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Der treue Soroka ritt mit dem Oberst auf der Bahre durch dichte Wälder; er wußte selbst nicht, wohin er gehen und was er beginnen sollte. Kmicic lag noch immer in tiefer Ohnmacht.
Von Zeit zu Zeit rieb ihm Soroka das Gesicht mit einem nassen Tuche ab, er machte an Bächen und Waldseen Halt, um den Oberst durch kaltes Wasser wieder zu sich zu bringen; aber alles vergeblich. Er lag wie tot da, und die noch weniger erfahrenen Soldaten als Soroka fingen an, sich zu beunruhigen, ob er nicht tatsächlich tot wäre.
»Er lebt,« antwortete Soroka auf alle Fragen, »in drei Tagen wird er wie wir alle wieder im Sattel sitzen.«
Nach geraumer Zeit kam Kmicic wirklich zu sich und verlangte zu trinken. Soroka gab ihm die Feldflasche, doch es war ihm vor Schmerzen nicht möglich, den Mund zu öffnen. Seine weitgeöffneten Augen sahen wie abwesend in das Waldesdickicht und auf seine Soldaten. Er fragte nach nichts und machte den Eindruck eines Menschen, der aus starker Trunkenheit erwacht und sich auf nichts mehr besinnt. Er stöhnte auch nicht, als Soroka den Verband wechselte. Starkes Fieber hatte ihn befallen, trotz der Kälte brannten seine Hände. Er begann, einzelne verworrene Sätze auszustoßen:
»Euer Durchlaucht – zwischen uns auf Leben und Tod.«
Es fing an ganz dunkel zu werden, und Soroka dachte besorgt daran, wo sie ein Nachtlager finden würden, denn schon mehrere Stunden ritten sie über einen Sumpf, der noch immer kein Ende nehmen wollte. Plötzlich drang der Geruch von Rauch und Teer zu den Reitern.
»Wahrscheinlich liegt eine Teersiederei in der Nähe,« sagte Soroka.
Wirklich zeigte sich rötlicher Rauch in der Ferne. Beim Näherkommen sah Soroka eine Hütte, einen Brunnen und eine große, aus Kiefernbalken gezimmerte Scheune vor sich stehen. Die erschöpften Pferde fingen bei diesem Anblick an froh zu wiehern; frohes, vielstimmiges Wiehern antwortete ihnen aus der Scheune. Ein Mann in einem Schafpelze, dessen Pelzseite nach außen gekehrt war, kam von der Scheune her.
»Hört mal, ist das hier eine Teersiederei?« fragte Soroka.
»Was seid ihr für Leute und woher kommt ihr?« fragte der Mann mit einer Stimme, die Schrecken und Staunen zugleich ausdrückte.
»Fürchte nichts, wir sind keine Räuber.«
»Geht eures Weges, ihr habt hier nichts zu suchen!«
»Halte dein Maul und führe uns in die Hütte; siehst du denn nicht, daß wir einen Verwundeten bei uns haben?«
»Aber erst antworte, wer seid ihr?«
»Nimm dich in acht, daß du keine Antwort aus dem Gewehre erhältst. Führ' uns in die Hütte. Gib uns zu essen und Schnaps. Wir tragen hier einen Pan, der alles bezahlen wird.«
In der Hütte brannte ein Feuer im Ofen, und aus den Töpfen stieg der Duft von geschmortem Fleisch empor. Das Zimmer, in das sie der Teersieder geführt hatte, war ziemlich groß. Soroka bemerkte sogleich, daß an den Wänden sechs Betten standen, die mit Schaffellen bedeckt waren.
»Hier wohnt irgend eine Bande,« flüsterte der Wachtmeister seinen Leuten zu. »Schüttet frisch Pulver auf und seid auf der Hut! Paßt gut auf den Bauer auf, daß er uns nicht entwischt. – Und du,« sagte er zum Sieder, »schütte schnell Fleisch für uns auf die Schüssel, wir sind sehr hungrig. Und spare keinen Hafer für unsere Pferde!«
Die Soldaten legten den schlafenden Pan Andreas auf eins der Betten und setzten sich schnell an den Tisch.
