Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Zweiundsechzigstes Kapitel

Fräulein Helene erhielt vor ihrer Abreise einen ähnlichen Brief von Frau Bronicz wie den, welchen Marynia bekommen hatte, und ebenso wie Marynia zeigte auch sie Zawilowski das Schreiben nicht. Uebrigens reiste auch letzterer eine Woche darauf mit Swirski ab, ohne jemand seiner Bekannten, mit Ausnahme Fräulein Ratkowskis, einen Abschiedsbesuch gemacht zu haben. Swirski riet ihm selbst davon ab, und Polaniecki gab ihm seiner Frau gegenüber vollständig recht. »Jetzt (bemerkte er) wäre dies nicht nur für Ignaz, sondern für alle peinlich gewesen. Sicherlich würde jedes unwillkürlich seinen Schrecken über die Veränderung verraten haben, die mit Ignaz vorgegangen ist. Doch die Reise wird voraussichtlich gut auf ihn wirken, und wenn er zurückkommt, können ihn die Freunde so empfangen, als ob nichts vorgefallen wäre, und die Fernerstehenden werden in ihm vor allem den reichen jungen Mann sehen.«

Allmählich wurde es indessen immer einsamer um Polanieckis. Der Kreis ihrer Bekannten hatte sich nach allen Richtungen zerstreut. Osnowski hielt sich noch immer in Brüssel auf, über den Aufenthaltsort seiner Frau wußte niemand etwas Genaues. Frau Bronicz und Fräulein Castelli weilten in Paris. Das Haus Zawilowski hatte zu bestehen aufgehört. Frau Kraslawski und Frau Maszko hielten sich von allem Verkehr fern und lebten nur für einander, und Frau Emilie konnte das Bett nicht mehr verlassen.

Nur Bigiels und der Professor blieben ihnen. Letzterer kränkelte aber auch fortwährend und wurde dabei so wunderlich, daß die Leute ihn für einen Verrückten halten mußten. Er selbst sprach unaufhörlich von seinem Tode, dem er gottergeben entgegensah, nur hatte er Polaniecki schon häufig erklärt, »daß er in dem Hausflur zur andern Welt sterben wolle,« und zu diesem Zwecke nach Rom überzusiedeln gedenke. Doch da er Marynia sehr liebte, konnte er sich nicht entschließen, vor dem in Aussicht stehenden Ereignisse wegzugehen.

Auf diese Weise lebten Polanieckis sehr ruhig. Dies war übrigens für Marynia, die sich in der letzten Zeit recht unwohl gefühlt hatte, wie auch für Polanieckis Stimmung absolut notwendig. Er arbeitete viel im Geschäfte, er arbeitete viel an sich. Er wollte ein neuer Mensch werden. Dabei wachte er sorgsam über seine Frau. Er wurde mit jedem Tag rücksichtsvoller, nachsichtiger und milder, nicht bloß ihr gegenüber, sondern gegen alle, mit denen er in Berührung kam.

So verging eine Woche nach der andern. Das monotone Leben wurde bloß durch einen Brief Swirskis unterbrochen, der jeden freien Augenblick dazu benutzte, um den Freunden über Zawilowski und sich Nachricht zukommen zu lassen. In einem dieser Schreiben fragte er im Namen Zawilowskis an, ob Frau Polaniecki erlaube, daß dieser seine Reiseeindrücke in Briefen an sie schildern dürfe.

»Ich sprach schon viel mit ihm darüber,« schrieb Swirski. »Er meint, daß auf diese Weise ihm die Arbeit sehr erleichtert werde, es werde auch Ihnen sicherlich Vergnügen bereiten, ein Echo aus dem Lande ertönen zu hören, an das Sie soviele angenehme Erinnerungen knüpfen. Er ist gesund, sieht sich alles an, ißt und schläft vorzüglich. Jeden Abend setzt er sich an den Schreibtisch und macht sich an die Arbeit. Ich bemerkte, daß er auch zu dichten versuchte. Dies gelingt ihm aber nicht, denn soviel ich weiß, hat er bis jetzt nichts zustande gebracht. Vielleicht kommt das aber auch mit der Zeit wieder, und vorderhand dürfte ihm die Form der Briefe die Arbeit thatsächlich erleichtern. Schließlich möchte ich noch beifügen, daß er sich Fräulein Helenens stets mit großer Dankbarkeit erinnert, und sobald man von Fräulein Ratkowski spricht, strahlt sein ganzes Gesicht. Ich rede oft mit ihm von ihr, denn was soll ich armer Teufel thun? Wenn einem etwas nicht bestimmt ist, läßt sich nichts dagegen machen, und wenn einer ein Pfahl in einem Zaune geworden ist, so wird er eben im Frühling niemals Blüten treiben.«

