Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Achtzehntes Kapitel

In der größten Angst, ob er Litka noch am Leben antreffen werde, eilte Polaniecki zu Frau Emilie. Die Dienerin hatte ihm unterwegs gesagt, das Kind habe heftige Konvulsionen und ringe mit dem Tode. Wie glücklich war er daher, als ihn Frau Emilie schon an der Treppe mit den Worten empfing: »Besser, besser!«

»Ist der Arzt hier?« fragte Polaniecki.

»Ja!«

»Und die Kleine.«

»Sie schläft.«

Frau Emiliens Antlitz trug, trotz der neu erwachten Zuversicht, deutlich die Spuren der überstandenen Angst und Sorge. Ihre Lippen waren fast weiß, die Augen trübe und gerötet, ihre Wangen brannten wie Feuer. Sie mußte zu Tode erschöpft sein, denn sie hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Der Arzt, ein energischer junger Mann, erklärte, daß die drohendste Gefahr vorüber sei, und die arme Mutter las ihm geradezu die Worte vom Munde, die er ihr vor Polaniecki sagte: »Wir sind nicht verpflichtet, einen weiteren Anfall zuzulassen, und wir lassen ihn nicht zu.«

Wohl lag in diesem Ausspruch eine gewisse Zuversicht, weil augenscheinlich der Doktor es für möglich hielt, einem weiteren Anfall vorzubeugen, aber es lag auch gleichzeitig eine Warnung darin, daß jeder weitere Anfall tödlich werden könne. Wie nur zu natürlich klammerte sich aber Frau Emilie an jeden Hoffnungsstrahl, wie ein Mensch, der in einen Abgrund stürzt, sich an die Aeste der Bäume klammert, die an dessen Rand wachsen.

»Wir lassen keinen zu, wir lassen keinen zu!« wiederholte sie, krampfhaft die Hand des Arztes drückend.

Polaniecki blickte diesen forschend an. Er hätte gern gewußt, ob der junge Arzt nur zu Beruhigung der Mutter so spreche, oder aus wirklicher Ueberzeugung, und so fragte er denn schließlich zur Probe: »Sie bleiben doch heute bei der Kleinen?«

»Dazu sehe ich keine Veranlassung,« antwortete der Doktor. »Das Kind ist erschöpft und wird voraussichtlich lange und fest schlafen. Morgen spreche ich selbstverständlich wieder vor, aber heute kann ich ganz beruhigt nach Hause gehen. Sie müssen gleichfalls ruhen,« wandte er sich hierauf an Frau Emilie. »Jede Gefahr ist vorüber, die Kranke könnte sich aber aufregen, wenn sie bemerkt, wie angegriffen und müde Sie aussehen, und das würde ihr unbedingt schaden.«

»Ich könnte doch nicht schlafen,« warf Frau Emilie ein.

Aber der Arzt richtete seine blaßblauen Augen auf sie, und während er sie unverwandt und fest anschaute, sagte er langsam und eindringlich: »In einer Stunde legen Sie sich nieder und schlafen sofort. Ich will, daß Sie sechs oder acht Stunden ununterbrochen schlafen. Sagen wir acht. Morgen werden Sie sich kräftig und gestärkt fühlen. Und nun, gute Nacht!«

»Wie ist's aber mit den Tropfen, wenn Litka erwachen sollte?«

»Die Tropfen giebt ihr jemand anders. Sie werden schlafen. Gute Nacht.«

Mit diesen Worten verabschiedete er sich.

Polaniecki wollte ihn anfänglich hinausbegleiten, um ihn unter vier Augen über Litkas Zustand zu befragen, da er sich aber mit Recht sagte, ein längeres Gespräch könne Frau Emilie in Angst versetzen, unterließ er es und beschloß, am folgenden Tage den Doktor in seiner Wohnung aufzusuchen. Als er sich gleich darauf mit Frau Emilie allein befand, erklärte er:

»Jetzt müssen Sie aber die Vorschrift des Arztes befolgen. Es ist unbedingt nötig, daß Sie sich Ruhe gönnen. Zählen Sie auf mich. Ich gehe jetzt in Litkas Zimmer und rühre mich die ganze Nacht hindurch nicht mehr von der Stelle.«

