Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Erstes Kapitel

Die erste Stunde nach Mitternacht schlug, als Polaniecki sich seinem Ziele, dem Gute Krzemien, näherte. In seiner Kinderzeit war er häufig auf diesem Landsitze gewesen, hatte ihn doch seine Mutter, eine entfernte Verwandte der ersten Frau des jetzigen Besitzers von Krzemien, zweimal jährlich während der Ferien mit dahin genommen. Polaniecki strengte sich vergebens an, die verschiedenen Plätze wiederzuerkennen, an denen er vorüberkam. Das war nicht möglich. Des Nachts, beim Mondschein, hatte alles ein verändertes Aussehen. Auf dem Laubwerk, auf den Wiesen, auf den Erdschollen, allüberall lag ein dichter weißer Dunst, so daß die ganze Gegend einem unermeßlichen See glich. Das Gequake der Frösche, das aus diesem Nebelmeer hervortönte, machte die Täuschung noch glaubwürdiger. Es war eine schöne, heitere Julinacht. Sobald die Frösche verstummten, ertönte der Schlag der Wachteln, und aus der Ferne, aus dem in dem Erlengehölz verborgenen sumpfigen Teich, erklang, als ob er aus der Erde käme, der Ruf der Rohrdommel.

Polaniecki vermochte sich dem Zauber dieser Nacht nicht zu entziehen. Wie wohl that ihm alles! Er empfand es um so mehr, daß er auf heimatlicher Erde weilte, als er noch nicht lange aus der Fremde zurückgekehrt war, wo er seine Jünglings- und ersten Mannesjahre verbracht und sich vornehmlich dem Handel gewidmet hatte. Jetzt, als er in das schlafende Dorf einfuhr, trat ihm die eigene Kindheit und die Gestalt der Mutter, die vor fünf Jahren gestorben war, lebhaft in die Erinnerung, und all die kleinen Sorgen der Jugend, wie bedeutungslos erschienen sie ihm im Vergleich mit denen der Gegenwart.

Langsam fuhr die Britschka dem Dorfe zu, an einem auf einem kleinen Hügel stehenden Kreuz vorbei, das völlig morsch zusammenzufallen drohte.

Bei dem Kruzifix begannen die ersten Hütten. Aber die Insassen schliefen. In keinem der Fenster war noch Licht. Wohin das Auge fiel, schimmerten nur die von dem Monde beleuchteten Dächer der Bauernhäuser grau und silbern durch die Nacht, oder einige der Hütten, die mit Kalk beworfen waren, glänzten goldgelb durch die Bäume, andre dagegen lagen versteckt in kleinen Baumgärten, in einem Wald von Sonnenblumen oder zwischen an Stangen emporrankenden, türkischen Bohnen und machten sich in der Dunkelheit kaum bemerklich.

Die Britschka, die sich langsam auf dem sandigen Wege weiterbewegte, bog schließlich in eine dunkle Allee ein. Am Ausgang dieser Allee lag ein weiß schimmerndes Gebäude, dessen Fenster teilweise erleuchtet waren und vor dem die Nachtwächter tuteten. Als die Britschka vor das Thor rasselte, kam ein Diener aus dem Hause herbeigeeilt, nahm rasch die kleinen Gepäckstücke Polanieckis aus der Britschka und führte ihn dann in das Speisezimmer, wo der Thee für ihn bereitet war. Nichts hatte sich hier verändert. Seit er sich erinnern konnte, sah das Zimmer so aus, wie es jetzt war. Die eine Wand wurde von einem Büffet aus Nußbaumholz und einer Kuckucksuhr mit schweren Gewichten eingenommen, die entgegengesetzte Wand zierten die schlicht gemalten Porträts von zwei sehr jungen Frauen in großem Putze, und in der Mitte des Zimmers stand ein Tisch, mit einer weißen Serviette bedeckt und von hohen Lehnstühlen umgeben.

Polaniecki begann längs des Tisches auf und ab zu gehen, aber das Knarren seiner Stiefel störte ihn in dieser Stille; er trat daher an eines der Fenster und schaute in den vom Mond erleuchteten Hof.

