Henryk Sienkiewicz
Sintflut
Henryk Sienkiewicz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10. Kapitel.

Zum großen Schmerze Kmicic' hatte Haßling-Ketling so stark unter der alles eher als delikaten Behandlung der Tataren gelitten, daß er von einem Nervenfieber aufs Krankenlager geworfen wurde. Kmicic mußte notgedrungen mit seinen weiteren Fragen abwarten.

Währenddessen folgten sich neue Ereignisse mit staunenswerter Schnelligkeit. Das Gerücht von dem Nahen des Königs mit einer fünfzigtausendköpfigen Armee behauptete sich mit zunehmender Hartnäckigkeit. Eines Tages, als Kmicic mit Zagloba, Wolodyjowski und Roch Kowalski bei sich in seinem Quartiere sah, stürzte Akbah-Ulan herein und rief:

»Effendi! Hinter der Weichsel erscheinen die Vortruppen des Königs!«

Und es war wirklich die königliche Armee! Zuerst trafen die Tataren unter Subaghazi-Bey ein, dann folgten die vorzüglich bewaffneten Truppen der Krone. Gegen Abend hatte die ganze Armee die von Oskierka erbaute Brücke überschritten. Sapieha erwartete den König an der Spitze eines in Schlachtordnung aufgestellten Regimentes. Die königlichen Banner nahmen den litauischen gegenüber Aufstellung, eine ungefähr hundert Schritt breite Straße zwischen sich lassend.

Den Hetmanstab in der Hand eilte Sapieha, begleitet von seinen höheren Offizieren, dem Könige zu Fuß entgegen. Jan-Kasimir trug einen leichten Panzer über einem schwarzen Atlaskaftan, einen schwedischen Hut mit schwarzen Federn und lange Schlachthandschuhe. Ihm folgten der Nuntius, der Lemberger Erzbischof, der Krakauer Wojewod, Baron Lisola, Graf Pöttingen, Pan Kameniecki, der Moskowiter Botschafter, Pan Grodzicki, der Befehlshaber der Artillerie, Tyzenhauz und andere mehr.

Sapieha wollte dem Könige den Steigbügel halten, Jan-Kasimir aber sprang schnell vorher vom Pferde und umarmte, ohne ein Wort zu sagen, den Hetman.

Der König fühlte nicht, wie Tränen aus seinen Augen stürzten, und lange, lange hielt er den treuen Diener des Vaterlandes, der trotz seiner Mängel viele hochwürdige Magnaten um Haupteslänge überragte, der nicht einen Moment gezögert hatte, sein Leben und all sein Hab' und Gut dem Vaterlande zu opfern, in den Armen.

Die Litauer, die befürchtet hatten, daß der König Sapieha seiner Sandomierer Nachlässigkeit wegen kalt empfangen würde, gerieten jetzt in helle Begeisterung.

»Es lebe der König!« erschollen donnernde Rufe.

»Es lebe das Kronheer!«

»Es leben die Litauer!«

Die lauten Freudensausbrüche machten nicht nur die Mauern der Festung erzittern, sondern auch die bis dahin unerschrockenen Herzen der Schweden.

»Ich weine gleich los!« rief der gerührte Zagloba, »ich halte das nicht aus! Da steht er, unser Herr, Vater, unser König! Vor kurzem von allen verlassen – und jetzt – seht nur, hunderttausend Säbel sind da zu seinem Schutze! – O großer Gott! – Gestern war er noch obdachlos, und heute schon verfügt er über mehr Kräfte als der römische Kaiser!«

Pan Zagloba übertrieb ein wenig: Unter Warschaus Mauern standen nur siebzigtausend Mann, ohne die Mannschaften, die außerhalb der Front gebraucht wurden, die aber nötigenfalls auch ins Feuer geschickt werden konnten.

Von der großen Macht des Königs bestürzt, wagten es die Schweden nicht, irgend welche Feindseligkeiten zu eröffnen. Und so konnte Pan Grodzicki unbehelligt Stellungen für seine Artillerie aussuchen. Am folgenden Tage wuchsen hier und da Erdbefestigungen auf. Die Kanonen konnten erst in vierzehn Tagen eintreffen.