Frau Emiliens Gedanken weilten indessen unaufhörlich bei ihrem kranken Kinde. Anstatt daher Polaniecki direkt zu antworten, bemerkte sie: »Wissen Sie auch, daß Litka, ehe sie nach dem Anfall einschlief, mehreremale nach Ihnen und Marynia gefragt hat? Sie schlief mit den Worten ein: ›Wo ist Herr Stach‹?«

»Mein armer Liebling! Ich wäre jedenfalls sofort nach dem Mittagessen gekommen. Auf Ihre Botschaft flog ich aber geradezu hierher. Wann bekam sie den Anfall?«

»Im Laufe des Vormittags. Schon in der Frühe fiel mir ihre trübe Stimmung auf. Möglich, daß sie etwas ahnte. Mir gegenüber behauptet sie ja stets, sich ganz wohl zu fühlen, es muß ihr aber doch unbehaglich zu Mute gewesen sein, denn vor dem Anfall bat sie mich, ich möge sie bei der Hand nehmen. Gestern – ich vergaß, es Ihnen zu erzählen – legte sie mir die wunderliche Frage vor, ob es wahr sei, daß einem kranken Kinde keine Bitte abgeschlagen werden könne. Ich entgegnete ihr, diese Frage dürfe nur in dem Falle mit ›Ja‹ beantwortet werden, wenn das kranke Kind um etwas bitte, das nicht unmöglich zu erfüllen sei. Es ging ihr augenscheinlich etwas durch den Kopf, denn abends, als Marynia kam – sie muß nun wieder zu Hause sein, da ihr Vater unpäßlich war – legte sie mir eine ähnliche Frage vor. Sie ging ganz fröhlich schlafen, aber bald nach dem Erwachen klagte sie über Atemnot. Es war ein Glück, daß ich schon vor dem Anfall zu dem Doktor geschickt hatte und daß er sofort kam.«

»Das größte Glück ist es aber, daß er mit solcher Gewißheit behauptet, der Anfall werde sich nicht wiederholen. Das ist seine feste Ueberzeugung, dessen bin ich gewiß,« warf Polaniecki ein.

Frau Emilie blickte zum Himmel. »Gott ist so barmherzig, so gut, daß . . .«

Sie vermochte nicht weiter zu reden. Trotz Aufbietung aller Kräfte brach sie in Thränen aus, aber in Freudenthränen, denn Angst und Verzweiflung waren von ihr gewichen, hatten der Freude über das Besserbefinden Litkas Platz gemacht. Trotz ihrer edlen, durchgeistigten Natur konnte Frau Emilie durch die ihr angeborene Exaltation niemals zu einem ruhigen Ueberlegen kommen, und so hegte sie auch jetzt nicht den geringsten Zweifel, daß die Krankheit Litkas mit diesem letzten Anfall gebrochen sei und daß von nun an für diese eine Zeit völliger Genesung beginne.

Polaniecki fehlte sowohl die Lust als der Mut, die arme Mutter aus ihren Illusionen zu reißen. Aus tiefstem Herzen fühlte er Erbarmen mit ihr, und mehr denn je empfand er es, wie fest die Bande waren, die ihn mit dieser Frau verknüpften. Wäre sie seine Schwester gewesen, er hätte sie umfaßt und an die Brust gezogen, nun aber küßte er ihre zarte schmale Hand und sagte: »Gott sei gedankt! Nun, meine teure Freundin, müssen Sie aber auch an sich denken; ich gehe zu der kleinen Patientin und rühre mich nicht vom Flecke, damit sie ja nicht erwacht.«