Nach einiger Zeit öffnete sich die Thür des nebenanliegenden Zimmers, und ein junges Mädchen trat ein, in welchem Polaniecki die Tochter des Besitzers von Krzemien aus dessen zweiter Ehe zu erkennen glaubte. Bei ihrem Erscheinen verließ er die Fensternische und sich dem Tische nähernd verbeugte er sich und nannte seinen Namen.

Das junge Mädchen streckte ihm beide Hände entgegen und sagte:

»Wir haben die Depesche erhalten, in der Sie uns Ihre Ankunft anzeigten. Mein Vater ist aber nicht ganz wohl und mußte sich legen. Er kann Sie daher erst morgen begrüßen.«

»Ich bedaure unendlich, so spät stören zu müssen,« antwortete Polaniecki. »Allein der Zug ging erst um elf Uhr von Czerniow ab.«

»Und von Czerniow sind es noch zwei Meilen bis nach Krzemien. Wie ich vom Vater hörte, sind Sie nicht zum erstenmal hier.«

»Ich bin häufig mit meiner Mutter hier gewesen. Zu jener Zeit waren Sie aber noch nicht auf der Welt.«

»Ich weiß das alles. Sie sind doch ein Verwandter meines Vaters?«

»Das heißt, ich bin mit der ersten Frau des Herrn Plawicki verwandt gewesen.«

»Der Vater hält sehr viel auf Verwandtschaft, selbst auf die entfernteste,« erwiderte sie, während sie den Thee aufgoß, wobei sie fortwährend mit der rechten Hand den Dampf verteilte, der aus dem Samowar aufstieg. Das Gespräch verstummte, und somit war nichts zu hören als das Ticken der Uhr. Polaniecki, den alle junge Mädchen interessierten, betrachtete Fräulein Plawicki genau. Sie war von mittlerem Wuchse, ziemlich schlank, hatte dunkle Haare, zarte, eigentlich unausgesprochene Züge, einen etwas von der Sonne gebräunten Teint, blaue Augen, einen auffallend schönen Mund und machte im großen Ganzen den Eindruck eines sanften, zartfühlenden Geschöpfes. Polaniecki, dem sie nicht häßlich, aber auch nicht gerade schön erschien, sagte sich, daß sie ihrem Aussehen nach liebenswürdig und gut sein müsse und daß ihr Aeußeres eine Menge der wünschenswerten Eigenschaften bergen könne, durch die sich gewöhnlich die Frauen auszeichnen, die auf dem Lande aufwachsen. Wenn schon er noch jung war, hatte ihm doch das Leben die Wahrheit gelehrt, daß die Frauen durch nähere Bekanntschaft fast immer gewinnen, die Männer dagegen im großen und ganzen stets verlieren. Nach allem, was er von Fräulein Plawicki hörte, mußte sie ungemein fleißig sein. Sie stand nicht nur dem ganzen Hauswesen vor, sondern auch für die Bewirtschaftung von Krzemien, das übrigens dem Ruine nahe war, hatte sie zu sorgen, allein im Verhältnis zu den Sorgen, die auf ihr lasteten, erschien sie ihm merkwürdig ruhig und heiter. Plötzlich fiel ihm ein, daß sie wohl zur Ruhe gehen wolle, sah sie doch recht schlaftrunken darein.

Das Examen würde zweifellos weit mehr zu ihren Gunsten ausgefallen sein, wenn die Unterhaltung mit ihr leichter zu führen gewesen wäre. Allein dies ließ sich vielleicht auch daraus erklären, daß sie sich zum erstenmal im Leben sprachen und daß es sie in Verlegenheit setzte, ihn allein empfangen zu müssen. Außerdem wußte sie wohl, weshalb Polaniecki gekommen war. Er wollte keinen Besuch abstatten, sondern wegen seiner Forderung Rücksprache nehmen.