Soroka, der in einer Kammer neben dem Zimmer Schnaps fand, trank nur sehr wenig davon, denn er wollte die ganze Nacht über Wache halten. – Die leere Hütte mit den sechs Betten schien ihm verdächtig. Er hielt sie für ein Räubernest, umsomehr, als er in der Kammer viele Waffen, Pulver und allerlei Geräte fand, die anscheinend aus den Häusern der Schlachta geraubt waren. Soroka beschloß, sich der Hütte zu bemächtigen und sich durch Waffengewalt oder friedliche Verhandlungen fürs erste dort festzusetzen. Denn der Gedanke, wieder auf die Landstraße hinaus zu müssen, wo sie wahrscheinlich den sie verfolgenden Soldaten des Fürsten begegnen würden, versetzte selbst den mutigen Wachtmeister in Schrecken.
»Es bleibt uns nichts übrig, als uns in der Hütte zu verbergen, bis der Oberst wieder genesen ist, dann ist es seine Sache, das weitere zu bestimmen.«
Vor die Hütte stellte er während der Nacht zwei Soldaten auf Posten, die nach Mitternacht von den anderen abgelöst werden sollten. Er selbst warf sich auf das Bett, das neben Kmicic stand.
Im Zimmer war es ganz still; nur die Grillen hörten nicht auf zu zirpen, und der Kranke wälzte sich unruhig hin und her. Vereinzelte, unzusammenhängende Worte drangen zu Sorokas Ohren.
»Majestät, vergeben Sie. – Sie sind Verräter. – Ich werde alle ihre Geheimnisse verraten.– Die Republik ist ein rotes Tuch. – Gut, Pan Fürst, Sie sind mir ausgeliefert.«
Soroka setzte sich in seinem Bette aufrecht und lauschte; Pan Andreas schrie einige Male auf und schlief dann wieder ein. Bald aber fing er von neuem an zu schreien:
»Alexandra! Alexandra! zürne mir nicht!«
Nach Mitternacht beruhigte sich der Kranke und verfiel in einen festen Schlaf. Soroka fing auch gerade an einzuschlafen, als er es an der Tür klopfen hörte.
Der alte Soldat sprang sogleich hoch und trat vor die Tür.
»Was ist?« fragte er.
»Pan Wachtmeister, der Teersieder ist entflohen.«
»Tod und Teufel! Der wird die ganze Räuberbande herholen. Wer hat auf ihn aufgepaßt?«
»Bilous.«
»Wir beide gingen zusammen, um die Pferde zu tränken,« rechtfertigte sich Bilous. »Ich ließ ihn das Wasser holen und blieb bei den Pferden.«
»Nun, was, ist er denn in den Brunnen gesprungen?«
»Nein, Pan Wachtmeister, er verschwand zwischen den Baumstämmen, die in Hülle und Fülle um den Brunnen herumliegen. Die Nacht ist dunkel. Der Schelm kennt den Ort und ist ausgerissen.«
»Das hilft nun nichts, wir dürfen uns eben nicht schlafen legen. Wir müssen bis zum Morgen wachen; sonst werden sie uns überfallen.«
Er setzte sich auf die Schwelle der Hütte mit einer Muskete in der Hand. Die Soldaten lagerten sich im Halbkreise um ihn herum und fingen an, sich leise zu unterhalten.
Von Zeit zu Zeit lauschten sie, ob sich irgend etwas in der Nähe hören ließe.
Plötzlich vernahmen sie laute Hufschläge.
»Pferde!« flüsterte Soroka.
Bald ertönten die Hufschläge leiser, als wenn die Tiere sich entfernten, und man hörte den wilden Schrei eines Hirsches.
Die Soldaten verstummten und fingen allmählich an einzuschlafen. Nur der Wachtmeister hob noch von Zeit zu Zeit den Kopf hoch und lauschte; aber schließlich fielen auch seine Augen zu, sein Kopf sank auf die Brust herab. Es verging eine Stunde und wieder eine. Die schwarzen Kiefern begannen sich grau zu färben, ihre Spitzen wurden mit jeder Minute weißer, als wenn sie mit flüssigem Silber übergossen wären. – Endlich ging die Sonne auf und beleuchtete die ermüdeten Gesichter der Soldaten, die einen Totenschlaf auf dem kahlen Erdboden schliefen.
Die Tür der Hütte knarrte, und auf der Schwelle erschien Kmicic.
»Soroka, he!« rief er.
Die Soldaten sprangen hoch.
»Herrgott, Pan Oberst, Sie sind schon auf den Beinen!« staunte Soroka.
»Und ihr schlaft wie Murmeltiere, man hätte euch der Reihe nach die Köpfe abschlagen und sie über den Zaun werfen können, ohne daß einer von euch erwacht wäre.«
»Wir hielten bis gegen Morgen Wache, Pan Oberst; wir sind erst eingeschlafen, als es schon tagte.«
Kmicic blickte um sich.