Unverweilt begab er sich in das Krankenzimmer. Dämmerlicht herrschte darin; die Jalousien waren herabgelassen, durch die Spalten stahl sich ein rötlicher Schein der untergehenden Sonne, der das Zimmer notdürftig erleuchtete, aber mehr und mehr erlosch, da sich der Himmel zu überziehen begann. Litka schlief fest. Polaniecki setzte sich leise an das Bett, schaute in das Antlitz der Schlafenden, und im ersten Momente zog sich ihm das Herz zusammen vor Schmerzensgefühl. Litka lag auf dem Rücken, das Gesicht dem Plafond zugekehrt, ihre hagern Händchen waren auf der Decke ausgestreckt, die eingesunkenen Augen von schwarzen Ringen umzogen. Ihre Blässe, der offene Mund und schließlich der tiefe Schlaf verliehen ihrem Antlitz das Aussehen einer Toten. Nur die Bewegung des Besatzes, der das Nachtkleid zierte, verriet, daß die Kleine lebte und atmete. Ihr Atem ging sogar ruhig und ganz regelmäßig. Lange, lange saß Polaniecki so da und schaute in das Gesicht der Kranken, und wieder überkam ihn mit voller Kraft das Gefühl, daß er von der Natur zum Vater bestimmt worden sei, daß außer der Gattin ihm Kinder nötig waren, um seinem Leben einen Zweck, ein Ziel zu verleihen. Noch nie zuvor hatte er eine solche Zärtlichkeit wie jetzt für Litka empfunden. »Wenn das Kind mir überlassen würde,« dachte er, »wenn es die Mutter verlieren sollte, würde ich es für immer zu mir nehmen und mir sagen, daß ich nun doch für etwas auf der Welt sei.«

Auch fühlte er, daß, wenn er mit dem Tode feilschen dürfe, er sich ohne Zögern selbst hingeben würde, um das »Mäuschen« loszukaufen, über dessen Haupt der Todesengel schwebte, wie der Raubvogel über der Taube, und dieser Mensch mit dem unbeugsamen energischen Charakter hätte am liebsten das bleiche Kindergesichtchen mit einer Zärtlichkeit geküßt, wie sie wohl sonst nur ein Frauenherz zu empfinden vermag.

Inzwischen wurde es dunkler und dunkler. Frau Emilie brachte mit kaum hörbaren Schritten ein Nachtlicht, dessen bläulichen Schein sie mit der Hand beschattete. »Schläft sie?« fragte sie leise, indem sie das Nachtlicht auf ein Tischchen zu Häupten Litkas stellte.

»Sie schläft,« antwortete gleichfalls leise Polaniecki.

Frau Emilie betrachtete forschend die Schlafende.

»Sehen Sie,« flüsterte ihr Polaniecki zu, »wie ruhig und gleichmäßig sie atmet. Morgen wird sie besser und kräftiger sein.«

»Das hoffe ich,« antwortete Frau Emilie mit dankbarem Lächeln.

»Jetzt muß aber die Mama an sich denken. Legen Sie sich schlafen, sonst zanke ich ernstlich.«

»Ich werde folgsam sein und mich niederlegen. Marynia und Professor Waskowski werden kommen. Erstere will durchaus heute nacht hier bleiben.«

»Desto besser. Fräulein Plawicki versteht es sehr gut, mit der Kleinen umzugehen. Also gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Polaniecki blieb allein im Krankenzimmer, und seine Gedanken wanderten sofort wieder zu Marynia. Er grübelte über das wunderbare Naturgeheimnis nach, kraft dessen er Frau Emilie nicht liebte, die doch entschieden schöner, fähiger zur Liebe war, als Marynia, sondern mit allen Fasern seines Herzens an diesem Mädchen hing, das er im großen und ganzen weit weniger verehrte als jene engelgleiche Frau. So oft er auch mit Marynia zusammentraf, stets überkam ihn die mächtige Erregung, die jeden Mann beim Anblick des erwählten Weibes erfaßt, während er der Schönheit von Frau Emilie, wie einem Porträt oder einer Statue, ruhig bewundernd gegenüberstand. Weshalb dies der Fall und weshalb für einen Menschen, dessen Nerven, dessen Eindrucksfähigkeit durch den Einfluß der Kultur empfindsamer geworden sind, ein solch großer Unterschied zwischen Frau und Frau besteht, auf diese Frage fand Polaniecki keine Antwort.

Durch den Eintritt Marynias wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Sie neigten beide das Haupt zum wechselseitigen Gruße, dann holte Polaniecki einen Lehnstuhl und stellte ihn behutsam an Litkas Bett, indem er Fräulein Plawicki mit den Augen ein Zeichen gab, daß sie sich setzen möge. Sie ergriff zuerst das Wort.

