Kurt Faber
Weltwanderers letzte Fahrten und Abenteuer
Kurt Faber

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Fern vom Auto

Ochrida (Mazedonien), im Oktober.

In Elbasan ist – wie gesagt – alles anders wie anderswo. Verwirrt steht der mitteleuropäische Wanderer vor diesem fremden Leben. Vergebens schaut man sich die Augen aus nach einem Hotel, einem Restaurant oder etwas dergleichen. Man glaubt, daß von hier kein Faden führe zu der Welt, die wir die große Kulturwelt nennen. Keine Eisenbahn gibt es in diesem Lande, kein Auto verirrt sich in diese Einöde. Und doch ist man auch hier nicht auf einem anderen Stern. Als ich in meiner Ratlosigkeit an einem kleinen Kaffeehause oder dergleichen vorbeiging, gewahrte ich an den Tischen einige Herren, die hübsch manierlich alla Franca gekleidet waren und auch sonst einen recht mitteleuropäischen Eindruck machten. Ich trat ein und erkundigte mich, ob hier jemand Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch oder Italienisch spräche. Sogleich schwirrte es um mich von abendländischen Sprachen. Jedermann war voller Dienstfertigkeit. Einer überbot den andern in Liebenswürdigkeit. Alle Geschäfte des Unterkunftsuchens usw., die mir vor wenigen Minuten noch so viel Kopfzerbrechen verursacht hatten, waren im Nu erledigt. Man lud mich zu Gast ein, man zeigte mir die Sehenswürdigkeiten, und im Augenblick sah Elbasan ganz anders aus. Denn in jenen abgelegenen Gegenden ist der fremde Reisende nicht eine Null, ein Nichts wie anderwärts. Sein Erscheinen ist vielmehr ein keineswegs alltägliches Ereignis, an dem jedermann ein Interesse nimmt.

Besonders fiel mir auf, wie ganz ausgezeichnet einige dieser Leute die deutsche Sprache beherrschten. Auch in Tirana und Skutari hatte ich schon diese Beobachtung gemacht. In den führenden Kreisen Albaniens herrscht heute eine besondere Vorliebe für deutsche Sprache und deutsches Wesen, das ihnen im Verlauf des Krieges und der Besetzung nahegebracht wurde. Gut Deutsch zu können ist hier ein Zeichen der höheren Bildung, wie es einstmals das Französisch zu anderen Zeiten war. Deutsch ist gegenwärtig die wahre Lingua Franca des Ostens, und es gehört zum guten Ton in Albanien, daß man seine Söhne zur Erziehung und Ausbildung nach Schulen und Universitäten in Wien und Graz schickt. Die jungen Leute scheinen eine besondere Begabung für Sprachen zu haben. Schon nach einem Jahre kehren sie zurück in die Ferien und sprechen Deutsch so gut wie wir selbst mit einem echten Wiener Tonfall, und ein jeder von ihnen ist ein Fürsprecher des deutschen Wesens. Von Elbasan allein – einem Städtchen von 15 000 Einwohnern – besuchen heute nicht weniger wie 70 die österreichischen Schulen.

Man sollte dies in Deutschland mehr anerkennen als man es tut. Aber wer weiß denn überhaupt etwas von diesen Dingen? Franzosen, Engländer, Amerikaner, Italiener geben jährlich gewaltige Summen aus zur Errichtung von Schulen, die der Ausbreitung ihrer Sprache und damit ihres kommerziellen und politischen Einflusses im Orient dienen. Und hier ist es die Jugend eines neuen und aufstrebenden Landes, die aus freien Stücken und auf eigene Kosten zu uns kommt. Es würde uns gut anstehen, uns ein wenig erkenntlich dafür zu zeigen, und sei es nur dadurch, daß wir nicht immer kritiklos die Märchen von Mordtaten und Revolutionen glauben, die geflissentlich ausgeheckt und verbreitet werden von denen, die beutelüstern auf der andern Seite der Adria sitzen in Erwartung des Augenblicks, da ihnen das »Räuberland« als reife Frucht in den Schoß falle. – –