»Wo sind wir? Wem gehört die Hütte?« fragte er.
»Ich weiß es nicht, Pan Oberst.«
»Folge mir,« sagte Pan Andreas, indem er wieder in die Hütte eintrat.
Soroka folgte ihm.
»Hör' mal,« begann Kmicic, sich auf das Bett setzend. »Der Fürst hat also auf mich geschossen?«
»Ja, Pan Oberst.«
»Und was ist aus ihm geworden?«
»Er ist entflohen.«
Es trat Stillschweigen ein.
»Schlimm,« rief Kmicic, »sehr schlimm! Es wäre besser gewesen, ihn auf der Stelle zu töten, als ihn entwischen zu lassen.«
»Das wollten wir auch, aber –«
»Was aber?«
Soroka erzählte kurz alles, was sich zugetragen hatte. Kmicic hörte mit großer Ruhe zu; nur in seinen Augen entbrannte ein unheilverkündendes Feuer.
»Jetzt hat er die Oberhand gewonnen, aber wir begegnen uns doch noch einmal, Fürst Boguslaw.« – Und zu dem Wachtmeister gewandt: »Warum hast du die Landstraße verlassen?«
»Ich fürchtete eine Verfolgung.«
»Das hast du klug getan. Wir sind jetzt viel zu wenige, um gegen Boguslaws Kräfte aufzukommen, – wahrhaftig verteufelt wenige! – Außerdem, er wird nach Preußen aufbrechen, wo wir ihn doch nicht verfolgen können. Jetzt heißt es abwarten.«
Soroka atmete erleichtert auf. So fürchtete also Pan Kmicic nicht die Zauberkraft des Fürsten, da er so ruhig von einer Verfolgung sprechen konnte. Diese Sicherheit teilte sich auch gleich dem Soldaten mit, der gewohnt war, mit dem Kopfe des Obersten zu denken.
Pan Andreas erwachte aus seinem tiefen Nachdenken, in das er für einige Zeit verfallen war, und begann eifrigst mit seinen Händen an sich herumzutasten.
»Wo sind meine Briefe?« fragte er.
»Was für Briefe?«
»Die Briefe, die ich bei mir hatte. – Sie waren im Gürtel versteckt. – Wo ist mein Gürtel?« fing er mit fieberhafter Hast an zu suchen.
»Ich selbst habe Ihnen den Gürtel abgenommen, damit er Sie nicht am Atmen hindere. Da ist er.«
Soroka brachte einen Ledergurt, an dem mehrere Taschen hingen, die durch Schnüre geschlossen waren, Kmicic begann eilig, die Papiere herauszunehmen.
»Das sind die Briefe an die schwedischen Kommandanten; wo aber sind die anderen Briefe?« fragte er unruhig.
»Welche Briefe?« fragte Soroka.
»Zum Teufel! Die Briefe des Hetmans an den König von Schweden, alle die Briefe!«
»Wenn sie nicht im Täschchen sind, so werden sie unterwegs verloren gegangen sein.«
»So steigt aufs Pferd und sucht sie!« rief Kmicic mit zorniger Stimme.
Ehe noch der erstaunte Soroka das Zimmer verlassen hatte, warf Pan Andreas sich aufs Bett, preßte die Hände an den Kopf und stöhnte wiederholt auf:
»Meine Briefe! Meine Briefe!«
Die Soldaten waren bis auf einen, dem Soroka befohlen hatte, bei der Hütte Wache zu halten, fortgeritten, und Kmicic war allein und begann, über seine nicht sonderlich beneidenswerte Lage nachzudenken. Über ihm schwebte die fürchterliche Rache der mächtigen Radziwills, über ihm und allen denen, die er liebte. Er wußte, daß Fürst Janusz sich nicht scheuen würde, ihn an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen, daß er seine Rache an Panna Billewicz auslassen würde. Und Alexandra war in Kiejdane ganz der Macht des gefürchteten Magnaten, dessen Herz kein Mitleid kannte, ausgeliefert. – Je mehr Kmicic nachdachte, desto klarer erkannte er, in welch' unglückseliger Lage er sich befand. Nach Boguslaws Entführung galt er in Radziwills Augen als ein Verräter und Parteigänger Jan-Kasimirs; die Konföderierten und Sapiehas Anhänger sahen in ihm einen Diener Radziwills, also auch einen Verräter, und die fremden Heere, die augenblicklich die Republik besetzt hielten, haßten ihn als ihren größten und erbittersten Gegner. Chowanski hatte auf seinen Kopf einen hohen Preis gesetzt, und Radziwill, die Schweden und vielleicht auch die unglücklichen Parteigänger Jan-Casimirs werden nicht zögern, ein gleiches zu tun.