»Gehen Sie jetzt und trinken Sie eine Tasse Thee,« sagte sie flüsternd, »Professor Waskowski ist auch im Salon.«

»Und Frau Emilie?«

»Sie vermag sich kaum mehr aufrecht zu erhalten. Sie erklärte, so seltsam es sei, sie könne aber nicht mehr anders, sie müsse sich schlafen legen.«

»Ich weiß weshalb. Der Arzt suchte sie zu hypnotisieren und scheint seine Absicht erreicht zu haben. Der Kleinen geht es übrigens besser.«

Fräulein Plawicki blickte ihn etwas ungläubig an, allein er wiederholte: »Es geht in der That besser . . . wenn der Anfall nicht wiederkehrt, was wir hoffen wollen, wird sie sich sicherlich rasch erholen.«

»Gott sei Dank. Aber nun gehen Sie und trinken Sie eine Tasse Thee.«

Dazu konnte er sich jedoch nicht entschließen. Er fühlte sich viel zu glücklich darüber, mit ihr so vertraut flüstern zu können, und erwiderte daher: »Jetzt nicht, vielleicht später. Sie dürfen übrigens nicht die ganze Nacht wachen. Ich hörte, Ihr Vater sei krank gewesen, gewiß haben Sie sich auch bei dessen Pflege angestrengt.«

»Mein Vater ist wieder völlig hergestellt, und ich kann ganz gut an Stelle Emiliens wachen. Die Dienerschaft ist in der jüngsten Zeit auch wenig zur Ruhe gekommen und muß geschont werden. Da aber das Kind keinen Augenblick allein gelassen werden soll, so wäre es am besten, wenn wir, Emilie, Sie und ich, der Reihe nach wachten.«

»Gut. Heute gehe ich aber nicht weg. Ich kann mich ja im anstoßenden Zimmer aufhalten, um gleich bei der Hand zu sein, wenn man mich brauchen sollte. Wann hörten Sie von dem Anfall?«

»Ich wußte gar nichts davon. Ich kam wie jeden Tag, um zu hören, wie es Litka gehe.«

»Frau Emilie schickte zu mir ins Restaurant. Sie können sich denken, in welcher Angst ich hierher eilte; ich fürchtete, das Kind nicht mehr am Leben zu treffen. Merkwürdig ist es, daß wir, Bukacki, Waskowski und ich beim Mittagessen fast fortwährend von Litka sprachen, bis Maszko und Bigiel kamen, und uns letzterer die Neuigkeit mitteilte, daß sich ersterer verlobt hatte.«

»Herr Maszko hat sich verlobt?«

»Ja. Die Verlobung ist zwar noch nicht veröffentlicht, aber er teilte uns selbst die Nachricht mit. Seine Braut ist Fräulein Kraslawski, für Maszko ist das eine sehr gute Partie.«

Ein kurzes Schweigen trat ein. Marynia hatte sich, nachdem Maszko von ihr abgewiesen worden war, häufig Vorwürfe über ihr Benehmen gegen ihn in der Voraussetzung gemacht, daß sie ihm eine schmerzliche Täuschung bereitet habe. Was wäre daher natürlicher gewesen, als daß sie über die Kunde, der junge Advokat habe den Schlag so leicht überwunden, Freude empfunden hätte; dem war aber nicht so. Im Gegenteil, die Nachricht setzte sie in Staunen, verletzte sie sogar. Die meisten Frauen, die mit einem Manne Mitleid haben, wollen, daß dieser Mann in der That unglücklich ist, und daß sich dieser Unglückliche nur von ihnen trösten läßt; sobald sich zeigt, daß auch jemand anders dazu imstande ist, fühlen sie sich gewissermaßen gekränkt. Marynias Eigenliebe erhielt einen gewaltigen Stoß. Ganz abgesehen davon, daß sie niemals gedacht, man könne sie so rasch vergessen, sah sie nun auch ein, wie wenig Maszko der Ausnahmsmensch war, für den sie ihn gehalten. Bis jetzt hatte sie ihn stets als eine Art von Trumpf gegen Polaniecki ausgespielt – nun hörte dies auch auf, und sie fühlte sich geradezu gedemütigt. Dies hinderte sie jedoch keineswegs, Polaniecki ernsthaft zu versichern, die Neuigkeit erfülle sie mit wahrer und tiefer Freude, aber im Grunde war es ihr wieder eine Kränkung, daß er ihr diese Mitteilung gemacht hatte.

