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Wenn man von Riga nordwärts wandert, so kommt man in die »livländische Schweiz«. – Je nun, die Berge in der richtigen Schweiz mögen etwas höher sein als diese. Aber die Wälder sind schöner in Livland. Und es ist noch etwas anderes, das den Zauber dieser Gegend ausmacht. Was ist es nur? Wenn man dahinwandert durch diese Wildnis von Birken, Buchen und Tannen, die endlos zu sein scheint, wie der Himmel, der sich darüber wölbt, wenn man von Bergeshöhe das Meer der Waldgipfel betrachtet bis weit hinaus zum grenzenlosen Horizont, über dem rot der Abend verdämmert, so erfaßt einen wie ein Rausch das Gefühl der Weite, das den baltischen Dichter bei dem Anblick überwältigte.
»So steh' ich an der Klippe Rand.
O goldene Sonne, die mir zeigt.
Du Land, nach dem die Sehnsucht stand.
Du Land, in dem die Sehnsucht schweigt,
Du wahres, echtes Vaterland!«
Ja dieses ist das Land nach dem Herzen eines echten Wandervogels. Was immer zu einer rechten Romantik gehört, ist hier ausgegossen in überreicher Fülle. Die Stille der Wälder, die Weiten des Himmels, der ruhige Pulsschlag der Natur, die der Mensch noch nicht in starre Fesseln gezwungen hat. Die Flüsse fließen noch träge dahin in ihren natürlichen Betten, die Bäume sind noch nicht gezählt in den Wäldern. Es liegt nichts daran, ob man gelegentlich einen umhaut für ein wärmendes Feuer in der Nacht. Es gibt hier zuweilen noch Elche und Auerhähne. Da und dort sieht man Mühlen am Wasser und Schlösser am Waldrand.
Und Burgen. –
Stolze Ruinen alter Ordensburgen, umwittert von den Schauern einer deutschen Geschichte von mehr als einem halben Jahrtausend. Hier und überall im weiten Baltenland sind sie zu finden.
Das sind die Schlösser und Burgen der Baltischen Barone. Durch viele Jahrhunderte haben sie auf Vorposten gestanden mitten im »Heidenlande«, in der einzigen Kolonie des heiligen römischen Reiches deutscher Nation, mit dem Gesicht gegen Osten, jeder einzelne eine Art Blanker Hans, der mit dem Trinkhorn so gut wie mit dem Speere umzugehen verstand. Uralte Geschlechter, die fern vom Schutz des Reiches, nur auf sich selbst gestellt, es verstanden haben, durch alle Wechselfälle ihrer wilden Geschichte ihr Gut und Blut hinüberzuretten, selbst in die nivellierende Umwelt dieser modernen Zeit, wo solche Dinge anderwärts schon lange als verstaubter Spuk vergangener Jahrhunderte gelten und Rittergüter ein Handelsobjekt geworden sind für tüchtige Bankdirektoren und betriebsame Herren aus der Konfektionsbranche.
Wie viele Deutsche im Reich wissen eigentlich etwas von diesem Stück deutscher Geschichte und deutschen Lebens? Noch vor wenigen Jahren hatte die große Masse, auch der Gebildeten, keine Ahnung von alledem. Durch die Erfahrungen des Krieges ist es inzwischen etwas besser geworden, aber wenig genug ist es auch noch heute.