Und noch immer landeinwärts ging die lange, albanische Reise, diesmal »an Bord eines Pferdes«, wie die Seeleute sagen. Das Tier war schon etwas antiquiert, aber es war ruhig und stetig und verstand sein Geschäft, und das ist mehr wert als alle Kaprizen von feurigen Rossen, wenn der Weg an Abgründen vorbei über enge Saumpfade führt. Immer höher geht es hinauf ins Gebirge, das mit den weidenden Kühen auf grünen Bergmatten an den Allgäu erinnerte, wenn man nicht immer den fremdartigen Gestalten auf den Straßen begegnete. Hier, wie überall in Albanien, fällt einem auf, daß man kaum je eine Frau zu sehen bekommt. Albanien ist das Land ohne Frauen. Zum wenigsten sieht man sie nicht in der Öffentlichkeit, und für den durchreisenden Fremden sind sie so gut wie nicht vorhanden. Nur ganz selten sieht man Frauen, die ihre Reize unverhüllt zur Schau tragen, und dann sind es immer zahnlose, verrunzelte, von der Last der Arbeit und der Jahre gekrümmte Gestalten, deren jede einzelne einem Maler Modell stehen könnte für das Bild einer vollendeten Hexe. Was man sonst an Frauen zu sehen bekommt, das huscht vorüber in tief verschleiertem Zustand, nach den Vorschriften des Koran, und was die jungen Mädchen anbelangt, so gibt es diese entweder gar nicht, oder es gibt irgendwo in diesem Lande einen großen Harem, wo sie alle untergebracht und eifersüchtig gehütet sind vor den Blicken eines Ungläubigen. Jedenfalls ist dies ein Land, das noch um Meilen zurück ist hinter unserer Zeit der Pudelhaare. – –

Stellenweise kommt man durch Gegenden, wo weit und breit keine Ansiedlung zu sehen ist, und man reitet stundenlang durch Wald. Es gibt in Albanien herrliche Eichenwälder, wie man sie auf der ganzen Erde nicht schöner finden kann. Diese stehen jedoch in anderen Gegenden. Mit den Wäldern dieser mazedonischen Ecke ist jedenfalls kein Staat zu machen. Nur in den Talmulden, in denen die Flüsse herunterrauschen, erheben sie sich stellenweise zu stattlicher Größe. Im übrigen ist es nur etwa mannshohes Eichengestrüpp, das wild an den Berghängen wuchert. Die Türken, als Nomaden- und Steppenvolk, waren der große Feind der Wälder, die sie fast überall in Mazedonien und Albanien dem Erdboden gleich machten, aus strategischen Gründen, um sich vor Überfällen zu schützen und ein freies Schußfeld zu haben. Die Türken sind fort, aber die Verwüstung der Wälder geht lustig weiter. Keine Spur von einer geregelten Forstwirtschaft! Ein jeder macht sich im Walde zu schaffen und holt sich sein Holz, wo er es findet. Die Ochsen und Esel benutzen ihn als Weide. Die schlimmsten Feinde des albanischen Waldes sind jedoch jene langhornigen, übelriechenden Geschöpfe, die man bei einiger Phantasie als eine Abart unserer Hausziege bezeichnen kann. Die knappern mit Vorliebe an den keimenden Knospen der jungen Bäume und ersticken so jedes stärkere Wachstum.

Auf der höchsten Kammhöhe zieht sich die albanisch-serbische Grenze hin. Vor dieser Linie verweigerte der Besitzer des Pferdes jede weitere Gefolgschaft, und es blieb nichts anderes übrig, als den Rest der Reise auf Schusters Rappen zurückzulegen. Eine Weile ging ich über eine schöne, von Quellen umrauschte Bergwiese unter einem kristallhellen Hochlandhimmel. Die Vögel sangen in den Büschen, die Luft war kühl und würzig, und alles in allem war es ein Bild, das einem das Gefühl gab, als ob man über heimische Gipfel wanderte, und nicht hier in den Bergen zwischen dem wildesten Albanien und Mazedonien, wo ein Menschenleben nur niedrig im Preise steht, und Busch und Feld angeblich lebendig sein sollten vom Komitatschis und sonstigen interessanten Kavalieren.

