Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Zwanzigstes Kapitel

Trotz der seelischen Erregungen, welche Polaniecki durchzukämpfen hatte, erlitten die Geschäftsverhältnisse des Handlungshauses nicht nur keinerlei Einbuße, sondern entwickelten sich in einem immer größeren Maßstabe. Der Name der Firma stieg in der öffentlichen Meinung. Dank dem gesunden, praktischen Verstande, der Beharrlichkeit und der Umsicht Bigiels erhielten die Kunden niemals Ursache zur Unzufriedenheit oder zur Klage, und wenn Polaniecki auch nicht mit der gleichen Ruhe wie früher arbeitete, so hatte sein eiserner Fleiß doch keineswegs nachgelassen. Gerade in der Arbeit, die meistens große Schwierigkeiten bot, anstrengendes Denken erforderte, fand er Vergessenheit für all die erlittenen Kümmernisse, sie erschien ihm als der Hafen, in dem man sich vor dem Sturme bergen kann. »Hier weiß ich wenigstens, wozu und weshalb ich mich abmühe,« pflegte er zu Bigiel zu sagen. »Das Ziel liegt hier doch wenigstens klar vor mir. Die Ausübung meines Berufes entschädigt mich freilich nicht für all das Unglück, das ich erlebt habe, aber sie gewährt mir Erleichterung.« Polaniecki war jedoch ein viel zu warmfühlender Mensch, als daß ihm all das so rasch gleichgiltig werden konnte, was einst seinem Herzen teuer gewesen. So suchte er denn von Zeit zu Zeit das Grab Litkas auf. Verschiedene Male traf er auf dem Kirchhofe mit Frau Emilie und Marynia zusammen, und als er sie einmal in die Stadt zurückbegleitete, und Frau Emilie ihm für den Besuch der Grabstätte ihres Kindes dankte, fiel ihm anfänglich die verhältnismäßig große Ruhe auf, mit der sie von Litka sprach. Aber wie rührte es ihn, als sie schließlich sagte: »Ich bin überzeugt, daß mein geliebtes Kind unsre Trennung nur als eine vorübergehende betrachtet – ach, Sie wissen nicht, wie tröstlich mir der Gedanke ist, daß sie sich wenigstens nicht in Sehnsucht verzehrt,« und obwohl er bei sich dachte: »Nein, das weiß ich nicht,« so mußte er sich doch auch wieder sagen: Wenn das eine Verblendung ist, so ist es doch wahrlich eine heilsame Verblendung, gewährt sie doch Ruhe und Zuversicht.

Trotzdem Frau Emilie den Freund aufgefordert hatte, mit ihr und Marynia nach Hause zu gehen, zog sie sich sofort nach ihrer Heimkehr auf ihr Zimmer zurück, und Polaniecki blieb mit Marynia allein. Im Laufe des Gesprächs bestätigte ihm diese seine Annahme, daß Frau Emilie nur noch in dem Gedanken auf ein Wiedersehen mit ihrem Kinde lebe.

»Sie spricht übrigens von Litka,« bemerkte Fräulein Plawicki schließlich, »als ob das Kind gar nicht gestorben wäre und als ob sie es morgen wieder sehen werde.«

»Das ist ein Glück,« antwortete Polaniecki, »durch Waskowski ist sie so glaubensstark geworden.«

»Wenn sie von einem Wiedersehen spricht,« fuhr Marynia fort, »so hat sie ja vollkommen recht, denn . . .«

»Ich möchte Ihnen nicht gern widersprechen,« unterbrach sie Polaniecki.

Wie ein Schatten flog es über das Antlitz Marynias. Während sie sich einerseits über die Hartnäckigkeit beunruhigte, mit welcher Frau Emilie stets wieder auf den einen Gedanken zurückkam, schmerzte und bekümmerte sie andrerseits der Anflug von Skepticismus, der aus den Worten Polanieckis sprach. Da sie sich jedoch auf keine derartigen Erörterungen einlassen wollte, suchte sie dem Gesprächsthema eine andere Wendung zu geben.