Schon seit geraumer Zeit befleißigte sich Polaniecki einer großen Selbstbeherrschung und verriet in keiner Weise etwas von dem, was in ihm vorging. So oft er mit Marynia zusammengetroffen war, hatte er sich bemüht, unbefangen zu erscheinen und war ihr mit ruhiger Freundlichkeit entgegengetreten.

Und es ist eine eigentümliche Sache mit der menschlichen Natur, denn obwohl Marynia die ihr früher zugefügte Kränkung noch nicht vergessen hatte, obwohl das erste Gefallen, das sie an ihm gefunden, sich in Bitterkeit verwandelt hatte, ärgerte sie sich nun doch darüber, daß sie ihm gleichgültig geworden zu sein schien. Auch kam es ihr vor, als ob Polaniecki über ihre Enttäuschung wegen Maszko triumphiere und sich darüber freue, daß sie, die noch vor kurzem die Wahl zwischen ihm und Maszko gehabt, nun nicht mehr auf letztern rechnen konnte und sich dadurch ein wenig gedemütigt fühlen mußte.

Ein solcher Gedanke lag aber Polaniecki fern. War er doch jederzeit bereit, sie voll Liebe an seine Brust zu schließen. Als er jetzt Marynia gegenüber saß und in ihr Antlitz blickte, das von dem blassen Lichtschein kärglich beleuchtet wurde, sagte er sich insgeheim: »Wenn sie nur wollte!«

Dem kurzen Gespräche zwischen ihnen folgte ein längeres Schweigen. Eine feuchte Herbstnacht brach an, so recht geschaffen zu Trübsal, Traurigkeit und pessimistischen Gedanken. Immer düsterer wurde es in dem Krankenzimmer, in dessen dunkeln Winkeln der Tod zu lauern schien. Stunde auf Stunde schlich langsam dahin. Polaniecki blickte traurig auf das kranke Kind.

»Du darfst nicht von mir gehen, Kindchen,« murmelte er unwillkürlich, »Du weißt nicht, wie nötig Du mir und der Mama bist. Gott möge uns vor einem solchen Schlage schützen. Welch ein Leben wäre es ohne Dich!«

Plötzlich sah er, daß das Kind seine großen Augen auf ihn richtete. Anfänglich glaubte er, sich zu täuschen und vermied die geringste Bewegung, allein die Kleine flüsterte schließlich:

»Herr Stach . . .«

»Was wünschest Du, Mäuschen? Wie fühlst Du Dich?«

»Gut. Wo ist Mama?«

»Sie kommt gleich. Wir sprachen ihr so lange zu, bis sie sich schlafen legte.«

Litka wandte sich um, und Marynia erblickend, sagte sie: »Ah, da ist Tante Marynia.«

Marynia erhob sich, nahm das Arzneifläschchen, das auf dem Nachttischchen stand, begann am Lichte die Tropfen in den Löffel zu zählen, gab sie der kleinen Patientin und drückte ihre Lippen auf deren Stirn.

Nach kurzem Schweigen sagte das Kind, als ob es zu sich selbst spräche: »Mama darf nicht geweckt werden.«

»Nein, niemand darf sie wecken,« bemerkte Polaniecki. »Alles muß so geschehen, wie es meine Litka haben will.«

Bei diesen Worten begann er die Händchen der Kleinen zu streicheln, die auf der Bettdecke lagen. Litka aber schaute ihn zärtlich an und sagte nur, wie sie so oft zu thun pflegte: »Herr Stach . . . Herr Stach . . .«

Während eines Augenblickes schien es, als ob die Kleine schliefe. Dem war aber nicht so. Sie schien nur etwas überlegt zu haben, denn gleich darauf öffnete sie die Augen und schaute, mit Aufbietung aller Kraft sich ein klein wenig in die Höhe richtend, abwechselnd Polaniecki und Marynia an.

Im Zimmer hörte man nichts als die Regentropfen, die an die Scheiben schlugen.

»Was ist Dir, Kind?« fragte schließlich Marynia.

