Henryk Sienkiewicz
Sintflut
Henryk Sienkiewicz

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14. Kapitel.

Sakowicz erlitt eine so schwere Niederlage, daß er sich kaum mit vier Soldaten, – dem Reste seiner ganzen Truppe, – in den Wald retten konnte.

Babinicz aber stürzte sich auf Poniewiez, vertrieb von dort die schwedische Garnison, die unter dem Befehle des Engländers Hamilton stand, und trieb sie nach Wilkomir zu. Daher kehrte Pan Andreas nicht nach Wolmontowicze zurück. Er interessierte sich auch gar nicht dafür zu erfahren, wen er dort vom Untergange gerettet hatte.

Der Rückzug der von Kmicic unablässig verfolgten Schweden wurde immer beschwerlicher. Schon bedeckte sich des Morgens die Erde mit einer dünnen Reifschicht. Die Soldaten und die Pferde litten fürchterliche Hungersqualen; denn man wagte es nicht, in die Dörfer einzukehren, weil man stets einen Überfall des unerbittlichen Feindes befürchten mußte.

Die Not der schwedischen Truppen überstieg alle Grenzen. Man nährte sich von Blättern, von Baumrinde und von dem Fleische der vor Erschöpfung verendeten Pferde.

Nach Verlauf einer Woche begannen die Leute selbst ihren Oberst zu bitten, Babinicz eine Schlacht anzubieten. Sie zogen den Tod durch das Schwert dem Hungertode vor.

Hamilton willigte ein und traf die nötigen Vorbereitungen. Seine Kräfte waren so winzig, daß dem Engländer keinen Augenblick der Ausgang des Gefechtes zweifelhaft war. Aber auch er war des ewigen Rückzuges überdrüssig. Er fiel von der Hand der Tataren, die über seinen langen Widerstand wütend waren.

Jedoch auch Babinicz' Truppen waren von dem fortwährenden Nachjagen so erschöpft, daß sie diesmal den Resten des fliehenden Heeres nicht weiter nachsetzen konnten.

Am Tage nach dem Gefechte mit Hamilton stand Kmicic sehr zeitig auf, um seine Verluste festzustellen und die Beute unter seine Soldaten zu verteilen. Bald nachdem er gefrühstückt hatte, ritt er auf einen Hügel, an dessen Fuße ein Kreuz stand. Die Befehlshaber der polnischen und tatarischen Abteilungen kamen der Reihe nach zu ihm und erstatteten ihm über die Zahl der Gefallenen Bericht.

»Effendi,« sagte Akbah-Ulan, herankommend und sich verbeugend, »beim schwedischen Befehlshaber hat sich ein Brief gefunden, da ist er!«

Kmicic, der ein für allemale befohlen hatte, daß alle bei Gefallenen vorgefundenen Papiere ihm abgeliefert werden sollten, nahm, dem Tataren freundlich zunickend, den mit Blut besudelten Brief ab und steckte ihn in seine Tasche. Augenblicklich hatte er keine Zeit, ihn zu lesen. Vor ihm defilierten seine Soldaten in so tadelloser Ordnung, daß selbst reguläre Truppen es nicht besser konnten. Voran ging die Tatarenabteilung, die nicht mehr ganz fünfhundert Mann zählte. Ihnen folgte ein Dragoner-Regiment, das Pan Andreas mit großer Mühe aus Freiwilligen gebildet hatte. Den Befehl über sie führte Pan Soroka, sein einstiger Wachtmeister, den er zum Hauptmann befördert hatte.

In den zwei folgenden Bannern dienten ausschließlich Schlachtschitzen. Es waren Leute mit unruhigem Blut, die ebensogut einer Räuberbande angehören konnten, die aber, von der eisernen Hand Kmicic' gezähmt, jetzt kaum von der Kronreiterei zu unterscheiden waren.

Alle zogen beim Defilieren am Kreuzwege die Säbel aus der Scheide und begrüßten Kmicic durch Zurufe. Pan Andreas war sehr zufrieden. – Soviele Soldaten standen unter seinem Befehle! So großen Nutzen hatte er schon mit ihnen seinem Vaterlande gebracht! Und Gott weiß, was er alles noch wagen konnte!

