Kurt Faber
Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer
Kurt Faber

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Wo der Balkan beginnt

Cattaro, Anfang September.

Von jeher haben sich die Gelehrten darüber gestritten, wo eigentlich der Balkan anfängt bezw. wo er aufhört. Ein jeder hat seine eigene Theorie, je nachdem er geographische, geologische, ethnologische, soziologische Momente zur Beurteilung der Frage in den Vordergrund stellte. Ich aber weiß es heute genau, wie es steht um diese Frage:

Der Balkan beginnt dort, wo das stolze österreichische Kaffeehaus allmählich herabzusinken beginnt zu einer düsteren, fliegenumsummten »Kafana«, in der Bosniacken sitzen mit buntgestickten Jacken und fabelhaften Pumphosen; in der Türken und Spaniolen im Schatten der Haustüre ihre Tage verdämmern und ab und zu ein hochgewachsener Albanese einherschreitet, der schon ganz so ausschaut, als ob er eben weggelaufen wäre aus einem bunten, farbensprühenden Märchen von Tausendundeiner Nacht. So eine Kafana, in der ein zerlumpter Junge in der Ecke hockt und ewig Kaffee mahlt, mit einer langen, kupfernen Vorrichtung, die aussieht wie eine Gebetsmühle, in der sie aus kupfernen Kännchen mit langen Stielen einen Kaffee verschenken, den schon der Prophet besungen und der seither nicht anders geworden ist. – Allah! Inschallah! Was wäre der Balkan ohne Kaffee?

Doch was schreibe ich? Der Balkan beginnt dort, wo die Esel ganz allein und unbeaufsichtigt mit ihren Lasten durch die engen Gassen trotten, wie ihre Ahnen vor tausend Jahren es getan haben mochten, wo die Häuser winklig und die Straßen holprig sind, wo in den Höfen die Ziegen meckern, wo die Schafe langsam durch den dämmernden Abend ziehen und überhaupt alles so ist, wie es immer gewesen.

»Wie im Unendlichen das Gleiche
Sich wiederholend ewig fließt.«

Wenn man längs der dalmatinischen Küste südwärts wandert, so dämmert einem dieses balkanische Leben zuerst in Spalato. Noch weiter gegen Süden wird es zusehends balkanischer.

Seltsame Schönheit der dalmatinischen Küste! Tag für Tag fährt man durch die wirre Inselwelt, und da ist keiner, der einem nicht eine neue Überraschung bereite. Was ist es nur, das den Zauber dieses Landes ausmacht? Nimmermehr kann es der Pflanzenwuchs sein, denn um diesen ist es schlecht bestellt. Mitten ins Meer hinein ragt hier der Karst. Weiß und wild steigen die Inseln aus den Fluten, unwirtliche Haufen von Fels und Geröll, zwischen denen nur da und dort ein Stückchen Land frei ist für eine mühsam dem Fels abgerungene Pflanzung von Mais oder Olivenbäumen, umgeben von mannshohen Steinmauern. Es sind wohl die Strahlen der Sonne, die sich tausendfach brechen an den Felsen, es ist die Spiegelung des dunkelblauen Meeres, die wie ein ewiges Dämmern, als ein buntes Farbenmärchen über den schroffen Karstbergen im Inland stehen. Denn wo die Pflanzen verdorren, da sind immer die Farben am lebendigsten.

Aber es ist noch etwas anderes: In keinem anderen Lande – auch nicht in Italien und Griechenland – haben die Kulturen vergangener Jahrtausende so tiefe Spuren hinterlassen wie an der dalmatinischen Küste. In Spalato stehen die heute noch erstaunlich gut erhaltenen Reste eines ungeheuren Palastes aus der Zeit des Kaisers Diokletian, die – würden sie in Italien stehen! – mit drei Sternen bezeichnet wären für ebensoviele »Oughs« begeisterter Amerikanerinnen und überhaupt unter die sieben Weltwunder eingereiht würden. In Zara, in Pola, in Sebenika gibt es römische Tore und Tempel und Trajanssäulen, umwettert von den Schauern der Geschichte, deren Ruhm an den Enden der Erde erklingen würde – wenn sie in Italien lägen. Und doch sind diese nur einzelne. Ganz Dalmatien ist eine einzige Lektion der Weltgeschichte. Wo immer man sie kannte, trifft man auf Inseln und Landzungen, uralte Städte, winkelig zusammengehuddelt, umgeben von mächtigen Mauern und Zinnen und ragenden Bastionen, die aus der Blütezeit Venedigs oder sonst irgendwelcher Republiken stammen, und die dennoch so aussehen, als ob sie vor fünfzig Jahren erst erbaut worden wären.

Das größte Wunder Dalmatiens aber ist Ragusa, das slawische Dubrownik.