Anfangs November traf jedoch ein Brief aus Rom ein, der bei Polanieckis viel zu denken gab. Swirski schrieb folgendes:

»Denken Sie sich, meine lieben Freunde, Frau Bronicz und Fräulein Castelli befinden sich hier, und ich habe sie gesprochen. In Rom bin ich ja wie zu Hause, ich erfuhr daher sofort von deren Ankunft. Wissen Sie, was ich that? Ich überredete Ignaz, einen Abstecher nach Sizilien zu machen. Ich dachte mir, er könne in Syrakus oder Taormina sitzen bleiben, und falls er zufällig in die Hände der ›Maffia‹ fallen sollte, er viel weniger bezahlen müßte, als er schon für das Recht bezahlt hat, während einiger Zeit den Ring Fräulein Linetas tragen zu dürfen. Ich sagte mir, daß, wenn sie sich irgendwo in der Welt begegnen und sich versöhnen sollten, so möge dies in Gottes Namen geschehen, nur wollte ich es nach dem, was vorgefallen, nicht vor meinem Gewissen zu verantworten haben. Ignaz ist dem Anschein nach gesund, aber geistig ist er noch immer nicht ganz normal, und in diesem Zustand könnte er zu etwas verführt werden, das er sein ganzes Leben hindurch bereuen müßte. Was die Damen betrifft, so habe ich sofort erraten, weshalb sie gekommen sind, und ich freute mich von Herzen, daß ich ihre Pläne durchkreuzte. Den Beweis, wie richtig mein Verdacht war, lieferte ein Brief, der nach einigen Tagen für Ignaz ankam und an dessen Adresse ich die Hand der ehrwürdigen Witwe des seligen Theodor erkannte. Ich schrieb auf den Umschlag, daß Zawilowski abgereist sei und niemand seinen jetzigen Aufenthaltsort kenne, sodann schickte ich den Brief ›retro‹. Das ist jedoch bloß der Anfang der Geschichte. Den darauffolgenden Tag erhielt ich ein Billet mit der Aufforderung, mich zu einer Unterredung einzustellen. Ich schrieb zurück, ich könne zu meinem Bedauern nicht kommen, eine dringende Arbeit gestatte mir nicht, Besuche zu machen. Darnach erhielt ich einige Zeilen, in denen man an meinen vorzüglichen Charakter, an mein großes Talent, an meine Abstammung, an mein gutes Herz und zuletzt an mein Mitgefühl mit einer Unglücklichen appellierte, mit der Bitte, doch ja zu kommen oder irgend eine Zeit bestimmen zu wollen, in der ich in meinem Atelier zu sprechen sei. Was sollte ich thun? Da war nichts zu machen! Ich bin gegangen. Frau Bronicz empfing mich mit Thränen und einem wahren Schwall von Worten, nach denen Lineta eine zweite heilige Agnes, eine wahre Märtyrerin ist. Auf meine Frage, womit ich dienen könne, erklärte Frau Bronicz, es handle sich zunächst um ein versöhnendes Wort von Zawilowski, denn ›das Kind ist krank, es hustet und wird wohl kaum noch ein Jahr leben, aber es will vor seinem Tode wenigstens ein Wort der Versöhnung hören.‹ – Darauf, das muß ich gestehen, bin ich ein wenig weicher geworden, aber ich blieb immer noch fest. Ich konnte übrigens zum Glück die Adresse Zawilowskis nicht angeben, denn ich wußte wirklich selbst nicht, in welchem Hotel er abgestiegen war. Ich schwitzte wie in einem Dampfbade und schließlich versprach ich ihr so im allgemeinen, daß, falls Ignaz einmal mit mir zuerst von Fräulein Castelli zu sprechen beginne, ich ihm zureden werde, den Willen von Frau Bronicz zu erfüllen. Doch das ist alles noch nichts. In dem Augenblicke, da ich an ›Kehrt‹ dachte, trat plötzlich Fräulein Lineta ins Zimmer und wandte sich mit der Bitte an die Tante, sie mit mir allein zu lassen. Nebenbei bemerke ich Ihnen, daß sie sehr abgemagert ist und mir noch größer als früher vorkam, eine wahre Pappel, die jeder Windstoß brechen kann. Kaum waren wir allein, so wandte sie sich an mich und sagte: ›Die Tante versucht mich zu entschuldigen. Sie thut dies alles aus Liebe für mich, und daher bin ich ihr dankbar dafür. Doch ich kann es nicht länger ertragen und ich erkläre Ihnen, daß ich mich schwer versündigte, daß ich schlecht, verderbt bin und mein Unglück verdient habe.‹ Diese Worte überraschten mich natürlich, aber ich sah, daß sie es ernsthaft meinte, denn ihre Lippen bebten und ihre Augen wurden feucht. Meinetwegen dürft Ihr sagen, mein Herz sei so weich wie Butter, ich gestehe aber nichtsdestoweniger, daß ich furchtbar gerührt war und fragte, was ich für sie thun könne. Sie antwortete mir, sie bitte um nichts, als daß ich ihr wenigstens darin Glauben schenken möge, sie habe an den Bemühungen der Tante, das frühere Verhältnis mit Ignaz wieder anzuknüpfen, keinen Anteil. Erst nach der unglückseligen That Zawilowskis seien ihr die Augen darüber aufgegangen, was sie verschuldet, und niemals im Leben könne sie dies wieder vergessen. Immer und immer wiederholte sie, nur sie allein trage die Schuld an allem, und bat, ich möge diese Unterredung Zawilowski mitteilen, aber nicht jetzt, sondern erst dann, wenn er sie nicht mehr in Verdacht haben könne, sie wolle ihn rühren.