Groß waren seine früheren Vergehen, aber nicht weniger groß waren seine jetzigen Verdienste. Nicht in der Mönchszelle, sondern auf dem Schlachtfelde hatte er Buße getan. Er verteidigte die heilige Jungfrau, das Vaterland, den König, das eigene Volk. Und jetzt fühlte er es in seiner Seele licht werden. Ein Gefühl des Stolzes schlich leise in sein Herz, – nicht jeder konnte das leisten, was er geleistet hatte!

Gibt es denn so wenige berühmte Soldaten, Magnaten, Schlachtschitzen in der Republik? Warum steht an der Spitze einer solchen Macht weder Wolodyjowski noch Skrzetuski? Wer hat Czenstochau gerettet? Wer hat Boguslaw gefangen genommen? Wer hat zuerst Feuer und Schwert in das dem Kurfürsten gehörende preußische Gebiet getragen? Wer hat jetzt Smudien fast ganz vom Feinde gesäubert?

Hier fühlte sich Pan Andreas wie ein Falke, der mit ausgebreiteten Flügeln sich höher und höher in die Lüfte schwingt.

Die vorüberziehenden Truppen jubelten ihm zu, und er fragte sich selbst: »Werde ich noch höher steigen?« – Sein Gesicht glühte; er sah sich im Geiste als Hetman. Aber mit seinem Blute und mit übermenschlichen Anstrengungen wollte er den Stab bezahlen, den Stab, den ihm sein Vaterland auf Wunsch des Königs selbst in die Hand geben sollte!

Die Regimenter waren alle vorübergezogen, Pan Andreas entsann sich des Briefes, den ihm der Tatar übergeben hatte. Er zog ihn aus seiner Tasche. Auf dem Briefe stand mit kleinen Buchstaben:

»Pan Babinicz, dem Oberst der Tataren-Abteilung.«

»An mich?« staunte Pan Andreas.

Das Siegel war aufgebrochen. Er entfaltete eiligst den Bogen und begann zu lesen.

Plötzlich erblaßte er, seine Hände fingen an zu zittern.

»Barmherziger Gott! Sei gelobt und gepriesen! Da ist sie, die Belohnung für alles, was ich getan habe!«

Er fiel nieder und begann seinen blonden Kopf an den Stein des Kreuzes zu schlagen. In der gegenwärtigen Minute war er nicht imstande, seinem Gotte anders zu danken; – er fand keine Worte zum Gebet, so sehr war sein Herz von Freude erfüllt.

Alexandra ist also nicht in der Heide, sondern bei der Partei Villewicz'! Und er hat sie gerettet und zugleich auch Wolmontowicze, das einst durch sein Verschulden abbrannte! Sicherlich hatte Gottes Hand seine Wege so geleitet, daß er mit einem Schlage seine Schuld an Alexandra und an die Laudaleute gut machen konnte. Das war die Sühne für seine Sünden. Konnte sie oder die rauhen Laudaer Brüder jetzt noch seine Werbung ausschlagen?

Und was wird sie sagen, wenn sie erfährt, daß jener Babinicz, der Boguslaw besiegt, der bis an die Knie in Feindesblut gewatet, und der Smudien gesäubert hat, kein anderer ist als Kmicic? Pan Andreas Kmicic, kein Bösewicht, kein Verbannter, sondern ein Kämpfer für den Glauben und für das Vaterland!

Schon längst wollte Pan Andreas seinen richtigen Namen wieder annehmen; aber die Sorge, daß die Smudier ihm alsdann mit Mißtrauen entgegentreten könnten, daß sie ihm bei seinem Werke ihre Beihilfe versagen würden, hatte ihn davon zurückgehalten. Noch waren nicht zwei Jahre verstrichen, seitdem er, von Radziwill geblendet, die Banner zertrümmerte, die dem Vaterlande treu bleiben wollten, noch waren nicht zwei Jahre vorüber, seit der Zeit, wo er die rechte Hand des Verräters war. – Aber jetzt ist alles anders geworden. Jetzt, nach so vielen Siegen, umkränzt mit so vielen Ruhmestaten, konnte er in ganz Smudien hinausschreien: »Ich bin Kmicic; aber ich habe dich vom Feinde befreit!«

Und Wolmontowicze lag so nahe! Babinicz hatte eine Woche lang mit Windeseile Hamilton verfolgt, Kmicic aber wollte noch schneller zurückfliegen, um seiner Alexandra zu Füßen zu fallen!