Jan-Kasimir ließ Wittemberg auffordern, unter sehr milden Bedingungen zu kapitulieren.

Wittemberg jedoch lehnte, wie man vorausgesehen hatte, alle Vorschläge ab, entschlossen bis zum letzten Blutstropfen Widerstand zu leisten. Eher wollte er sich unter den Ruinen der Stadt begraben lassen, als sich freiwillig in die Hände der Polen geben.

Man mußte annehmen, daß die Schweden sich tatsächlich bis zum äußersten wehren würden; denn Warschau diente ihnen als Lager all ihrer geraubten Schätze. Die ganzen in den Schlössern, Kirchen und Städten geraubten Reichtümer hatte man nach Warschau gebracht, von wo aus sie per Wasser nach Preußen und Schweden transportiert wurden. Und der schwedische Soldat opferte lieber sein Leben als seine Beute. Das arme Volk hatte bei dem Anblicke der Reichtümer eines fruchtbaren Landes jegliches Ehrgefühl verloren und zeigte der Welt bis dahin noch unbekannte Proben von Räubereien und Plündereien. Seine Gier war ins Unendliche gewachsen. Der König selbst war durch seine Habsucht berühmt, und die Generale, Wittemberg an der Spitze, folgten seinem Beispiele. Wenn es sich um die Bereicherung durch Beute handelte, hielt der alte General weder auf seine Ritterehre noch auf die hervorragende Stellung, die er einnahm. In Warschau schämten sich sogar Befehlshaber größerer Abteilungen nicht, ihren Soldaten Tabak und Branntwein zum Nutzen ihrer eigenen Taschen zu verkaufen. Die Schweden hatten noch einen Grund, Warschau mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu halten: waren doch ihre bedeutendsten Staatsmänner dort eingeschlossen: Wittemberg selbst, der Kanzler Oxenstierna, ein Mann von hervorragenden Geistesgaben, der die Achtung der ganzen Welt genoß, die Generale Wrangel und Horn, der trotz seiner Verwundung bei Jasno-Gora mit dem Leben davongekommen war, Erskin, Löwenhaupt und viele Damen des schwedischen Adels, die mit ihren Männern nach Polen wie auf ein neu erworbenes Gut gezogen waren.

Dies alles stärkte Jan-Kasimirs Meinung, daß die Belagerung eine sehr schwierige und langwierige sein werde. Die Schweden versuchten den Gang der Belagerungsarbeiten aufzuhalten. Jeden Tag machten sie einen Ausfall, der aber immer ungünstig für sie endigte. Beide Teile hatten jedoch in diesen Kämpfen soviele Verluste an Menschenleben, daß bald keine Zeit mehr blieb, die Gefallenen zu beerdigen, und ganze Haufen Leichen lagen umher, die Luft in fürchterlicher Weise verpestend.

Die Städter fanden trotz aller Hindernisse Gelegenheit, ins königliche Lager zu gelangen, und sie baten Jan-Kasimir um Beschleunigung des Generalsturms. Die Schweden besaßen genügend Proviant, um eine lange Belagerung auszuhalten, aber die Einwohner starben auf den Straßen Hungers. Täglich drangen Musketensalven an das Ohr des Königs, denn man erschoß alle Einwohner, die unter dem Verdachte standen Jan-Kasimir wohlgeneigt zu sein. Man erzählte, daß die ganze Bevölkerung, kranke Frauen, Neugeborene, Greise, – alle im Freien auf den Straßen übernachten mußten, da man sie aus den Häusern, die im Falle eines erfolgreichen Sturmes zur Verteidigung hergerichtet wurden, vertrieben hatte. Die Sonnenstrahlen brannten erbarmungslos auf die obdachlose Bevölkerung hernieder; der Regen durchnäßte sie. Feuer anzuzünden war streng untersagt; warmes Essen zu bereiten war unmöglich. Verschiedene ansteckende Krankheiten brachen aus, die Hunderte von Opfern forderten.