Nun, was sagt Ihr dazu? Hättet Ihr das je für möglich gehalten? Zwei Dinge sind mir nun klar. Erstens, daß sie der Selbstmordversuch Zawilowskis ungemein erschüttert haben muß, und zweitens, daß sie fabelhaft unglücklich, wenn nicht wirklich krank ist. Es fällt mir jetzt gerade ein Ausspruch Fräulein Helenens ein, den Sie, lieber Herr Polaniecki, mir einmal anführten, nämlich, daß man nie an der Besserung eines Menschen zweifeln dürfe, so lange er lebe. Ich glaube sogar, daß wenn sich auch Zawilowski jetzt mit ihr versöhnen wollte, sie deshalb nicht darauf einginge, weil sie sich seiner nicht wert hält. Was mich betrifft, so weiß ich zwar, daß es in der Welt viel bessere und edlere Frauennaturen als jene giebt, aber ich würde mich selbst verwünschen, wenn ich je gegen sie aufträte.«

Der Inhalt dieses Schreibens machte natürlich auf alle einen großen Eindruck und bildete das Hauptgespräch zwischen Polanieckis und Bigiels. Gleichzeitig zeigte es sich aber auch so recht, wie sehr sich Polaniecki verändert hatte. Früher hatte er nicht genug Worte der Verdammung für Fräulein Castelli finden können und würde nie geglaubt haben, daß ein solches Mädchen auch nur eine ehrliche Ader habe, jetzt aber, als Frau Bigiel (die wie übrigens alle Damen mit Leib und Seele auf seiten Fräulein Ratkowskis stand) ihre Meinung dahin äußerte, ob das nicht nur eine geschickte Taktik von Fräulein Castelli sei, sagte er: »Nein, dazu ist sie noch zu jung, und ich halte sie für offen. Das ist schon sehr viel, wenn sie so rücksichtslos ihre Schuld bekennt, denn das beweist, daß sie die ›Lebenslüge‹ satt hat. Da fällt mir z. B. Maszko ein,« fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu. »Häufig genug sah er ein, daß er sich auf Abwegen befinde, doch sofort suchte er außer ihm liegende Gründe zu seiner Entschuldigung: ›Bei uns muß man so handeln‹ oder ›daran ist unsre Gesellschaft schuld‹, ›ich zahle mit der Münze, die bei uns in Kurs ist‹, und was ich alles dergleichen hören mußte. Aber alles basierte auf Unwahrheit. Es gehört immerhin ein gewisser Mut zu dem Geständnisse: ›Das ist meine Schuld allein‹, und wer diesen Mut besitzt, an dem ist immer noch etwas.«

»Sie glauben daher,« fragte Frau Bigiel, »Zawilowski würde gut daran thun, sich mit ihr auszusöhnen?«

»Ich glaube das ebensowenig, wie ich es für möglich halte,« lautete die Antwort des Gefragten.