Litka faltete die Händchen und erwiderte mit kaum hörbarer Stimme: »Ich habe eine große Bitte an Tante Marynia, aber . . . ich wage nicht, sie auszusprechen.«

Marynia neigte sich liebevoll zu dem Kinde. »Sprich, mein Liebling! Sage mir alles, was Du auf dem Herzen hast.«

Das Kind ergriff rasch ihre Hände, führte sie an seine Lippen und flüsterte: »Tante Marynia, versprich mir, Herrn Stach zu lieben.«

Die tiefe Stille, die auf diese Worte folgte, wurde anfänglich nur durch den etwas beschleunigten Atem des Kindes unterbrochen, dann aber ertönte die ruhige, klare Stimme Marynias: »Gewiß, Herzchen.«

Ein krampfhaftes Schluchzen drohte die Kehle Polanieckis zuzuschnüren, das Herz brach ihm fast beim Anblick dieses Kindes, das krank, schwach, dem Tode nahe, nur an ihn dachte, nur für ihn sorgte.

Litka aber fuhr fort: »Tante Marynia, versprich mir, Herrn Stach zu heiraten!«

In dem bläulichen Scheine des Nachtlichtes erschien das Gesicht Marynias weiß wie der Schnee, ihre Lippen bebten, allein sie erwiderte ohne Zögern: »Gewiß, mein Liebling!«

Litka führte mehrmals ihre Hände an die Lippen, dann sank ihr Köpfchen auf die Kissen zurück, sie schloß die Augen und große Thränen rannen über ihre Wangen.

Eine bange Stille trat ein. Polaniecki und Marynia saßen regungslos da und wagten nicht, sich anzusehen. Beide fühlten, daß sich ihr Los in dieser Nacht entschieden hatte, und beide waren wie betäubt von dem, was geschehen war.

In solch tiefer Stille verrann Stunde auf Stunde. Die Uhr schlug Mitternacht, dann eins; gegen zwei Uhr glitt Frau Emilie gleich einem Schatten ins Zimmer.

»Schläft Litka?« flüsterte sie.

»Nein, Mütterchen,« antwortete Litka.

»Ist es Dir gut?«

»Ganz gut.«

Und als sich Frau Emilie zu ihrem Töchterchen auf das Bett setzte, schlang es die Arme um den Hals der Mutter, lehnte sein bleiches Gesichtchen an deren Brust und sagte: »Jetzt weiß ich, Mütterchen, daß man einem kranken Kinde nichts abschlägt, um was es auch bittet.«

Während einiger Minuten schmiegte sich das Kind zärtlich an die Mutter, dann fuhr es langsam fort, als ob es schlaftrunken wäre: »Herr Stach wird nun nicht mehr traurig sein, Mütterchen, und ich sage Dir, weshalb . . .«

Mit einem Male verstummte es, sein Köpfchen lag schwer auf der Brust der Mutter, und diese fühlte, wie ein kalter Schweiß auf den Händchen, auf der Stirn des Kindes ausbrach. »Herzchen!« rief sie mit zitternder, erschreckter Stimme. Und das Kind sagte:

»Es ist mir so sonderbar, so matt . . .«

Seine Gedanken schienen sich zu verwirren, denn einen Augenblick darauf rief es: »Ach, das Meer kommt! Ein solch großes Meer, und wir alle schwimmen darauf. Mama, Mama!«

Ein neuer Anfall kam. Das Kind wand sich in Konvulsionen, seine Augen traten weit aus den Höhlen. Eine Täuschung war nicht mehr möglich: der Tod nahte, er kauerte in den dunklen Ecken des Zimmers; man sah ihn kommen in dem fahlen Scheine des Nachtlichtes, man hörte ihn kommen in dem Brausen des Windes.

Wie ein Wahnsinniger stürzte Polaniecki zu dem Arzte; schon nach einer Viertelstunde kehrten beide zurück. Angstvoll traten sie in das Krankenzimmer, zuerst Polaniecki, dann der Arzt, welcher seit dem Momente, da er aus dem Schlafe geweckt worden war, stets die Worte wiederholte: »Entweder Aufregung oder sonst ein unvorhergesehener Vorfall!«

Die Dienerschaft mit schlaftrunkenen, angsterfüllten Gesichtern drängte sich zitternd an die Thüre um zu lauschen. Eine unheilvolle Stille und Ruhe herrschte.

Plötzlich trat Marynia aus dem Zimmer, mit einem Gesicht, bleich wie der Tod, und sagte mit bebender Stimme: »Das Kind ist tot.«


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