Die Tränen traten dem Könige in die Augen, wenn er solchen Berichten zuhörte. Er sandte einen Boten nach dem anderen aus, um die Ankunft der schweren Artillerie zu beschleunigen. Aber die Zeit floß dahin, Tage und Wochen verstrichen, die Geschütze blieben noch immer aus, und die ganze Armee war dazu verurteilt, nur die verschiedenen Ausfälle der Schweden abzuschlagen.

Endlich wagte man den ersten Sturm. Sechstausend Mann versammelten sich an der Stelle, die dem Festungsgraben am nächsten lag. Als es dämmerte, begann man zu stürmen. Die wachsamen Schweden empfingen die Angreifer mit einem tödlichen Geschütz- und Musketenfeuer. Es begann ein heißer Kampf. Nicht lange, so hatte man den Graben an einer Stelle zugeschüttet, und die Polen rückten bis zu den Festungsmauern vor. An der Spitze von zweitausend Freiwilligen warf sich Kmicic auf das aufgeworfene Fort, das von den Polen »Maulwurfshöhle« genannt wurde. Und trotz des verzweifelten Widerstandes eroberte er es mit einem Schlage. Pan Andreas befahl, einen Teil der eroberten schwedischen Kanonen auf das Tor zu richten, die übrigen auf die Mauer, um die Freiwilligen zu decken, die sie erklettern wollten.

Dieser Versuch mißlang jedoch vollständig. Fast fünfhundert Freiwillige fielen, die anderen traten den Rückzug zu den polnischen Schanzen an.

Der Sturm war abgeschlagen worden, aber das Fort blieb in den Händen der Polen. Vergebens richteten die Schweden das Feuer ihrer schwersten Mörser darauf, Kmicic antwortete ihnen mit gleicher Energie aus den eroberten Geschützen. Gegen Morgen jedoch waren alle seine Geschütze zerschmettert. Nun schickte Wittemberg eine Abteilung Infanterie aus, die das Fort zurückerobern sollte. Kmicic hatte aber auch Verstärkung erhalten; er schlug nicht nur die Attacke ab, sondern verfolgte die Angreifer noch weit.

Pan Grodzicki eilte zum König, um ihm Bericht zu erstatten.

»Majestät,« sagte er, »ein Fort ist den Schweden entrissen, und wenn wir jetzt unsere schwere Artillerie zur Stelle hätten, so könnten wir mit dem Generalsturme beginnen.«

»Wer hält jetzt das Fort?« fragte der erfreute König.

»Pan Babinicz.«

Jan-Kasimir ließ sich sein Pferd vorführen, nahm sein Fernrohr mit sich und ritt ins Feld. Das Fort lag so nahe an den Festungsmauern, daß die Schweden es nicht nur mit ihren Geschützen bestreichen konnten, sondern es auch mit Musketengeschossen überschütteten. Granaten fielen zu Hunderten auf die unglücklichen Verteidiger.

»General, wir müssen ihm gleich Verstärkungen zuschicken,« wandte sich Jan-Kasimir an seinen Begleiter. »Dann lassen Sie auf der ganzen Linie das Geschützfeuer eröffnen, damit wir die Aufmerksamkeit der Schweden vom Fort ablenken.«

Grodzicki gab seinem Pferde die Sporen und sprengte zurück. Nach einigen Minuten eröffnete die ganze polnische Artillerie ein heftiges Geschützfeuer, und etwas später kam aus den Verschanzungen eine Abteilung masurischer Infanterie, die im Laufschritt der »Maulwurfshöhle« zueilte.

Der König stand und beobachtete alles.

»Babinicz muß abgelöst werden,« sagte er plötzlich. »Wer von euch, Panowie, will ihn ersetzen?«

»Ich!« rief Pan Grylewski, ein Offizier aus der leichten Kavallerie.