Das lebhafte Interesse jedoch, das durch die Nachrichten aus Rom erweckt wurde, und die Sorge um Zawilowski und Fräulein Castelli traten bald hinter der viel ernsteren Sorge um die Gesundheit Marynias zurück. Ihr Zustand wurde immer bedenklicher. Heftiges Herzklopfen belästigte sie, und zuweilen überfiel sie eine so große Schwäche, daß sie sich an manchen Tagen kaum aus dem Lehnstuhle aufzuraffen vermochte. Dazu traten noch Rückenschmerzen und Schwindelanfälle. Im Laufe von acht Tagen veränderte sie sich dermaßen und magerte so sehr ab, daß selbst der Arzt höchst beunruhigt wurde. Ihr durchsichtiges Gesicht nahm zuweilen eine bläuliche Farbe an, und besonders wenn die Kranke die Augen geschlossen hielt, glich sie einer Toten. Sogar Frau Bigiel, die als eine große Optimistin galt, wurde nun ängstlich, und der Arzt erklärte Polaniecki offen, daß unter solchen Bedingungen das bevorstehende Ereignis nicht nur an und für sich, sondern auch in seinen Folgen gefährlich werden könne. Nur Marynia allein gab die Hoffnung nicht auf, obgleich sie sich mit jedem Tage schwächer und erschöpfter fühlte.

Polaniecki hoffte nicht mehr. Er durchlebte eine so schwere Zeit, daß alle Schmerzen und Leiden, die er schon im Leben erduldet hatte, ihm unerheblich dünkten im Vergleich mit dieser schrecklichen Bangigkeit, die häufig in eine grenzenlose Verzweiflung überging.

Einst, kurz nachdem er Marynia geheiratet hatte, war ihm ein Kind als das Wichtigste in der Ehe erschienen. Jetzt erst fühlte er, daß er nicht bloß auf ein Kind, sondern auf alle Kinder, die er noch jemals haben könnte, verzichten würde, wenn er damit die Rettung seines heißgeliebten Weibes erkaufen könnte. Das Herz blutete ihm, so oft Marynia mit ihrer schwachen Stimme die Frage wiederholte, die sie ihm schon früher öfters gestellt hatte: »Stach, und wenn es ein Junge sein wird?« Er wäre ihr am liebsten zu Füßen gefallen mit den Worten: »Was liegt mir an dem Kinde, bleibe nur Du mir!« Er mußte sie aber ruhig und mit lächelndem Gesichte versichern, daß ihm das ganz gleich sei. Sein früheres Angstgefühl überfiel ihn immer wieder von neuem, und jene Hoffnung, die in ihm die Worte Marynias erweckt hatten, daß eine schlimme That durch Reue gesühnt werden könne, wurde zunichte. Jetzt überkam ihn zuweilen der Gedanke, die Krankheit Marynias sei eine Folge seiner Schuld. Beim Anblick des bleichen, abgemagerten Gesichtchens Marynias sagte er sich oft: »Nur ein Verrückter kann an ihre Rettung glauben«; dann suchte er verzweifelt auf den Gesichtern der Anwesenden auch nur nach dem Schatten eines Hoffnungsstrahles. Es erschien ihm als eine unerklärliche Ungerechtigkeit, daß sie die Augen auf immer schließen sollte, bevor er ihr hatte beweisen können, wie grenzenlos er sie liebte, bevor er all die Unaufmerksamkeit, sein rauhes Wesen, seinen Egoismus und seine Untreue wieder gutgemacht hatte, bevor er ihr gesagt hatte, daß sie die Seele seiner Seele geworden sei, und daß er sie nicht nur über alles liebe, sondern auch über alles verehre. Der Arzt und Frau Bigiel warnten ihn täglich davor, die Leidende ängstlich zu machen, und sein eigener Verstand warnte ihn davor. Dieses gewaltsame Zusammennehmen verursachte ihm aber neue Pein. Wie, wenn sie ihm die mühsam errungene Ruhe als Mangel an Gefühl auslegen und mit dem Gedanken sterben würde, er habe sie nie geliebt? Die schlaflosen Nächte, die Ermüdung und die Angst brachten ihn schließlich in einen Zustand krankhafter Exaltation, in der er sich die Gefahr, die ja ohnedies schon groß genug war, noch größer ausmalte.