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen schon gesagt habe, daß ich die Photographie Litkas vergrößern ließ,« ergriff sie daher wieder das Wort. »Gestern erhielt ich drei Exemplare zugeschickt. Eines davon schenke ich Emilie. Bleiben Sie noch einen Moment, ich möchte Ihnen die Bilder zeigen.«

So sprechend eilte sie an den Bücherschrank und nahm ein in weißes Fließpapier eingeschlagenes Paket herab, dann forderte sie Polaniecki auf, sich mit ihr an ein kleines Tischchen zu setzen, auf dem sie die Photographien ausbreitete.

»Emilie erwähnte gestern wieder das Gespräch,« hub sie dann von neuem an, »das wir kurz vor dem Tode Litkas führten. Das liebe Kind erkundigte sich, wie alt Bäume werden können, und fragte dann seine Mama, was sie wohl am liebsten sein möchte, wenn sie ein Baum wäre. Erinnern Sie sich dessen?«

»Ja, sehr gut. Litka wunderte sich, daß ein Baum ein so hohes Alter erreichen kann und entschied sich dann mit ihrer Mama für eine Birke.«

»Und Sie sagten, Sie möchten auch als Birke in der Nähe der beiden wachsen. Ich wollte daher um die Photographien Birken malen. Hier, sehen Sie, fing ich damit an, allein ich kam nicht sehr gut damit zustande, denn erstens habe ich seit lange keinen Pinsel mehr in der Hand gehabt, und zweitens kann ich gar nichts aus der Phantasie malen.«

Bei diesen Worten wies sie auf eine der Photographien, auf der sie in Aquarellfarben eine Baumgruppe angelegt hatte; da sie jedoch ein wenig kurzsichtig war, neigte sie sich so sehr auf ihre Arbeit, daß ihre Schläfe während eines Augenblickes fast die Schläfe Polanieckis berührte.

Trotzdem sich nun dieser einbildete, Marynia übe nicht mehr den gleichen Zauber wie früher auf ihn aus, die Zeiten seien längst vorüber, in denen sie all sein Trachten und Sinnen in Anspruch genommen habe, stieg ihm doch das Blut heiß in den Kopf, als er ihren Atem spürte, als ihr liebes Antlitz mit den leicht geröteten Wangen ihm so nahe kam.

»Wenn ich sie jetzt auf Augen und Mund küßte,« dachte er, »wie würde sie es wohl aufnehmen. Sie wäre sicherlich tödlich beleidigt, aber für all die Kümmernisse, die sie mir schon bereitet hat, dürfte ich mich wohl rächen.«

Nur mit Aufbietung aller Kraft bezwang er sich, während Marynia, ohne eine Ahnung von dem zu haben, was in ihm vorging, ruhig weiter sprach: »Heute kommt mir meine Arbeit noch schlechter vor als gestern. Zum Unglück sind die Bäume jetzt ganz kahl, so daß ich kein Modell finden kann.«

»Nein,« bemerkte Polaniecki, der sich schließlich selbst wiedergefunden hatte, »das ist durchaus keine schlechte Arbeit. Doch sagen Sie mir – wenn die Bäume Frau Emilie, Litka und mich darstellen sollen – warum haben Sie noch eine vierte Birke gemalt?«

»Die vierte, die bin ich,« entgegnete Marynia etwas verlegen. »Ich wünschte mir damals, auch eine Birke zu sein und in der Nähe der drei andern zu wachsen.«