Zu Ausgang des Mittelalters, als die große Heerstraße des Verkehrs zwischen Orient und Mitteleuropa noch durch die Adria führte, war Ragusa einer der Hauptstapelplätze des Orienthandels, und auf seinem Boden entstand eine jener seltsamen Stadtrepubliken, die eine Zeitlang selbst den Wettbewerb mit dem allmächtigen Venedig aufnehmen konnte. Während aber dieses durch die Macht der Umstände auf die Bahn der Eroberungen gedrängt wurde, hat sich Ragusa von jeher nur auf die Herrschaft seines Stadtgebietes beschränkt, dafür aber auch kein Mittel gescheut, um diese um so gründlicher auszubauen. Was immer zu den Mitteln mittelalteriger Befestigungskunst gehört, das ist hier in fast überreichem Maße zur Verwendung gekommen. Schon die Lage der Stadt auf einer mit dem Festlande durch eine dünne Landzunge nur lose verbundenen Halbinsel eignet sich ausgezeichnet zur Anlage einer starken Festung. Aber auch diese von wilder Brandung umtobten Klippen sind gekrönt von mächtigen Türmen und ragenden Bastionen, die mit beispielloser Kühnheit direkt aus dem Meere herauswachsen, alle untereinander verbunden mit Mauern, die man gesehen haben muß, um sich einen Begriff von ihrem Umfang zu machen. Alles das ist, wie gesagt, in voller Reinheit erhalten bis auf den heutigen Tag und bietet dem Beschauer ein Bild vergangener Zeiten, wie es in solcher Unverfälschtheit selbst in Venedig nicht zu sehen ist. Dazu kommt, daß gerade an dieser Stelle die starre Wildheit des Karst abgelöst wird von der überfließenden Fülle einer schon beinahe tropischen Vegetation. Die alten Festungsgräben sind überwuchert von blühenden Oleanderbäumen. An den steilen Berghängen stehen schwarze Zypressen und leuchtende Weinberge. Hinter weißen Mauern stehen hohe Palmen und helle Landhäuser in dunklen Olivenhainen. Dazu der dunkelblaue Himmel und das dunkelblaue Meer, das ewig anläuft in der unruhigen Brandung, die wie ein silberner Streifen die schroffe Küste umsäumt, soweit das Auge reicht. Hätte mir ein Gott die Kunst des Malens gegeben, so würde ich nach Ragusa gehen und mich eintauchen in dieses Meer von Farben.

Von Ragusa geht die Reise südwärts nach der Bocche di Cattaro. Zu Schiff, mit der Bahn und mit dem Auto kann man die Reise zurücklegen. Der wahre Wandersmann aber geht, wenn irgend möglich, zu Fuß. Eine Weile ging ich auf der schönen Straße entlang der steilen Küste. Das Meer leuchtete immer blauer, weit drinnen auf den Höhen der Herzegowina malte der Abend die Farben immer bunter, der Wind kam weich und wohlig vom Meer herüber. Da konnte ich es einfach nicht über mich bringen, mich in ein fauchendes Automobil oder einen staubigen Eisenbahnwagen zu setzen, und wanderte immer weiter in sternklaren Nächten und in der glühenden Mittagshitze, bis am Morgen des zweiten Tages die weißen Hotels von Castelnuovo am Berghang auftauchten. Groß und breit und dunkelblau zwischen kahlen Bergen lag hier die berühmte Bai von Cattaro. Am Fallreep des Dampfers, der uns nach dem Innern der Bucht bringen soll, steht ein Zeitungsverkäufer. Er ist Offizier der Wrangelarmee und bringt sich durch auf diese Weise, wie so viele andere, denn in diesem Lande ist alles Geschichte, ob neue oder alte. Landeinwärts fährt der Dampfer nach dem jugoslawischen Kriegshafen, wo die Torpedoboote – auch sie waren einmal deutsch gewesen – faul an der Mole liegen. Sonst ist nicht viel zu sehen von dieser aufblühenden Flotte, es seien denn einige Schlepper und ein Wasserflugzeug, das surrend seine Kreise zieht.

Stundenlang fährt man weiter durch die vielgewundene Bucht, die in ihrer äußeren Gestalt an norwegische Fjorde erinnert. Je weiter man landeinwärts kommt, desto düsterer wird es in dieser Umwelt. Abgesehen von einigen Ölbäumen, die in einigen Winkeln ein kümmerliches Leben fristen, ist alles kahl und tot. Nackte Felsen und wilde Geröllhalden, die blendend weiß in der Sonne schimmern, fallen steil ab zur Wasserfläche, die matt und leblos, wie schweres Öl in dem heißen Mittagslicht liegt. Alles ist Sand und Sonne und flimmernde Hitze unter der brennenden Sonne. Zuweilen kommt man an ein Dorf. Keinen trostloseren Anblick kann man sich denken als solches Dorf an der Bocche di Cattaro. Man merkt es, daß hier das Leben langsam fließt. Kaum einen Menschen sieht man in den Straßen. Die Hälfte der Häuser ist zerschossen in den Lowcenkämpfen und seither nicht mehr aufgebaut worden. Ganz im Grunde der Bai taucht endlich der Hafen von Cattaro auf. Eine Anzahl Hotels steht hier am Strande. Es gibt sogar Sommergäste aus Deutschland, obwohl es nicht recht verständlich ist, wie ein Mensch sich freiwillig in solchen Backofen begeben kann zu dieser Jahreszeit. Riesengroß und ganz in Dunkel gehüllt in den Schatten der sinkenden Nacht, steigt dicht hinter der Stadt der Lowcen aus dem Meere. Nicht eben verlockend sieht er aus. Aber dahinter, da liegt Montenegro, da liegt Albanien. Das schmeckt nach Abenteuern. Es soll dort mehr Räuber geben als je, die allenthalben die Wege unsicher machen.

Also: avanti! Über den Lowcen! Ich habe Lust, mir diese Räuber aus der Nähe anzusehen.

 


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