Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Mukden, im Oktober
Ost bleibt Ost, und West bleibt West. Andere Welten, andere Menschen. Und doch bemerkt man immer wieder mit Staunen, mit welch' heiligem Eifer man sich hier bemüht, das Alte zu verbrennen und das Neue anzubeten, und welch' seltsame Blüten dieser Eifer oft treibt. Oder wie sonst soll man den Spuk erklären, der da im Morgengrauen alltäglich durch die japanischen Expreßzüge geistert? Schon seit den Tagen, da Teddy Roosevelt sie an dem Band seines Cowboyhutes befestigte, ist die Zahnbürste zum Sinnbild und für manche zum A und O der westlichen Kultur geworden. Also geschah es eines Tages, daß ein Gebot ausging von der japanischen Eisenbahnhauptverwaltung, daß jeder Angestellte sich damit zu versehen und sie auch zu benutzen habe. Und also sieht man nunmehr an jedem Morgen geschlagene zwei Stunden lang das gesamte Personal mit der Zahnbürste im Mund ganz ungestört seinen Geschäften nachgehen. Alle. Dem Zugführer, dem Heizer, dem Schaffner, der die Billette knipst, aus jedem Munde ragt der Stiel einer Zahnbürste. Es ist der unglaublichste aller Anblicke, und doch ganz ein Sinnbild dieses Volkes, das mitunter europäische Gebräuche unverdaut übernimmt und alsbald übertreibt aus Angst, man könnte sich darin etwa nicht genug tun.
An solchem Morgen der hygienischen Orgien fuhren wir im Tagesgrauen durch die letzte Ecke des koreanischen Landes. Ein grauer, nebelverhangener Morgen, der es einem zum Bewußtsein brachte, daß Sibirien nicht mehr allzu fern war. Die Japaner zitterten vor Kälte in ihren dünnen Kimonos, und desgleichen taten die Koreaner in ihren weißen Gewändern. So hatten sie wenigstens eines gemeinschaftlich in diesem Leben, während es sonst nur die bösen Blicke sind.
Antung heißt die letzte Station auf koreanischem bezw. japanischem Boden. Wie alle anderen japanischen Eisenbahnstationen ist sie großzügig eingerichtet, mit einem weiten Bahnsteig, auf dem kimonobekleidete Menschen nicht müde werden, einander schöne Worte zu sagen und sich tief zu verneigen bei jedem neuen Kompliment. Denn das Abschiednehmen ist ein umfangreicher Akt, besonders in Antung, wo die Welt sozusagen ein Ende hat und man hinübergleitet in ein Land, wo das Gesetz nicht viel länger ist als ein Flintenlauf. Langsam, ganz langsam geht es auf der großen Brücke über den mächtigen Yalufluß, dessen Fluten sich gelb vorüber schieben unter dem grauen Himmel.
Schon sind wir in der Mandschurei, dem großen, wilden Niemandsland von heute, dem Zankapfel der großen Politik, an dem sich die Diplomaten ihre pazifistischen Milchzähne ausbeißen. Man braucht das gar nicht erst gewußt zu haben, um es zu merken, sobald man das Land betritt. Der Bahnsteig ist stachelig mit Bajonetten. Soldaten stehen feldmarschmäßig ausgerüstet auf Posten in einer langen Linie, in zehn Meter Abstand. Japanische Soldaten, Chinesen, Russen, Pelzmützen, Kanonenstiefel und überall der Revolver handlich und augenscheinlich in jeder Hüftentasche. Sind's Nord- oder Südchinesen? Sind's rote oder weiße Russen? Wer kann es wissen? Aber soviel weiß man, daß man plötzlich mit beiden Füßen in einem phantastischen Lande steht, in dem die Staatsautorität an einem Zwirnfaden hängt, eine Beute für den, der sie beim Schopfe greift, ein Land, in dem jedermann in Weltgeschichte macht und das Abenteuer mit wilden Augen aus allen Winkeln schaut.