»Da hast du dir eine schöne Suppe eingebrockt, nun löffle sie aus,« dachte Kmicic bei sich. – Er hatte beabsichtigt, den entführten Boguslaw den Konföderierten auszuliefern, um ihnen einen unzweifelhaften Beweis zu liefern, daß er alle Beziehungen zu den Radziwills abgebrochen habe; er wollte sich in ihrer Mitte einen Platz sichern, um für den König und das Vaterland zu kämpfen. Gleichzeitig hatte Boguslaw ihm als Bürge für Alexandras Sicherheit dienen sollen. – Und jetzt war es alles umsonst. Alexandra war in Gefahr, und er konnte durch nichts beweisen, daß er Radziwills Sache verlassen hatte. Die Konföderierten werden glauben, er wolle sie ausspionieren, wolle Mißtrauen unter den Truppen säen und wohl gar Mannschaften für Radziwill anwerben. – »Wie kann ich zu ihnen gehen?« überlegte er.
»Die Pest wird ihnen ein lieberer Gast sein, als ich in eigener Person. – Wenn ich nur wenigstens die Briefe hätte, so könnte ich mir durch sie Eintritt in das Lager der Konföderierten verschaffen; ich würde den Janusz in meinen Händen haben, ich könnte den Kredit des Hetmans bei den Schweden erschüttern; ich könnte Alexandra durch diese Briefe loskaufen, – und jetzt hat ein böser Geist mir auch diese letzte Hilfe entrissen!« – Kmicic schlug sich verzweifelt vor seine Stirn. – »Ein Verräter in den Augen der Radziwills, in den Augen Alexandras, der Konföderierten und des Königs! – Alles verloren: die Ehre, den Ruhm, die Braut, alles, alles!«
Unerträglicher noch als die Wunde im Gesicht brannten Schmerz und Zorn in seiner Seele.
»Blinder Tor,« flüsterte ihm sein Gewissen zu, »nichts von alledem wäre geschehen, hättest du auf Alexandra gehört und das Vaterland und den König nicht verlassen!«
Aber die stolze Seele, die gewohnt war, sich vieles zu vergeben, wollte ihre Schuld nicht gleich eingestehen. Das alles hatten ja die Radziwills getan. – Sie hatten ihn betrogen, ihn mit Schmach bedeckt, ihn der Ehre und des geliebten Wesens beraubt.
»Rache! Rache!« schrie er zähneknirschend und drohte mit den Fäusten in der Richtung nach Smudien zu.
In seiner Verzweiflung fiel er mitten im Zimmer in die Knie.
»Jesus Christus, dir verspreche ich es,« begann er, »ich werde diese Verräter vernichten und verderben. Ich werde sie verfolgen mit Feuer und Schwert bis zum letzten Atemzuge, bis zur letzten Minute meines Lebens! Amen!« – –
Kmicic' Augen glühten, seine Lippen zitterten, er schlug mit den Armen um sich und sprach laut mit sich selbst. Dann sprang er hoch und rannte unruhig im Zimmer auf und ab. »Christus, hilf mir und rat' mir, was ich tun soll, ich komme um meinen Verstand!«
Plötzlich drang der Schall eines Schusses an seine Ohren.
Kmicic ergriff den Säbel und lief zum Zimmer hinaus.
»Was ist los?« fragte er den Soldaten, der an der Schwelle stand.
»Ein Schuß ist gefallen, Pan Oberst.«
»Wo ist Soroka?«
»Ist fortgeritten, die Briefe suchen.«
»Aus welcher Richtung kam der Schuß?«
»Von da.« Der Soldat zeigte auf den östlichen Teil des Waldes.
Gleich darauf hörte man in der Ferne Hufschläge.
»Achtung!« rief Kmicic.
Aus dem dichten Gestrüpp, das die Hütte umgab, kam eilends Soroka herausgeritten, gefolgt von dem anderen Soldaten. Beide sprangen von ihren Pferden ab und richteten ihre Musketen nach dem Dickicht.
»Wer ist da?« fragte Kmicic.
»Ein Haufen Leute,« antwortete Soroka.