Seine Mutter hatte schon vor sehr langer Zeit dem Herrn Plawicki zwanzigtausend Rubel geliehen, die als Hypothek auf Krzemien eingetragen worden waren, und die Polaniecki jetzt aus zwei Gründen zu kündigen gedachte, einmal deshalb, weil er beständig an den Zinsen verlor, und zweitens, weil er Teilhaber eines Handelshauses in Warschau war, sich bei verschiedenen Geschäften engagiert hatte und daher ein flüssiges Kapital in Händen haben wollte. Schon vor der Reise war er mit sich selbst einig geworden, keinen Abzug zu gestatten und auf eine baldige und völlige Auszahlung zu dringen. Er that sich etwas darauf zu gut, in solchen Angelegenheiten für unbeugsam zu gelten, obwohl dies durchaus nicht in seiner Natur lag.

Während er daher das junge Mädchen betrachtete, dachte er bei sich trotz des Mitgefühls, das sich in ihm regte: Das ist alles ganz gut, aber bezahlen müßt Ihr doch! Nach einigen Augenblicken wendete er sich wieder an Fräulein Plawicki und sagte:

»Ich hörte, daß Sie fortwährend sehr beschäftigt sind. Interessieren Sie sich für Landwirtschaft?«

»Ich liebe Krzemien ungemein,« antwortete sie.

»Auch ich war als Knabe gern in Krzemien. Aber wirtschaften möchte ich hier nicht. Unter solch schwierigen Verhältnissen.«

»Ja sehr schwierig, sehr schwierig! Wir thun freilich alles, was in unsrer Macht steht.«

»Das heißt, Sie arbeiten, soviel Sie nur können.«

»Ich unterstütze meinen Vater, der oft leidend ist.«

»Im allgemeinen verstehe ich von diesen Dingen nichts, aber aus dem, was ich sehe und höre, schließe ich, daß die Landwirte nicht auf die Zukunft rechnen dürfen.«

»Wir bauen auf die Vorsehung.«

»Das ist ja ganz gut, aber die Gläubiger können Sie nicht darauf verweisen.« Eine tiefe Röte überzog das Antlitz von Fräulein Plawicki, und es entstand eine verlegene Pause.

»Sie erlauben mir wohl, den Zweck meines Kommens darzulegen,« bemerkte Polaniecki.

Das junge Mädchen schaute ihn mit einem Blicke an, der deutlich sagen wollte: Sie sind jetzt erst angekommen; es ist schon sehr spät; ich kann mich fast nicht mehr rühren vor Müdigkeit – wenn Sie auch nur etwas Rücksicht hätten, würden Sie von einem solchen Gespräche abstehen.

Laut hingegen erklärte sie:

»Ich weiß, weshalb Sie gekommen sind, aber vielleicht wird es besser sein, wenn Sie den Vater darüber sprechen.«

»Gut; ich bitte um Vergebung!« erwiderte Polaniecki.

»Eigentlich müßte ich um Verzeihung bitten. Alle Menschen sind berechtigt, das zu verlangen, was ihnen zukommt. Aber heute ist Sonnabend, und am Sonnabend hat man immer noch mehr zu arbeiten als an andern Tagen. Und in solchen Angelegenheiten – Sie werden begreifen . . . Zuweilen, wenn Juden kommen, mache ich die Sache allein ab . . . Aber mit Ihnen . . . Es wäre mir lieber, wenn Sie mit dem Vater sprechen wollten. Glauben Sie mir, das wird für uns beide besser sein.«

»Also auf morgen,« rief Polaniecki, dem der Mut zu der Erklärung fehlte, er wünsche in Geldsachen wie ein Jude behandelt zu werden.

»Nehmen Sie vielleicht noch eine Tasse Thee?«

»Nein, ich danke. Gute Nacht!«

Er erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen; das junge Mädchen reichte ihm jedoch die ihrige weit weniger herzlich als beim Willkomm, so daß er kaum ihre Fingerspitzen berühren konnte.

