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24

»Vor die Ereignisse meiner frühesten Kindheit wurde – sei es mir zum Unheil, sei es mir zum Heil – ein undurchsichtiger Vorhang gezogen«, beginnt Giuliano seinen Bericht. »Als ich heranwuchs und ein denkender kleiner Bub wurde, habe ich oftmals versucht, meinem Kindergehirn eine Erinnerung abzuzwingen. Umsonst, alles umsonst. Ich weiß nicht einmal, ob der Vorhang vor einem Tempel hing oder vor einer Lasterhöhle; – ob es gar ein Theatervorhang war, hinter welchem Herzbewegendes gespielt wurde von unglücklichen Schauspielern des Lebens. Ein verfolgtes Paar – einen Mann und eine Frau –, die mit mir von Hafen zu Hafen zogen; eine Blutlache sodann, in der meine Kinderaugen den Mann röcheln sahn, haben mir später zuweilen Träume gezeigt. Mag sein, daß die Träume mir die Tragödie meiner Eltern zeigten; mag auch sein, daß meine Träume Schäume waren ... Ich weiß es nicht; denn erst mehrere Jahre nachdem ich die letzte Hafenstadt verließ, begann das Bewußtsein der Wirklichkeit in mir aufzudämmern; und damit drängte sich vor alle schwankenden Traumbilder das eine untrügliche Bild: daß ich blutend die letzte Hafenstadt verließ. Und auch das sah mein ausgelöschtes Gedächtnis bloß, weil mir vom Mann, der mich rettete, nachträglich beschrieben worden ist, wie an ein eben absegelndes Schiff eine Frau heranruderte und einen Blumenkorb hinaufreichte, worin verborgen unter Nelken ein Kind lag; – ein Kind mit blutig klaffendem Schädel. An Deck stand ein englischer Edelmann, der Earl of Norfolk; das Phantastische des Vorgangs, der Schmerz der Frau, das traurige Los des in Blumen gebetteten Kindes weckten sein Mitleid. Er nahm der Frau den Korb ab und versprach, für mich zu sorgen.

25

Lange hielt Norfolk mich für hoffnungslos blöde. Auch nachdem die langsam heilende Kopfwunde sich geschlossen hatte, blieb mein Gehirn leer. Darüber vergingen drei bis vier Jahre. Dann, beinahe plötzlich, wie ein ungestümes Erblühn nach Winterstarre, kam das Erwachen über mich. Ich lernte begreifen, ich lernte sprechen; ich lernte zu lernen, sogar besser zu lernen als andere Knaben meines Alters ...«

Hier unterbrach Cosmo:

»Wie alt bist du, Giuliano?«

»Nur schätzen kann ich es, Eccellenza. Norfolk meinte, ich müsse ungefähr neun Jahre alt gewesen sein, als ich zu sprechen anfing. Falls das richtig ist, bin ich jetzt 27 Jahre alt.«

»Und du warst ganz geheilt?«

»Nicht ganz, Eccellenza. Spielend leicht lernte ich, – und das ging so zwei Jahre lang, ohne einen Rückfall. Jedoch als ich eines Morgens erwachte, wunderte ich mich über mein Bett und die Wand und das Fenster – all das sah ich zum erstenmal; mein Bild im Spiegel war mir fremd; ausgelöscht aus meinem Hirn war jegliches, was ich erlebt und was ich gelernt hatte. Erst nach Wochen fand ich zu mir zurück und war wieder Giuliano. Das hat sich in gewissen Zeitabständen immer wiederholt, auch noch in den letzten Jahren. Ich weiß dann nicht, wer ich bin, kenne meinen Namen nicht, rede wirres Zeug und begebe mich suchend auf die Wanderschaft, um mich selbst zu finden.«

»Du bist nicht der einzige, der dich sucht, Giuliano. Wer gab dir deinen Namen?«

»Norfolk tat es, Eccellenza. Den Namen hatte ihm jene Frau genannt, als er ihr versprach, für mich zu sorgen ... Sein Versprechen hat er treulich gehalten. Er zahlte für meine Erziehung, gab mich ins Haus eines Pfarrers, ließ mich die beste Schule in London besuchen, hernach auch die Universität in Oxford, wo ich Naturwissenschaft und Medizin studierte. Seit ich Student war, würdigte er mich seiner Freundschaft ...«

Noch einmal unterbrach Cosmo.