Polaniecki sah Marynia prüfend an, sie jedoch fuhr hastig fort, indem sie die Photographien wieder in das Papier einschlug: »Was verknüpft sich nicht alles für mich mit der Erinnerung an dieses Kind? Ich war in der jüngsten Zeit fast fortwährend mit ihm und mit Emilie zusammen. Emilie steht mir heute von allen Personen auf der Welt am nächsten. Ich gehörte zu den beiden wie Sie auch . . . doch ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll . . . Wir waren unsrer vier, jetzt sind wir nur noch drei, eng verbunden durch die Erinnerung an Litka – denn sie war das Band, das uns zusammenhielt, und bleibt es auch in alle Zukunft. Wenn ich jetzt an das Kind denke, dann kommen auch Emilie und Sie mir sofort in den Sinn . . . deshalb beschloß ich, vier Birken zu malen, und wie Sie sehen, sind dies drei Photographien: eine für Emilie, eine für mich und eine für Sie.«

»Ich danke Ihnen von Herzen,« erwiderte Polaniecki, ihr die Hand reichend.

Marynia erwiderte seinen Händedruck sehr warm und sagte: »Das Andenken des Kindes können wir nicht besser ehren, als wenn wir alle frühern Kränkungen vergessen.«

»Damit stimme ich vollständig überein,« erwiderte Polaniecki, »und was mich betrifft, so hätte ich nur gewünscht, dies wäre schon lange vor dem Tode Litkas geschehen.«

»Daß es nicht geschah, war meine Schuld, für welche ich Abbitte leiste,« erklärte Marynia, während sie Polaniecki abermals die Hand reichte.

Einen Augenblick schwankte dieser, ob er diese kleine Hand nicht an seine Lippen führen solle, allein schließlich sagte er nur: »Also demnach Frieden und Freundschaft!«

»Und Freundschaft!« Eine tiefe, innige Freude spiegelte sich auf ihrem Antlitz, und sie schaute mit solchem Vertrauen zu ihm empor, daß er plötzlich wieder die frühere Marynia vor sich zu haben glaubte, die er in Krzemien gesehen hatte, als sie im Garten im Kahn saß und von den Strahlen der untergehenden Sonne beschienen wurde.

Seit dem Tode Litkas befand er sich in einer Stimmung, in der er jede weichere Empfindung unterdrücken zu müssen glaubte, er erhob sich daher rasch, um sich zu verabschieden.

»Wollen Sie nicht den Abend mit uns verbringen?« fragte Marynia.

»Nein, ich muß nach Hause.«

»Gedulden Sie sich nur noch einen Augenblick. Ich will Emilie sagen, daß Sie gehen,« bemerkte Marynia, indem sie sich der Thüre des anstoßenden Zimmers näherte.

»Sie scheint zu beten,« warf Polaniecki ein. »Bitte, stören Sie sie nicht. Ich komme vielleicht morgen wieder.«

»Morgen, täglich! Nicht wahr? Bedenken Sie, daß Sie nun auch für uns der Herr Stach sind.«

Seit Litkas Tode hatte ihn Marynia zweimal so genannt, und als Polaniecki sich von ihr verabschiedet hatte und sich auf dem Heimwege befand, dachte er bei sich: »Ihr Verhältnis zu mir hat sich völlig verändert. Sie betrachtet sich als zu mir gehörig, denn sie hält sich durch ihr Wort, das sie dem sterbenden Kinde gab, nicht nur für gebunden, sondern ist sogar entschlossen, sich in mich zu verlieben. Solche Erfahrungen kann man bei uns zu Dutzenden machen. Ich kenne diese Fischnaturen mit kalten Herzen und exaltierten Köpfen, die alles aus Grundsätzen, aus Pflichtgefühl thun, bei denen nichts ursprünglich ist. Ich könnte zu ihren Füßen sterben und doch nichts erreichen; aus Pflichtgefühl versucht sie, mich zu lieben, ich aber will nur um meiner selbst willen geliebt werden.« In solche Betrachtungen versunken, ging er nach Hause und legte sich schlafen.

In der Nacht träumte er von Birken und Flugsand, von klaren blauen Augen, von einem lieben Antlitz und von einer schlanken Gestalt voll Anmut und Jugendfrische.


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