gibt in der deutschen Geschichte kaum einen Fürsten, der leuchtender dastände als dieser. Der nordische Krieg machte dem Idyll ein rauhes Ende. Der Herzog wurde gefangengenommen und erst im Frieden von Oliva wieder freigelassen. Auch das Land erlangte seine Freiheit wieder. Die Kolonien behielt natürlich England. Zu jener Zeit war das Schloß mit Wällen umgeben, die erst der durch die Gunst der Kaiserin von Rußland zur Regierung gelangte Herzog Biron niederreißen ließ, um darauf ein mächtiges Schloß im damals gebräuchlichen Empirestil zu errichten. Dieses Schloß, das zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein Asyl für die vertriebenen Bourbonen wurde, muß einmal ein Bauwerk von besonderer Schönheit gewesen sein. Heute gilt auch hier der Spruch, den man auf so viele andere Schlösser in Kurland anwenden kann: »Leergebrannt ist die Stätte.« Im Park stehen noch die uralten Bäume. Auch das Schloß selbst ist nur ausgebrannt und könnte – allerdings mit großen Kosten – wohl wiederhergestellt werden, so wie es mancher deutsche Soldat noch in Erinnerung hat. Denn die Untat ist erst nach Abzug der Truppen geschehen. Wer hat sie nun angerichtet? »Die Bermondtschen!« wird der Mitauer mit Ingrimm antworten.

Unsere Zeit hat ein kurzes Gedächtnis, zumal für Dinge, die einen unangenehmen Beigeschmack haben nach Wortbrüchen und Treulosigkeiten. Nicht alle aber werden jenes flammende Plakat von brennenden Häusern und anrennenden Wölfen vergessen haben, das Anno 1919 an allen Hauswänden in Deutschland prangte mit der verheißungsvollen Unterschrift:

»Wer einen Gutshof im Baltenlande will, der melde sich bei der Eisernen Division.«

Viele sind dem Ruf gefolgt und haben redlich ihre Haut zu Markt getragen im Kampfe mit der roten Garde. Aber als die Arbeit geschafft war, da wollten die noch eben durch deutsche Tapferkeit von Tod und Untergang geretteten lettischen Machthaber sich plötzlich an nichts mehr erinnern. Grollend zog die Division nach Deutschland ab. Die Reste aber blieben im Land und sammelten sich unter der Führung des russischen Obersten Bermondt. Viele Abenteurer waren unter dieser bunt zusammengewürfelten Mannschaft und viele durch den Krieg verwilderte Landsknechtsnaturen, die gerade die Leute dazu waren, den roten Hahn auf das Dach eines Schlosses zu setzen, rein nur aus Freude am Schauspiel. Es waren aber auch noch genug der anderen, die die Erbitterung würgte über den an ihnen begangenen Betrug. »Kein Gutshof – kein Schloß« sagten sie sich in ihrem einfachen Soldatenverstande und übergossen Dächer und Balkone mit Petroleum und steckten den roten Hahn aufs Dach. Das stolze Schloß, das einmal deutsche Fürsten erbauten, wurde eine Beute deutscher Soldaten, denn jede Schuld rächt sich auf Erden und Untreue schlägt ihren eigenen Herrn.

Aber schade ist es darum doch um das schöne Bauwerk!

 


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