Ist man nach vieler Mühe endlich oben auf der Grenze angelangt, so genießt man eine Aussicht, die einen reichlich entschädigt für die vorangegangenen Anstrengungen. Gegen Westen sieht man die Berge Albaniens in einem Chaos von Gipfeln, die weiß und wild in der hellen Sonne stehen. Im Osten, nach der mazedonischen Seite, liegt, tief eingebettet zwischen den Bergen, der Ochridasee, dessen weite Wasserfläche dunkelblau aus der Tiefe schimmert. Der Kommandant des albanischen Grenzhauses ist liberal in der Ausübung seiner Pflichten. Der bot mir eine Zigarette an und verabschiedete sich mit einem freundlichen Gruß. Anders ist es schon auf der serbischen Seite der Grenze. Hier ist jeder Gipfel eine kleine Festung. Auf jedem Berge grollt ein Blockhaus mit einem Wachturm, und die Posten aus der Straße lassen einen eigens dort hinaufsteigen zur Grenzkontrolle, die denn auch mit peinlichster Genauigkeit ausgeübt wird. Noch einmal, wie schon so oft auf dieser Reise, wühlen sie in meinem oft durchstöberten Rucksack. Der Paß ist ein Gegenstand ihrer allergrößten Aufmerksamkeit. Ihrer fünf oder sechs machen sich an sein Studium, wobei sie ihn umgekehrt halten, wie der Struwelpeter. Zwei geschlagene Stunden dauert die Komödie. Endlich kommen sie überein, daß alles in der Ordnung sei, und der Kommandant entläßt mich mit einem Seufzer in die goldene Freiheit. Weiter ging die Reise zwischen kahlen Bergen hinein ins mazedonische Land, ins serbische Sibirien.

Aber mit den Grenzwächtern war ich noch keineswegs fertig. Alle Augenblicke tauchte einer aus dem Schatten der Felsen auf.

»Paß!«

Fünfmal wiederholte sich das in zwei Stunden. Allmählich bekam ich es mit der Wut zu tun. Nichts Lächerlicheres als der verstiegene Nationalismus und der übertriebene »Etatismus«, der sich heutzutage in manchen der österreichischen Nachfolgestaaten breit macht. Da ist Albanien schon ein anderes Land.

Und überhaupt Albanien!

In dieser Polizei- und beamtenverseuchten Atmosphäre unserer modernen Welt ist es heute wohl das einzige Land, in dem der Reisende frei und unbehindert und fern von aller staatlichen Bevormundung seine Straße ziehen kann, der einzige Zufluchtsort der wahren Freiheit, der einzige Erdenwinkel, in dem der größte aller Diebe, der Massenmörder Staat noch nicht seine Orgien feiert. Wer einmal eine interessante Sommerreise machen will – ich sage es im Ernst –, der komme nach Albanien. Er wird dort alles finden, was eine wißbegierige, schönheitslüsterne Seele zu schauen begehrt: eine romantische Natur, ein interessantes Volk, eine alte Kultur, schon halb umnebelt von den Schauern der Geschichte.

»Aber die Räuber« – höre ich sagen.

Nun wohl: Es gibt keine Räuber in Albanien. Wo sollten sie auch herkommen? Wo keine Gendarmen sind, kann's auch keine Räuber geben. Wochenlang habe ich nun das Land durchstreift, zu Fuß, zu Pferde nach allen Richtungen, ohne auch nur so viel als einen Spazierstock als Waffe. Zu jeder Tagesstunde bin ich über einsame Straßen gegangen, ich habe in abgelegenen Hütten beim Feuer im Walde genächtigt. Ich habe Menschen gesehen, die unheimlich aussahen und unheimlich taten, aber Räuber nicht. Höchstens einige unternehmende Kavaliere, die gelegentlich wohl nicht davor zurückschrecken würden, einen des Weges kommenden reichen Türken um einige Napoleons zu erleichtern. Aber auch die nehmen es nur denen ab, die etwas haben.

 


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