»So gehen Sie hin!« erwiderte der König.

Pan Grylewski bekreuzigte sich, tat einen Schluck aus der Feldflasche und ritt davon.

Das Geschützfeuer hatte inzwischen etwas nachgelassen. Die Musketen schwiegen aber dafür keine Minute.

»Ich zöge es vor, die Position zu verlieren, als daß Pan Babinicz verwundet werden sollte,« sprach Jan-Kasimir.

»Gott wird ihn erhalten!« entgegnete Pater Cieciszowski.

Es verging eine halbe Stunde peinvoller Erwartung. Plötzlich rief Tyzenhauz, der vorzügliche Augen hatte:

»Grylewski kehrt zurück! Babinicz ist wahrscheinlich gefallen, und die Schweden haben das Fort zurückerobert. Des Pulverdampfes wegen kann man nichts erkennen.«

Jan-Kasimir bedeckte sein Gesicht mit den Händen und sprach kein Wort. Inzwischen hatte Grylewski den König erreicht, und ganz außer Atem sagte er:

»Majestät! Babinicz bestellt, daß es ihm gut geht, daß er nicht der Ruhe bedarf; er bittet nur, ihm Nahrungsmittel zu schicken. Seit gestern sind sie dort ohne Nahrung.«

»Er lebt also?« rief der König erfreut.

»Er sagt, es gehe ihm gut,« wiederholte Grylewski.

»Aber Sie hätten doch da bleiben müssen, ihn abzulösen. Schämen Sie sich! Sie bekamen wohl Angst? Dann mußten Sie den Auftrag nicht erst annehmen, wenn er über Ihre Kräfte ging!«

»Majestät!« begann mit zitternder Stimme Grylewski, »jeder Sterbliche, der mich einen Feigling nennt, würde diese Beleidigung mit Blut abwaschen müssen. Aber bei Euer Majestät bleibt mir nur das eine, mich zu rechtfertigen. – Ich war in der Maulwurfshöhle, was nur wenige gewagt hätten; aber Pan Babinicz empfing mich recht unfreundlich. »Scheren Sie sich zum Teufel,« rief er mir zu. »Ich habe genug zu tun und keine Zeit zum Schwatzen. Wir haben Hunger; statt uns Essen zu schicken, wartet man uns mit einem Kommandanten auf! Wenn Sie nicht in Güte weggehen, so werde ich Sie über die Verschanzungen hinaus befördern lassen!« Was blieb mir da anderes übrig, als zu gehen?«

»Und wird er sich da halten können?« fragte der König.

»Babinicz, ja! Ich habe vergessen zu melden, daß er mir zurief: »Ich werde mich hier eine Woche lang halten, nur schickt uns Nahrungsmittel her.«

»Ist es denn überhaupt möglich da zu bleiben?«

»Dort, Majestät, ist wahrhaft der Tag des jüngsten Gerichtes angebrochen. Eine Granate fällt nach der anderen, sie pfeifen und heulen in der Luft wie die Teufel. Der ganze Erdboden ist durch Gruben zerrissen, und der Pulverdampf beschwert einem das Atmen. Von den Unsrigen sind schon viele gefallen; die am Leben Gebliebenen liegen in den Gruben und sind guter Dinge. Noch während meiner Anwesenheit ist die Verstärkung eingetroffen, und der Kampf ist von neuem entbrannt.«

»Wenn wir die Mauern nicht attackieren können, solange keine Bresche gelegt ist,« sagte der König, »so werden wir noch heute die Krakauer Vorstadt stürmen. Das wird das beste Mittel sie abzulenken sein.«

Jan-Kasimir nahm bei diesen Worten aus den Händen des Paters Cieciszowski ein goldenes Kreuz, hob es hoch in die Luft und bekreuzigte mit ihm das ferne Fort, das von dem Rauche der Kanonenschüsse eingehüllt war.

»Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs! Erbarme dich deines Volkes und schicke den Untergehenden Hilfe! Amen! Amen! Amen!«


 << zurück weiter >>