Wankend erhob sich Pan Andreas von der Erde und bestieg sein Pferd.

In diesem Augenblicke näherten sich ihm zwei Reiter, Der eine von ihnen nahm seine Luchsmütze ab und entblößte seinen rotblonden Kopf.

»Ich glaube, ich habe die Ehre, mit Pan Babinicz zu sprechen,« begann der Angekommene. »Ich freue mich, daß es mir gelungen ist, Sie so schnell zu finden.«

»Mit wem habe ich die Ehre?« fragte Kmicic ungeduldig.

»Ich heiße Wierszull, früherer Rittmeister aus dem tatarischen Banner des Fürsten Jeremias Wisniowiecki. Ich komme hierher, um Soldaten für den neuen Krieg anzuwerben. Außerdem aber bringe ich Ihnen einen Befehl vom Pan Großhetman Sapieha.«

»Für einen neuen Krieg?« fragte Kmicic, indem er die Brauen zusammenzog. – »Was ist das für ein Unsinn?«

Fieberhaft erbrach er das Siegel und begann zu lesen:

»Teurer Pan Babinicz! Über unser Vaterland ist ein neues Unglück hereingebrochen! Das geplante Bündnis zwischen den Schweden und Rakoczy ist zur Tatsache geworden, und die Aufteilung der Republik ist beschlossen. Achtzigtausend Ungarn, Siebenbürgler, Walachen und Kosaken werden jede Minute die Grenze überschreiten. In dieser Stunde des Verderbens müssen wir alle unsere Kräfte anspannen, um wenigstens einen unbefleckten Namen zu hinterlassen. Daher befehle ich Ihnen, keine einzige Minute zu verlieren, die Pferde umzuwenden, und auf den großen Landstraßen schnell zu uns zu kommen. Sie werden uns in Brest antreffen, von wo aus wir Sie weiter schicken werden. Fürst Boguslaw ist aus der Gefangenschaft entflohen, – aber Pan Gosiewski wird ihn in Litauen und Smudien im Auge behalten. Ich bitte Sie zum Schlusse nochmals, sich zu beeilen und hoffe, daß die Liebe zum Vaterlande Sie am besten lehren wird, richtig zu handeln.«

Kmicic ließ die Hand mit dem Briefe sinken und fuhr sich mit der anderen über seine kalte Stirn. Mit trüben Augen sah er Wierszull an.

»Warum bleibt Pan Gosiewski in Smudien, während ich nach dem Süden soll?« fragte er leise, mit gepreßter Stimme.

»Fragen Sie den Pan Hetman! Ich kann Ihnen nicht darauf antworten,« erwiderte der Rittmeister.

Plötzlich erfaßte Pan Andreas wilder Zorn. Seine Augen erglänzten in einem Unheil verkündenden Feuer, sein Gesicht wurde dunkelblau.

»Und ich gehe doch nicht von hier!« rief er laut. »Verstehen Sie?«

»Wirklich?« fragte Wierszull noch einmal. – »Meine Sache war es, Ihnen den Befehl zu übergeben. Und Sie können handeln, wie Sie wollen. – Ich habe die Ehre! – Ich wollte Sie zu einem Becher Met zu mir bitten, aber nach dem, was ich gehört habe, werde ich mich bemühen, meine Zeit in besserer Gesellschaft zu verbringen.«

Er wandte sein Pferd um und ritt fort.

Pan Andreas setzte sich wieder am Fuße des Kreuzes nieder und blickte ziellos in den Himmel, als wenn er die dahinziehenden Wolken verfolgen wollte.

Es war ein herrlicher, bleicher Herbstmorgen, der den kommenden Winter ahnen ließ. Kein Wind wehte, und dennoch fielen Hunderte von gelbgewordenen Blättern leise von den Bäumen.