Schon zu Ende des zwölften Jahrhunderts fand eine »Aufsegelung« der livländischen Küste durch Lübecker Kaufleute statt, worauf dann ums Jahr 1200 unter Bischof Albert der Orden der »Schwertbrüder« die Unterwerfung und Besiedelung des Landes ernsthaft in die Hand nahm und im selben Jahre noch die Stadt Riga gründete. Seither hat dieses Land, als Zankapfel aller nach Meerherrschaft strebenden Völker, oft den politischen Herrn gewechselt. Dänisch, schwedisch, polnisch, russisch ist es der Reihe nach gewesen, aber wie sehr diese verschiedenen Herren es auch mißhandelt haben, sie vermochten nichts gegen die einmal eingewurzelte deutsche Kultur. Im Kommen und Gehen der politischen Herren blieb der Deutsche in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht der wahre Herr des Landes. Dabei handelt es sich hier nicht – wie Unwissenheit und Böswilligkeit auch bei uns es manchmal hinzustellen beliebt – um die Satrapenwirtschaft einiger allmächtiger Latifundienbesitzer, die wie das Herrenvolk einer Kolonie über der breiten Masse des Volkes thronten.
Neben den Gutsbesitzern, die allerdings zum großen Teil in ununterbrochener Linie ihren Stammbaum auf die alten Ordensritter zurückzuführen vermochten, hatte sich in den Hansastädten Riga und Reval auch ein zahlreiches und selbstbewußtes Bürgertum angesammelt, bestehend aus Handwerkern, Kaufleuten und gelehrten Berufen, die auch nach dem Aufblühen der Industrie noch fortwährend Zuzug aus Deutschland erhielten. Freilich bildete auch dort das Deutschtum immer nur eine mehr oder minder breite Oberschicht, die eifersüchtig und erfolgreich ihre Vorrechte wahrte in einem Lande, wo Deutschsein allein schon ein Adelsbrief war. Härter noch als anderer Leute Kopf ist der des Deutschbalten. Es ist vielleicht das Schicksal dieses Landes, daß in ihm die ständische Verfassung des Mittelalters niemals ganz überwunden wurde. In England, Frankreich, Preußen usw. sind diese Gebilde zertreten worden von der absoluten Monarchie. Das Baltenland ist das einzige, in dem dies nie gelungen ist. Die Gunst des Schicksals hat hier keinen emporgehoben als Führer und Bändiger der widerstrebenden Elemente. Andererseits aber mußte die gefährdete Lage jedes einzelnen inmitten eines Koloniallandes in Stunden der Gefahr stets alle zusammenbringen und bei allen Beteiligten ein starkes Verantwortungs- und Zusammengehörigkeitsgefühl großziehen. Auch später, als anderwärts die alten ritterlichen Formen sich überlebt hatten, stellten sie sich hier auf die neue Zeit um und verrichteten neue Aufgaben unter den alten Formen und Namen. Dieses ist in der Tat das einzige Land, wo Zünfte und Ritterschaften nicht nur dem Namen nach, sondern auch in lebendiger Wirksamkeit hinüber gerettet wurden in die neue Zeit, ja fast bis auf den heutigen Tag!
Nach der Eroberung Livlands versprach Peter der Große den deutschen Ritterschaften in feierlicher Weise und für ewige Zeiten die Erhaltung der evangelischen Religion, der deutschen Sprache, Verwaltung und Rechtspflege nach deutschem Recht, ein Versprechen, das auch von seinen Nachkommen mehr als ein Jahrhundert lang gehalten wurde. Während dieser Zeit waren die baltischen Provinzen geradezu ein Rekrutierungsplatz für Feldherren und Staatsmänner aus aller Herren Länder. Viele dienten in des Großen Friedrichs Heer. Bezeichnenderweise läßt Lessing seinen Tellheim aus Kurland kommen. Friedrichs größter Gegner, der Feldmarschall Laudon, war ebenfalls ein Balte. Dieser letztere scheint allerdings in seiner Jugend die Rolle eines verlorenen Sohnes in seiner Heimat gespielt zu haben; denn als die Kunde von seinen Erfolgen ruchbar wurde, da steckten zu Hause in Kurland die Tanten den Kopf zusammen: »Laudon? Der Soldat? Ein Feldmarschall? Bei uns hätte er es nicht zum Kirchspielvorsteher gebracht!«
Am nützlichsten aber erwiesen sich die Deutschbalten den Zaren, die sich ihrer sehr geschickt zu bedienen wußten. In dem riesigen, aus widerstreitenden Elementen zusammengesetzten Reich waren sie lange Zeit das einzige bewußt staatserhaltende Element. Als Beamte, Heerführer, Admirale haben sie an allen Enden des heiligen Rußlands im Dienst gestanden. Ohne Übertreibung kann man sagen, daß die Schaffung und Erhaltung des russischen Reiches allein ein Werk der Deutschbalten war. Der Dank des Hauses Romanow blieb freilich nicht aus. Sobald man die Staatsautorität genügend gefestigt wähnte, begann man mit der Russifizierung, zumal unter der Regierung Alexanders III., wo nicht nur die Universität Dorpat, sondern alle Schulen im Lande der deutschen Sprache beraubt wurden. Dieser verhängnisvollste aller Ukase wurde erst 1905 wieder rückgängig gemacht, nachdem die inzwischen ausgebrochene Revolution den maßgebenden Kreisen klargemacht hatte, wie schnell sie durch solche Maßnahmen den Ast absägten, auf dem sie saßen.
