Kurt Faber
Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer
Kurt Faber

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Dorpat, die Vielgetaufte

Früher hatte sie Dorpat geheißen, dann wurde der Name in Jurjew umgetauft und heute heißt sie Tartu, bis auf weiteres. Der zähe Wechsel der Geschichte, die ganze geistige Zerrissenheit dieses Landes offenbart sich im Kommen und Gehen dieser Namen. Alma mater Dopatensis! Nicht nur den Ohren der Deutschbalten klingt dieser Name lieb und vertraut. Wo immer die deutsche Zunge klingt, ist diese Stadt von jeher hochgehalten worden, als eine Pflanzstätte deutschen Wesens auf vorgeschobenem Posten.

Auch heute noch, wo manches sich gewandelt hat in dieser Hinsicht, bietet Dorpat in seiner beschaulichen Ruhe ganz das Bild einer kleinen deutschen Universitätsstadt. Man geht durch die Straßen und beobachtet das Kommen und Gehen der Menschen, das belebt wird durch die bunten Mützen der Studenten, ganz wie bei uns. Irgend etwas in der Umwelt erinnert einen an Tübingen oder Erlangen, aber in der Anlage ist alles weiter und viel mehr auf den großen Raum des russischen Reiches eingestellt. Die Häuser sind zumeist nur ein- oder zweistöckig und mit Holz verkleidet, zum Schutz gegen Wind und Kälte, aber in ihrer breiten Anlage machen sie einen behäbig bürgerlichen und oftmals wirklich vornehmen Eindruck. Die Straßen sind breit, ungepflastert und recht schmutzig. Gut, daß sie gefroren sind. Ein Vorzug der Stadt Dorpat, um den sie jede andere Universitätsstadt mit Fug und Recht beneiden könnte, sind ihre Anlagen. Saubere Sandwege führen über den Hügel, auf dem einmal der Dom gestanden hatte, und verlieren sich in einem hochstämmigen Walde. Im Grau dieses regenschweren Wintertages zeigt sich das alles nicht von der vorteilhaftesten Seite, aber im Frühjahr, wenn langsam alles zu grünen beginnt, ließe sich wohl kaum ein schönerer Platz denken zum Sinnieren und Studieren, zu nachdenklichen Spaziergängen, und was man sonst zu tun pflegt in stillen Gärten in Universitätsstädten. Es ist im übrigen eine Universität, in der viel gearbeitet wird. Darauf deuten auch die vielen stattlichen Institutsgebäude, die da und dort über die halbe Stadt verbreitet sind und bei deren Anblick man sich unwillkürlich zu fragen beginnt: Wozu?

Ohne Übertreibung kann man sagen, daß keine Universität des europäischen Festlandes eine so weitgreifende Einflußsphäre besaß wie Dorpat. Das weite russische Reich versorgte sie mit hohen Beamten, den Hof mit Ministern, die Armee mit Generalen. Vor allen Dingen war sie der Lieferant für Professoren an anderen russischen Universitäten. In dieser Hinsicht war sie geradezu eine Universität der Universitäten. Aber auch mit dem deutschen Mutterlande war der Verkehr ein äußerst reger. Noch heute gibt es kaum eine deutsche Universität, die nicht wenigstens einen Dozenten aufzuweisen hätte, der seine ersten Semester hier abgesessen hat. In erster Linie aber war Dorpat die »Landesuniversität« des Deutschbaltentums, das geistige Zentrum, das immer von neuem belebend und verjüngend wirkte, während der Epaulettenkult und das Hofschranzentum sich bedenklich breit zu machen begann in den Kreisen des hohen Adels; eine gesellschaftliche Macht, die durch das Verbindungswesen ein Bindeglied mit den führenden Kreisen im Reiche darstellte. Mit Beginn der achtziger Jahre, wo durch kaiserlichen Ukas die alte alma mater zu, einer Universität Jurjew wurde und in allen Teilen der bisher rein deutschen Universität eine rücksichtslose Russifizierung einsetzte, begann das Leben zu erschlaffen, bis sie nur noch eine äußere Schale, ein Schatten der früheren Größe war.

Heute ist Dorpat die Universität Tartu der neugegründeten Republik Eesti. Die ganze Anlage, die in ihrer immerhin imponierenden Größe auf die Bedürfnisse des weiten russischen Reiches zugeschnitten war, ist nun plötzlich zusammengepreßt auf die Erfordernisse eines kleinen Staates und eines kleinen Volkes, das eben erst anfängt, eine bewußte eigene Kultur zu entwickeln, mit einer wenig verfeinerten, durchaus unfertigen Sprache, die nur von etwa einer Million Menschen gesprochen wird. Die Entwicklung und Erhaltung der eigenen Sprache ist gewiß das Recht und die Pflicht eines jeden Volkes. Wie man aber auf solch schmaler Grundlage eine Universität aufbauen und eine eigene Wissenschaft entwickeln will, ist nicht recht ersichtlich. Es ist undenkbar, daß jemand ein Werk von einiger wissenschaftlicher Bedeutung herausgeben könnte in einer Sprache, die nur einen ganz beschränkten Absatz ermöglicht im eigenen Lande und die außerhalb der Landesgrenzen kein Mensch versteht. Eine Wissenschaft auf der Basis einer so wenig verbreiteten Sprache muß auf die Dauer verdorren und mit ihr die Universität, die sich in ihre Dienste stellt.

