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Söul (Korea), im September
Zögernd steigt der junge Tag aus der Straße von Tsuschima. Der rote Morgen steht im Osten, dort wo am Abend vorher die japanische Küste versank, während im Westen die hohen Berge des asiatischen Festlandes sich aus den schwindenden Nachtschatten abzusondern beginnen. Die Straße von Tsuschima ist für Japan das, was für England der Kanal ist: ein Glück und eine Bedrohung zugleich. Nur daß Japan es noch rechtzeitig verstanden hat, »seine« Straße zu beiden Seiten mit mächtigen Gibraltars zu versehen.
Wenn große Staaten sich strategisch bedroht fühlen, so müssen gewöhnlich die kleinen mit ihrer Freiheit dafür bezahlen. Das hat erst kürzlich das Land Korea herausgefunden, dessen Berge nun hoch und kahl in der frühen Sonne vor uns stehen. Langsam fährt der Dampfer in eine weite Bai, die in einem Halbkreis umgeben ist von steilen Bergen, zu deren Füßen die Hafenstadt Fusan grau und unscheinbar liegt, als ob sie eben erst von oben heruntergerutscht wäre. Es ist ganz so, als ob man etwa nach Spalato an der dalmatinischen Küste käme. Im Näherkommen sieht man die großen Hafenanlagen, die weitgebauten Kais, auf denen der Schnellzug schon ungeduldig auf die Passagiere wartet, hier, am Endpunkt des endlos langen Wegs, auf dem man, wenn man will, schon in vierzehn Tagen Berlin erreichen kann. – Ja, die Welt ist klein, heutzutage!
Aber hier ist das alte Sprichwort noch in Geltung: »Andere Städtchen, andere Mädchen.« Ganz anders noch als anderswo in der vom Tyrann »Mode« beherrschten und nivellierten Welt sieht man hier den Menschen noch ihre Landeszugehörigkeit an. Man freut sich über dieses Zeichen gesunden Konservativismus, wenngleich es seltsame Sitten sind, über die man staunend den Kopf schüttelt. Weiß ist hier »de rigueur«. Männer und Frauen gehen gleichermaßen in Weiß. Auch der Sackträger, der Hafenarbeiter, der Rickschahkuli kleiden sich in ein Gewand, das einmal weiß war und es wieder sein wird, nachdem es gewaschen ist. Was einem aber am meisten auffällt und sicher jedem Koreareisenden als nachdrücklichste Erinnerung zurückbleibt, das ist die Seltsamkeit der Hüte, die hier zur Schau getragen werden. Auf den Köpfen der besseren Leute sehen wir eine Art Netz aus ganz dünnem, schwarzen Crêpe de chine, das, eng anliegend, den ganzen Kopf bedeckt und oben auf der Spitze sich zu einer Art Zylinderhut erweitert, der dem Träger, gerade in Gegensatz zu seinem weißen Gewand, eine merkwürdige Leichenbittermiene verleiht. Leute, die dem Arbeiterstande angehören, tragen Mützen mit langen Ohren zu beiden Seiten, eine Reminiszenz aus der Zeit des Kaiserreichs, in der sie bildlich darstellen sollten, daß man seine Ohren nach der Richtung des Kaisers ausgestreckt halte. Auch der Kaiser selbst pflegte zuweilen solche Mützen zu tragen, natürlich mit abgeklappten Ohren, weil er es nicht nötig hatte, auf irgend jemand zu hören. – Aber es ist seltsam, daß gerade in diesem Lande der ausschweifenden Hutmoden die Frauen überhaupt keine Hüte tragen.
Doch es bleibt nicht viel Zeit zu solchen Betrachtungen. Bergauf, landeinwärts eilt der Zug ins koreanische Land. Ist es nur der klare, schöne Herbstmorgen, der uns dieses Land so lieben läßt gleich auf den ersten Blick? So blau das Meer, so blau der Himmel, so feurig die Farben selbst über den Hängen der kahlsten Berge! Bald bleibt das Meer zurück, und die Bahnlinie führt nun durch ein Tal, einen breiten, viel gewundenen Fluß entlang, wie am Rhein oder an der Mosel, so lieblich und heimatlich sieht hier alles aus. Und doch genügt ein zweiter Blick in die Landschaft, um alles wieder anders zu sehen. Schachbrettartig sind die Maisfelder an den Hügelhängen angelehnt, und dazwischen stehen die Dörfer, eine Ansammlung von ganz kleinen, jämmerlichen, strohbedeckten Lehmhütten. Um jedes Haus aber zieht sich eine Mauer und ebenso um jedes Dorf. Mauern aus Lehm, Mauern aus Stein, alles in sich gekehrt und voneinander abgeschlossen, und das einzige, was hier frei und offen durch das Land zieht, ist die Eisenbahnlinie, die Künderin einer neuen Zeit. Die Landstraßen scheinen mit ihr nicht Schritt gehalten zu haben, denn meist sieht man nur kümmerliche Feldwege, auf denen aber stets eine Menschenschlange zieht, alle in Weiß und jeder mit irgendeiner phantastisch anmutenden Last auf dem Rücken, denn hierzulande muß der Mensch noch alle Arbeit tun, die anderwärts die Tiere und die Maschinen verrichten.