In allen diesen schweren Jahren zog das Baltentum einen großen Vorteil aus den ihm verbliebenen Formen der ständischen Selbstverwaltungskörper: den Ritterschaften auf dem Lande und den Zünften in der Stadt. Da die einkommenden Staatssteuern fast restlos für innerrussische Bedürfnisse Verwendung fanden, mußte die deutsche Bevölkerung alle Beträge für kulturelle Zwecke durch Selbstbesteuerung aufbringen, zumal auch für Kirchen und Schulen. Bei Ausbruch des Krieges, 1914, waren es fünf Ritterschaftsschulen, drei Mittelschulen, vier Progymnasien, fünf höhere Mädchenschulen, vier Bürger- und 38 Elementarschulen. Zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts hat ein baltischer Baron aus eigenen Mitteln ein Theater errichtet, in dem Richard Wagner seine ersten Erfolge als Musikdirigent einheimste, wie denn überhaupt die baltischen Provinzen von jeher ein Zufluchtsort waren für aufstrebende Talente im Deutschen Reiche. Herder hat seine ersten Werke in Riga verlegt. Sehr lang ist die Reihe der Deutschbalten, die im geistigen Leben des gegenwärtigen Deutschland eine Rolle spielen.
Allenthalben findet sich in diesem Lande ein mächtig pulsierendes deutsches Leben, das Jahrhunderte der Fremdherrschaft nicht zu ersticken vermochten, obwohl es mehr als einmal vernichtende Schläge erlitt. Einmal nach der Schlacht bei Tannenberg, einmal zur Zeit Iwans des Schrecklichen und dann wieder unter Peter dem Großen. Man hat das Deutschbaltentum im Lauf der Geschichte mehr als einmal getötet, und es ist wieder lebendig geworden; man hat es zerstückelt, und es ist wieder zusammengewachsen; man hat es begraben, und es ist wieder auferstanden aus der Asche – immer noch kräftiger und lebendiger als zuvor. Das kam daher, daß es mit dem Boden verwachsen war und aus ihm immer neue Kräfte sog bei jedem Niederfall. Mehr als die Hälfte des Bodens gehörte zu den 2000 Rittergütern, die fast alle in deutschem Besitz waren, während der Grundbesitz in den Städten geradezu eine Domäne der Deutschen darstellte. So war es vor Jahrhunderten, und so ist es geblieben bis in die neueste Zeit, als die – man darf es nie vergessen! – mit deutschem Blut befreiten und auf der Spitze deutscher Bajonette errichteten lettländischen und estländischen Republiken im Jahre 1919–1920 ihre berüchtigten »Agrarreformen« durchführten, die im Grunde genommen nichts anderes waren als unverhüllter Bolschewismus, ein Raubzug auf das Eigentum der Deutschen im Lande.