Über den Wald flogen Vogelscharen und krähend ließen sie sich auf das mit Leichen besäte Feld nieder. Pan Andreas begann die Vögel zu zählen, er verwirrte sich, schloß die Augen und saß lange so da, ohne jede Bewegung. Endlich fuhr er hoch, zog die Brauen zusammen und brummte vor sich hin:

»Natürlich, anders kann es auch nicht sein! In zwei Wochen breche ich auf, aber nicht jetzt! Mag sein, was da will! Ich habe doch Rakoczy nicht hergeschickt! Ich kann nicht! Die Kräfte eines Menschen haben auch ihre Grenzen. – Habe ich mich vielleicht noch zu wenig herumgetrieben, – noch zu wenig schlaflose Nächte im Sattel verbracht, – noch zu wenig eigenes und fremdes Blut vergossen? – Hätte ich jenen Brief nicht erhalten, so würde ich mich gleich auf den Weg machen. – Mag die ganze Welt untergehen, – ich bleibe! – Das Vaterland wird in diesen zwei Wochen auch ohne meine Hilfe auskommen. Und schließlich lastet augenscheinlich Gottes Zorn auf ihm, der durch keine menschliche Kraft abzuwenden ist. – Gott! Gott! – Schweden, Preußen, Ungarn, Walachen, Kosaken, – alle auf einmal! Wer kann gegen sie alle aufkommen? O Gott! Wodurch hat dieses unglückliche Land, dieser fromme König, dieses friedliche Volk dich erzürnt? Warum wendest du dein Angesicht von ihnen und schickst ihnen Strafe auf Strafe? In diesem unglückseligen Lande haben die Menschen schon längst zu lachen verlernt, – hier wehen die Winde nicht, – sie stöhnen; – auf diese Fluren strömen die Wolken nicht in segenbringendem Regen hernieder, – sondern sie weinen große Tränen! – Du aber geißelst und geißelst uns noch! Verzeihung, barmherziger Gott! Wir haben gesündigt, aber die Stunde der Reue ist angebrochen. – Wir haben unser Hab und Gut geopfert, wir haben bei Tag und bei Nacht die Waffen ergriffen. Wir haben unserem Eigenwillen entsagt und unser selbst über die große Sache vergessen! – Warum kannst du uns nicht vergeben? Warum willst du uns keine Ruhe schicken?«

Plötzlich jedoch krampfte sich Pan Andreas' Herz schmerzhaft zusammen. Eine drohende Stimme vom Himmel schien ihm zuzurufen:

»Ihr wollt euer vergessen haben! Und du, Unglücklicher, was tust du in dieser Minute? Du rühmst dich deiner Verdienste, und in dem Augenblicke der Prüfung, da bäumst du dich auf wie ein tolles Pferd und schreist: »Ich gehe nicht!« Die Heimat steht am Abgrunde des Verderbens, die Schwerter ihrer Feinde durchbohren ihre Brust. Du aber wendest dich von ihr ab; du willst ihr nicht helfen; du jagst deinem persönlichen Glücke nach und rufst: »Ich gehe nicht!« Sie streckt ihre mit Blut bedeckten Hände dir flehend entgegen; sie fällt nieder vor dir und ruft mit bis zum Tode geschwächter Stimme: »Kinder, helft, rettet!« Du aber antwortest: »Ich gehe nicht!« – Wehe euch! Wehe solchem Volke! Wehe der Republik! – – –«

Kmicic' Haare sträubten sich vor Entsetzen. Er fiel mit dem Gesicht zur Erde und brach in Schluchzen aus.

»Gott, strafe mich nicht! Gott, erbarme dich mein! Dein Wille geschehe!«

Als er sich wieder erhob, waren seine Gesichtszüge traurig, aber gefaßt.

»Gott, der du ein barmherziger Richter bist, du wirst meine Qual begreifen, mein Schwanken. – Ich stand an der Schwelle meines Glückes. Aber dein Wille soll geschehen! – Jetzt begreife ich, daß du mich prüfen wolltest, daß du mich deshalb auf den Kreuzweg stelltest. Ohne zu Wanken, werde ich deinen Weg gehen, ich werde nicht zurückschauen. Herr, dir zu Füßen lege ich den Kummer und den Schmerz, die an meiner gequälten Seele nagen. Möge das meinen früheren Sünden angerechnet werden. – Noch einmal will ich diese vielgeprüfte Erde küssen und den Fuß deines Kreuzes berühren. – Ich gehe, ich gehe!« – –

Und er ging.

Im Himmelsbuche aber, wo alle guten und schlechten Taten der Menschen verzeichnet werden, wurden in diesem Augenblicke alle seine Vergehen gestrichen, Andreas Kmicic stand auf vom Kreuzesfuße – ein Wiedergeborener. – –


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