Anfangs Dezember kamen nach zweimonatlichem Aufenthalt in Italien Swirski und Zawilowski nach Warschau zurück. Als sie Polaniecki zum erstenmal sahen, erschraken sie geradezu über dessen verändertes Aussehen und seine Gleichgültigkeit gegen alles, was um ihn vorging. Er schenkte ihren Trostesworten eben so wenig Beachtung wie den Erzählungen, mit denen der treffliche Maler seinen gebeugten Geist aufzurichten versuchte. Was kümmerte Polaniecki jetzt das Geschick von Zawilowski, von Frau Bronicz oder von Fräulein Castelli, jetzt, da Marynia jede Minute sterben konnte? Swirski, der für ihn und Marynia große Freundschaft hegte, eilte zu Frau Bigiel, um von ihr vielleicht etwas Trostvolleres zu hören, allein auch diese hatte fast alle Hoffnung aufgegeben. Sie teilte ihm mit, daß selbst die hinzugezogenen Aerzte die Krankheit Marynias nicht erkannten, denn zu ihrem Zustand seien nun noch allerlei Komplikationen getreten, für die jede Erklärung fehlte. Es helfe nichts, sich die Augen verschließen zu wollen, alle stimmten darin überein, daß das Herz der Kranken nicht mehr regelmäßig fungiere, und drückten die Besorgnis aus, es werde infolge der schlechten Blutcirkulation eine Stockung eintreten, die den sofortigen Tod herbeiführen mußte. Doch auch im günstigsten Falle konnten die immer häufiger eintretenden Schwächezustände gefahrbringend sein. Swirski suchte umsonst darauf hinzuweisen, man dürfe die Hoffnung nicht aufgeben, solange noch jemand lebe; Frau Bigiel sagte schließlich in Thränen ausbrechend: »Arme Marynia! Aber auch für ihn ist es schrecklich. Wenn ihm wenigstens das Kind bleiben würde, damit er die Kraft findet, diesen Schlag zu ertragen.«

Und nachdem sie sich ausgeweint hatte, fügte sie hinzu: »Ich begreife es überhaupt nicht, wie er dies alles aushalten kann.«

Dies war auch richtig. Polaniecki aß kaum mehr etwas und schloß kein Auge. Ins Bureau ging er gar nicht mehr, überhaupt entfernte er sich nur aus seiner Wohnung, um Marynias Lieblingsblumen zu holen, deren Anblick sie auch immer sehr erfreute. Doch nicht einmal kehrte er mit dem Strauße Chrysanthemum zurück, ohne das Angstgefühl, er bringe ihn zum Schmucke ihres Sarges. Die Kranke fühlte allmählich doch, daß vielleicht ihr Ende nahe sei. Ihrem Mann wollte sie nichts davon sagen, doch vor Frau Bigiel weinte sie einmal aus Schmerz, daß sie aus dem Leben und von »Stach« scheiden müsse. Sie litt furchtbar unter dem Gedanken, wie er ihren Tod ertragen werde, denn sie wünschte einerseits, er möge sie sehr betrauern, während sie wieder andrerseits wünschte, er möge nicht allzuviel leiden.

Lange Zeit gab sie sich vor ihm den Anschein, als ob sie sicher sei, daß alles gut enden werde.

Doch schließlich, als sie Ohnmachtsanfälle bekam, faßte sie den Mut, offen mit ihm zu reden. Sie hielt das für ihre Pflicht, und als eines Abends Stach allein bei ihr saß, ergriff sie seine Hand und sagte: »Stach, ich möchte mit Dir sprechen und Dich um etwas bitten.«

»Was willst Du, mein Herz?« fragte Polaniecki.