Aber es ist, als ob die Natur entschädigen wollte für die Bosheit der Menschen. Während der Zug hinaufkeuchte in ein wildes Bergland, in dem nur da und dort eine kümmerliche Hütte hinter mürrischen Lehmmauern stand, da brach auf einmal die Sonne durch. Da konnte man es verstehen, warum die Menschen sich um diesen Erdenwinkel raufen. Einen schöneren gibt es nicht zwischen Peking und Moskau. Und wenn man dem trauen darf, was man hört, und was man sieht vom Eisenbahnwagen aus, gibt es auch keinen, der reicher wäre an natürlichen Bodenschätzen. Von Zeit zu Zeit, wenn man eben in der schlimmsten Wildnis zu sein glaubt, fährt der Zug in eine Station ein. Lagerschuppen, Maschinenhallen, Schutthalden, Schornsteine, aus denen der bläuliche Dampf der Schmelzöfen kommt. Es sind die Bergwerke der Südmandschurischen Eisenbahngesellschaft, die ihrerseits nur eine andere Firma der japanischen Regierung ist. –
Wenn man die Yankees ausnimmt, ist kein anderer Imperialismus so aggressiv wie der japanische, und keiner so erfolgreich. In diesen letzten Jahren haben ihm alle Dinge zum besten gedient, geradeso, als ob die ganze Weltgeschichte nur ein gestelltes Theater zur höheren Ehre Nippons gewesen wäre. Nach Formosa, Sachalin und den deutschen Südseeinseln hat er das ganze Kaiserreich Korea verschluckt und wirft nun seine Blicke nordwärts mit dem durch Essen erzeugten Appetit. So sehr fühlt er sich bereits als Herr und Meister der südlichen Mandschurei, daß man eine Ausstellung ihrer Produkte heute sogar unter der Abteilung »Japanische Besitzungen« auf der gegenwärtigen Ausstellung zu Kioto bewundern kann. Man hat den Mund nicht zu voll genommen, denn sie ist eine solche in beinahe allem, außer dem Namen.
Die beiden Ausgangspforten – Korea und der Hafen von Dairen, das frühere Dalny – befinden sich in japanischen Händen, die Eisenbahnen, die Bergwerke, die Banken desgleichen. Der japanische Yen ist das allgemein anerkannte Zahlungsmittel. Den letzten und entscheidenden Streich wagte man seinerzeit durch das bekannte Ultimatum der einundzwanzig Punkte, deren Annahme den letzten Rest chinesischer Souveränität vernichtet hätte. Es wurde abgelehnt, und so suchte man in den letzten Jahren auf dem Umwege einer großzügigen Kolonisation das zu erreichen, was im Frontangriff nicht zu erlangen war. Ein Versuch am untauglichen Objekt, denn der Japaner ist nur ungern Kolonist in völlig fremdem Lande und hält nur dann in der Fremde aus, wenn die letzte Möglichkeit einer Existenz in der Heimat verschwunden ist. Anders die Chinesen, die überall zu Hause sind und sich überall zu helfen wissen. Die fortdauernden Unruhen im eigentlichen China ließen sie die Mandschurei mit ihren vergleichsmäßig gesicherten Verhältnissen als eine Art neuen gelobten Landes ansehen, auf das sie sich in hellen Haufen stürzten. Allein das Jahr 1927 brachte eine Einwanderung von einer Million aus der von Hungersnot heimgesuchten Provinz Schantung. Die noch vor zwanzig Jahren ganz dünn bevölkerte Mandschurei, die das gegebene Land für den Bevölkerungsüberschuß Japans schien, wurde über Nacht von Chinesen besiedelt, die sich nun nach Wiederherstellung der Einheit ihres Landes auch politisch wieder zu fühlen beginnen, während den Japanern anscheinend doch noch die mandschurischen Felle wegschwimmen, die sie schon so fest in der Hand zu haben glaubten.
Inzwischen ist alles hier im Werden. Die Staatsautoritat ist eine »chose pour rire«, ein Ding, an dem man sich gesund machen will im Wechsel der Herren, ganz nach dem Rezept jenes biederen Chinesen, der mich schon während des ganzen Vormittags als ein brauchbares Objekt zur Auffrischung seiner sehr mangelhaften englischen Kenntnisse mit Beschlag belegt hatte. »Tschangtsolin? Tschiangkaischek? – oh yes, him allright, aber sie sind mir alle ebenso lieb wie der Mikado, so lange ich an ihnen was verdiene.«
Und gerade in diesem Augenblick fuhr der Zug im wütenden Regensturm in den Bahnhof von Mukden ein.