Dieses Land war trotz aller Naturschönheiten seit Menschengedenken eine unfreie Erde, auf der es nur zwei Klassen, Räuber und Beraubte, gab. Das ist auch heute so. Früher waren die Mandarinen die Herren, jetzt sind es die japanischen Bürokraten, mißgünstig betrachtet von einem grollenden Volk, das seiner früheren, gewiß sehr problematischen Freiheit nachtrauert und mit mehr als einem Schatten von Recht mißachtend auf die fremden Eroberer herabschaut.
Man hat die Japaner oft die Engländer des Ostens genannt. Man sollte sie eher seine Yankees nennen. Mit ihren Brüdern im Geiste auf der anderen Seite des Pazifik teilen sie den methodischen, den Gesetzen lammfromm ergebenen Geist, das aggressive Temperament, den wachsenden Militarismus und vor allem auch den Imperialismus, der keine Schranken kennt. Wie jene, sind sie Bringer der Zivilisation und Mörder der Kultur, wo immer sie ihre Fahne pflanzen.
Im Jahre 1910 hat Japan in aller Stille das ehemalige Kaiserreich Korea annektiert, und was es seither für das Land getan hat, ist ungeheuer. Es gibt kein anderes Wort dafür. Vor achtzehn Jahren war es eine von raubenden Mandarinen bis aufs letzte ausgeplünderte Einöde, zu der die Berge kahl und tot herunterschauten im grellen Licht einer mitleidslosen Sonne. Seither haben zehntausend Kulis jahraus, jahrein nichts anderes getan als Bäume gepflanzt nach den Weisungen japanischer Forstleute, und heute sind die einst kahlen Hänge schon wieder bedeckt mit jungen, grünen Wäldern, die das Aussehen des Landes von Grund auf verändern. Gleiches wurde getan auf allen anderen Gebieten, durch Erbauen von Bahnen, Häfen, Landstraßen, Bewässerungsanlagen, die dennoch nur ein Linsengericht sind für die sterbende einheimische, uralte Kultur, die verlorene Freiheit, die heute die eigenen Landessöhne zu Fremdlingen in der Heimat macht: ein Elsaß in Asien, ein Südtirol unter der aufgehenden Sonne. Sogar den eigenen Namen hat man ihm geraubt. Korea gibt es nicht mehr im japanischen Sprachgebrauch. Es ist nun offiziell die japanische Provinz Chosen (zu deutsch das Land der Morgenstille), und auf dem Bahnhof der alten Hauptstadt Söul ruft man heute Kejo aus, wie Bolzano in Bozen und Klaipeda in Memel.
Es war dunkle Nacht, als wir dort ankamen, in einem Bahnhof, der ein Berliner sein könnte, so groß war das Meer der Schienen, so zahlreich die Lichter, die darüber glänzten. Ein Rickschahmann wollte sich meiner annehmen, aber der Chauffeur einer großen Limousine stieß ihn beiseite, packte meine sieben Sachen und entführte mich zu einem Hotel, das ausschaute, als ob es eben erst vom Potsdamer Platz hierher importiert worden wäre. Alles andere hatten wir in Söul erwartet, nur das nicht.
Aber am anderen Tage, als wir uns daran machten, die Sehenswürdigkeiten der Stadt in Augenschein zu nehmen, war alles ganz anders. Da und dort zeigte sich wohl der japanisch-europäische Firnis, da und dort stand ein gewaltiges Verwaltungsgebäude, aber im übrigen ist Söul noch eine gute, alte, chinesisch anmutende Stadt, die verträumt und versonnen zwischen den blauen Bergen liegt. Ganz niedrig sind die kleinen Häuschen; man legt beim Ausgehen den Hausschlüssel in die Dachrinne. Was gäbe es wohl, was wert wäre zu stehlen in diesen Buden? – Oder doch! Da kamen wir in Gassen, in denen sie eichene Schränke mit eingelegten Perlenmustern feilboten, von denen jeder einzelne drei- bis vierhundert Mark wert war unter Brüdern, Straßen, in denen sie kunstvolle Schmuckkästchen fabrizierten, bei deren Anblick man einmal wenigstens Millionär sein möchte, um das alles zu kaufen. Und die Gassen weiß vom Menschengewimmel, am Fluß die Weiber, die ewig Wäsche waschen. Und auf einmal standen wir vor dem stillen Lotossee, in dem sich die Säulen des Kaiserpalastes spiegelten. Ganz auffallend sieht er dem Vierzig-Säulen-Palast in Ispahan ähnlich, und ganz gewiß hat einmal auch hier wie dort die Freude gehaust und das Glück und die Herrschaft und der königliche Prunk asiatischer Staatsvisiten in all' seiner Glorie.
Nun ist alles vorbei. Die Tore sind verschlossen, die Hallen verödet. Nur wenige hundert Meter davon erhebt sich als eine Zwingburg der nach dem Muster des Kapitols in Washington erbaute japanische Regierungspalast, der vier Millionen Dollars kostete und in dessen Schatten das alte Kaiserschloß klein und erbärmlich wie ein Portierhaus aussieht. Die koreanische Freiheit ist zugrunde gegangen vor lauter Kultur, vor lauter Resignation, Bürokratismus und Pazifismus. Denn mit den Völkern geht es nicht anders, als mit den einzelnen Menschen:
Die meisten sterben, weil sie nicht leben wollen.