Ehe sie sich entfernte, bemerkte sie noch:

»Der Diener wird Ihnen Ihr Zimmer anweisen.«

Als Polaniecki allein war, beschlich ihn ein Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selbst. Die Stimme des Gewissens ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, sie flüsterte ihm beständig zu, daß es sich diesesmal nicht um die Bethätigung seiner Grundsätze, sondern um ein bißchen Mitleid mit dem zu Tode ermüdeten jungen Mädchen gehandelt habe. Auf Fräulein Plawicki war er aber gleichfalls böse. Er ärgerte sich, daß sie ihm gefiel. Das gleiche Gefühl, das ihm das im Schlafe liegende Dorf, die sommerliche Mondnacht eingeflößt hatten, ergriff ihn auch diesem Mädchen gegenüber. Ihre ganze Art und Weise war ihm vertraut, sympathisch, sie besaß ein gewisses Etwas, das er umsonst bei allen Frauen im Auslande gesucht hatte und wodurch sie ihm größern Eindruck machte, als er jemals erwartet hätte. Aber gar häufig schämen sich die Menschen ihrer Gefühle. So ging es Polaniecki. Er schämte sich jeder weichern Regung und beschloß daher, am folgenden Tage unerbittlich vorzugehen.

Inzwischen hatte ihm der Diener sein Zimmer angewiesen.

Polaniecki entließ den jungen Burschen sofort. Er wollte allein sein. Man hatte ihm das gleiche Zimmer gegeben, das er als kleiner Junge bewohnte, wenn er mit der Mutter auf Besuch gekommen war. Die Erinnerung an jene Zeit überfiel ihn wieder mächtig. Seine Fenster gingen auf den Garten, in dessen Mitte ein Teich lag. Der Mond spiegelte sich in dem Wasser. Der Teich, den früher große, alte Eschen den Blicken verborgen hatten, war jetzt deutlich zu sehen. Ein Sturm mußte die Bäume geknickt haben, denn wipfellos und abgestorben boten sich die vom Monde beleuchteten Stämme dem Auge dar. Tiefe Stille herrschte. Auf Polaniecki, der fast immer in der Stadt lebte, unaufhörlich in Unternehmungen verwickelt war und daher beständig seine physischen und geistigen Kräfte anspannen mußte, wirkte die ihn umgebende Ruhe ebenso wohlthätig, wie ein warmes Bad nach großen Strapazen. Er versuchte, an seine Geschäfte zu denken, sann darüber nach, ob sie ihm wohl Gewinn oder Verlust bringen würden, er versuchte, seine Gedanken auf Bigiel, seinen Geschäftsteilhaber zu konzentrieren, der verschiedene Unternehmungen während seiner Abwesenheit zu Ende führen sollte – vergebens. Immer und immer wieder dachte er an Fräulein Plawicki. Er war ein guter Dreißiger und stand daher in dem Alter, in welchem der Instinkt mit fast unwiderstehlicher Kraft den Mann zur Ehe, zur Gründung eines Heims, einer Familie treibt. Der größte Pessimist ist diesem Instinkte gegenüber machtlos.

Polaniecki war überhaupt kein Mensch, der sich in der Theorie gegen die Ehe aussprach. Im Gegenteil, er wollte sich verheiraten, ja, er war sogar von seiner Verpflichtung dazu überzeugt. So oft er daher auf seinem Lebenswege mit einer jungen Schönen zusammentraf, legte er sich sofort die Frage vor, ob diese oder wenigstens eine ähnliche für ihn passe. In solcher Weise beschäftigte er sich mit Fräulein Plawicki. Durch ihre Freunde in Warschau hatte er schon viel von ihr gehört, und immer nur Gutes und Schönes. Ihr sanftes, mildes Gesicht stand ihm jetzt deutlich vor Augen. Wenn er sich daher auch noch so oft gelobte, an seiner Forderung nichts nachzulassen, auf der Auszahlung zu bestehen, grollte er doch mit dem Schicksal, das ihn als Gläubiger nach Krzemien geführt hatte.

Nachdem er sich zur Ruhe gelegt hatte, konnte er lange Zeit nicht schlafen. Der Hahn begann zu krähen, durch die Fensterscheiben drang schon ein matter Glanz der Morgenröte, als er noch immer Fräulein Plawicki vor sich sah.


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