Unter diesen Umständen ist man mit Recht etwas verblüfft über den rein zahlenmäßigen Aufschwung der Universität seit Gründung der Republik. Wo mögen diese mehr als 4000 Studenten hergekommen sein in einer Zeit, wo alle die Schichten des Landes, die vorher ihren Nachwuchs auf die Universität zu schicken pflegten, der Verarmung anheimgefallen sind? An ihre Stelle drängte sich die Jugend der Handwerker und Kleinbauern, der durch staatliche Stipendien das Studium ermöglicht wurde. Hier sowohl wie in Lettland hat sich der breitesten Schichten der Bevölkerung ein Anstand bemächtigt, den man nur als »Bildungsfimmel« bezeichnen kann. Nirgendwo sonst wird von Personen aller Lebensalter so viel mit Schulbüchern paradiert. Allenthalben ist ein wahrer Heißhunger nach Wissenschaft – und nach akademischen Graden zu bemerken. Es ist das eine nur allzu verständliche Reaktion auf die systematische Unterdrückung solcher Gelüste in den russischen Zeiten. Es wird auch hier gar bald der Augenblick kommen, wo diese durch staatliche Mittel großgepäppelten Akademiker ihren Wechsel präsentieren werden. Dann werden sie gelehrige Leninschüler werden und eine Gefahr für den Staat, der einmal ihr Wohltäter gewesen war.

Das aber wird das Ende der mit so viel Hoffnungen ins Leben gerufenen Universität Tartu sein. Halten wird sie sich nur können, indem sie mehr Raum als bisher dem Unterricht in einer Weltsprache einräumt. Das kann aber nach Lage der Dinge nur entweder das Deutsche oder das Russische sein. In beiden Sprachen werden zurzeit Vorlesungen abgehalten, ein unter allen Universitäten der Erde einzigartiger Zustand, der auf die Dauer ganz unmöglich ist. Es ist unausbleiblich, daß eine der beiden »Fremdsprachen« verschwindet. Zweifellos wird es das Russische sein. Wer mit offenen Augen durch dieses Land geht, der muß erkennen, wie spurlos doch eigentlich die russische Herrschaft an ihm vorübergegangen ist. Mütterchen Rußland ist gegangen, ohne ein Andenken zu hinterlassen, es sei denn die leere Hülle einer vergoldeten Kathedrale, die da und dort auf Befehl des Zaren entstanden ist. Wohl aber bemerkt man allenthalben, wie es sich vollgesaugt hat an der Brust der Mutter Germania.

Deutsch sind die Häuser, die Kirchen, die Denkmäler, deutsch ist die Art der Menschen, sich zu kleiden und zu geben. Selbst die, die es nicht wahr haben wollen, sind erfüllt von dem Geist der deutschen Kultur, dem sie so wenig entgehen können wie der Peter Schlemihl seinem Schatten. Jeder einigermaßen bessergekleidete Mensch in den Städten wird einem Auskunft geben auf Deutsch, in den Kiosks liegen deutsche Zeitungen, in den Buchhandlungen sieht man fast nur deutsche Bücher, und wenn man gelegentlich eine andere betont nationalistische Buchhandlung trifft, in der jedes deutsche Wort aus dem Schaufenster verbannt ist, genügt ein Blick auf die Auslagen, um sich dennoch recht heimatlich berührt zu fühlen als Deutscher, zumal jetzt, wo noch von der Weihnachtszeit die Kinderbücher im Schaufenster liegen, denn da sieht man in estnischer Sprache das Rotkäppchen, das Dornröschen, Grimms Märchen und den Struwelpeter e tutti quanti.

Während nun solchermaßen von gewissen nationalistischen und übernationalistischen Kreisen ein Drachenkampf geführt wird gegen fremde Sprachen und Kulturen, herrscht allem Anschein nach auf dem Gebiet der eigenen Sprache noch eine gelinde Anarchie. Ich muß gestehen, daß ich weder von der lettischen noch von der estnischen Sprache ein Wort verstehe. Wenn man aber nach dem geht, was einem zu Ohren kommt, so muß einen das nachdenklich stimmen. So besteht z. B. kein estnisches Wort für »Straße«, eine Tatsache, die besonders peinlich in die Erscheinung trat bei Gelegenheit der Umtaufe der deutschen Straßennamen. Es fand eine diesbezügliche Erörterung im Revaler Stadtparlament statt. Die einen waren für dieses, die anderen für jenes Wort, und da man sich nicht einigen konnte, beschloß man im weisen Rate die Weglassung des Wortes, so daß nun fortan der erstaunte Besucher vom Lande an den Straßenecken solch rätselhafte Namen wie »Ente«, »Erika«, »Mittelamerika« usw. lesen wird. Vor kurzem war ich Zeuge einer Unterhaltung unter Letten, die sich um das Wort »Stuhl« stritten. Der eine nannte ein deutsch klingendes Wort, worauf ihm ein anderer das richtige lettische nannte, ein dritter zitierte die neueste, wirklich ganz moderne Bezeichnung, und bis sie fertig waren, hatten sie vier Namen zusammen, ohne sich über den richtigen geeinigt zu haben.

Das alles tut indes dem Eifer keinen Abbruch. »Nur Deutsch!« ist die Parole in gewissen Kreisen, die – wenn sie es könnten – eine chinesische Mauer um ihr estnisch-lettisches Schneckenhaus bauen würden. Dann aber würde auch von der berühmten Alma mater Dorpatensis bald nichts mehr übrig bleiben als leere Fenster und zerfallene Mauern, wie auf den toten, verlassenen deutschen Gutshöfen, die man heuer hier so viel im Lande sieht.

 


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