Sie sann einige Minuten darüber nach, wie sie ihre Bitte fassen solle, und begann dann: »Versprich mir . . . Ich weiß, ich werde wieder gesund . . . aber versprich mir, daß . . . wenn es auch ein Junge sein sollte, Du ihn lieben und ihm gut sein willst.«

Mit übermenschlicher Anstrengung unterdrückte Polaniecki das Schluchzen, das ihm die Brust zu zersprengen drohte, und erwiderte ruhig: »Mein teueres, geliebtes Weib, ich werde Dich immer lieben und auch ihn. Sei gewiß!«

Marynia versuchte darauf, seine Hand an ihren Mund zu führen, konnte es jedoch aus Schwäche nicht zustande bringen; sie lächelte ihm daher bloß dankbar zu und sagte: »Und noch eins . . . Glaube nicht, daß ich etwas so Schreckliches voraussetze – nein – aber ich möchte beichten.«

»Gut, mein Kind,« stammelte er mit fremdklingender Stimme.

Und sie, sich erinnernd, wie er einst davon gesprochen hatte, welch schönes Wort »Gottesdienst« sei, wollte ihn überzeugen, daß es sich jetzt um nichts anderes handle, als um die Erfüllung der religiösen Pflichten, und wiederholte mit einem nahezu fröhlichen Lächeln: »Gottesdienst, nur Gottesdienst!«

Die Beichte fand am nächsten Tage statt. Polaniecki glaubte darin so sicher das Ende von allem zu erblicken, daß er beinahe erstaunt darüber war, Marynia dem Leben erhalten zu sehen, ja, sogar eine Besserung bei ihr konstatieren zu können. Ihre Lebensgeister wurden wieder reger, sie vermochte wieder leichter zu atmen. Gegen Mitternacht zankte sie wie gewöhnlich mit ihm, weil er sich nicht schlafen legen wollte. Anfänglich widersetzte er sich ihren Bitten mit der Behauptung, er habe unter Tags geschlafen und sei deshalb vollständig ausgeruht, was freilich nicht der Fall war; als sie jedoch immer heftiger in ihn drang, gab er schließlich nach, da außer der Wärterin auch noch Frau Bigiel anwesend war und der Arzt, der schon seit einer Woche im Hause schlief, ihn versicherte, in den nächsten Stunden werde keine schlimme Wendung eintreten.

Als er aber das Krankenzimmer verließ, setzte er sich wie gewöhnlich in einen Fauteuil, der dicht an der Thüre des anstoßenden Gemaches stand und lauschte erregt auf alles, was vorging. Auf solche Weise verbrachte er die halbe Nacht.

Beim geringsten Geräusch sprang er empor, sobald aber das Geräusch verhallte, setzte er sich wieder an seinen alten Platz, und seine Gedanken jagten sich so rasch und chaotisch wie bei allen Menschen, denen eine Gefahr droht. Zuweilen verwirrten sich aber auch seine Gedanken, so müde und abgemattet war er, und es wurde ihm schwer, sich aus dem Labyrinthe herauszufinden. Der Schlaf übermannte ihn mehr und mehr; trotz seiner außergewöhnlich kräftigen Konstitution hielt er sich nur noch durch schwarzen Kaffee aufrecht, denn seit zehn Tagen hatte er sich nur umgekleidet, niemals aber ausgekleidet. Auch jetzt gab er nicht nach, obgleich ihm der Kopf so schwer wie Blei war. Ganz mechanisch wiederholte er sich immer wieder, Marynia sei todkrank, er dürfe nicht einschlafen, allein diese Selbstermahnungen hatten auf ihn schon keine Wirkung mehr.

Die Aufregungen, die schlaflosen Nächte machten sich schließlich geltend. Ein tiefer, bleierner Schlaf überfiel ihn, in dem die Wirklichkeit, die ganze Welt versinkt, in dem das Leben zu erstarren scheint.

Gegen Morgen erweckte ihn ein Klopfen an der Thüre.

»Herr Stanislaus!« ertönte leise Frau Bigiels Stimme.

Polaniecki sprang mit einem Satze empor, und sofort vollständig wach, eilte er in das Krankenzimmer. Nur einen Blick warf er auf das Bett Marynias, allein als er die zugezogenen Vorhänge sah, schwankte er auf seinen Füßen.

»Was ist geschehen?« flüsterte er mit schreckensbleichen Lippen.

Frau Bigiel aber erwiderte mit leiser und doch vor Erregung zitternder Stimme: »Ihr habt einen Sohn!« und legte den Finger auf den Mund.


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