»Wo geschah das mit dem Korbe?«

»In einem italienischen Hafen, Eccellenza. Oft habe ich Norfolk danach gefragt, stets weigerte er sich, mir den Namen des Hafens zu nennen. Ich hätte Feinde in Italien, meinte er, und darum sei es sein Wunsch, ich solle mein Heimatland meiden und in England Wurzel fassen ... Nie hatte er mich im Zweifel darüber gelassen, daß ich, wenn auch lieb ihm wie ein Sohn, der Erbe seines großen Besitzes nicht werden könne: er war zwar unverheiratet und kinderlos, doch hatte er zwei Neffen, die er ihres Geburtsrechtes nicht berauben wollte noch durfte. Für einen Erbschleicher hielten mich die beiden, verfolgten mich mit ihrem Haß und bereiteten Norfolk meinetwillen manche schwere Stunde. Sie hetzten zu guter Letzt die Kirche gegen ihn auf, indem sie seine humanistischen Studien als schwarze Kunst und Kabbala verdächtigten. Der Mißhelligkeiten müde, beschleunigte er die Ausführung seines schon lange gehegten Planes: auf dem Landwege über Mesopotamien und Persien bis nach Indien vorzudringen. Mich nahm er als Reisebegleiter mit.

26

Die Jahre im Orient waren die glücklichsten meines Lebens. Ich sah mehr als die sieben Wunder der Welt; ich wanderte hellwach (was sonst nur Dichter und Schakale tun) umher in Baalbek und in den Ruinen von Persepolis; ich sah den Hügel, der das Grab von Babylon ist. Am Hindus habe ich gestanden und am Ganges, habe Mondscheinnächte an märchenhaften Lotosteichen verträumt. Es gibt Schönheit, die anzuschauen beinahe schmerzt – wie es ja auch (z. B. in alten Balladen oder bei Vergil und Dante) einen Schmerz gibt, der ins Reich der Schönheit erhoben ist. Würde jemand mich fragen, was am stärksten an meine Seele gegriffen hat, so würde ich nicht den Gletscherschnee des Himalaja nennen oder das nächtliche Tierblutbad der Dschungeln; nicht vom Jammer in den Augen schöner Hindumädchen würde ich sprechen, nicht vom weißen Elefanten, nicht von den zum Himmel klimmenden Pagoden, nicht von einer Hungersnot, die lebende, mit Menschenhaut bedeckte Skelette aus Männern, Frauen, Greisen und Kindern machte; nicht vom Demantengeblink der Maharadschas, nicht vom schauervollen Halbdunkel im Felsentempel zu Ellora; nein, mein tiefstes Erlebnis hatte ich während der Rückreise – als Indien schon hinter mir lag –, in einem Dorfe des Tijari-Gebirges unfern von Mosul. Kurz bevor wir ins Dorf einritten, glitt mein Pferd aus, stürzte, kam auf mich zu liegen; auf einer Tragbahre – denn mein Bein war gebrochen – mußte ich ins Dorf geschafft werden.

Daß die Reisepläne meines Wohltäters meinethalb eine Änderung erfahren sollten, war mir unerträglich; ich bat flehentlich darum, meine Gesundung nicht abzuwarten. Bis schließlich Norfolk nachgab. Im saubersten Hause des Dorfes brachte er mich unter, hinterließ mir Geld und Arzneien und setzte mit seinem Troß von Begleitern die Reise ohne mich fort. Er hatte die Absicht, einen Abstecher nach Armenien zu machen, und versprach, mich nach etlichen Wochen abzuholen. Doch aus den Wochen wurde ein Jahr, da ihn selbst am Wan-See eine schwere Fiebererkrankung zurückhielt ... Erst nach unserer Trennung erfuhr ich, daß ich nicht – wie ich zuerst geglaubt hatte – die Gastfreundschaft mohammedanischer Kurden genoß: die Bewohner des Dorfes, wo ich lag, waren Teufelsanbeter ...«

»Was! Anbeter des Teufels?« rief Faustina erstaunt. »Lauter Hexenmeister und Hexen und kleine Hexenkinder? Und Ihr habt unter ihnen gelebt, Signore?«

»Sie haben mich nicht behext, sie waren nicht so schlimm, Signorina.«

»Aber doch Teufelsanbeter! Gibt es das wirklich?« fragte Cosmo stirnrunzelnd.

»Ja, Eccellenza. In jenem Gebirge gibt es viele Dörfer der Teufelsanbeter.«

»Und rottet der Sultan die Brut nicht aus?«

»Alle Sultane haben Tausende von Teufelsanbetern hingeschlachtet – ohne sie ausrotten zu können ... Für eine arge Brut hielt auch ich sie, – bis ich eines andern belehrt wurde. Mein Gastfreund war einer ihrer Häuptlinge, ein weißbärtiger, hochgewachsener Greis mit mächtiger Adlernase, schwarzbewimperten hellgrauen Augen, geschweift gemeißelten Lippen; unvergeßlich sind mir seine wunderschönen Finger ... Er hieß Scheich Awad. Man hätte ihn für einen auferstandenen König der Parther oder der Sassaniden halten können, wäre er nicht so bescheiden gekleidet gewesen, und hätten ihm nicht Bescheidenheit und Herzensgüte aus den Augen gestrahlt. Aufopfernd pflegte er mich, nicht weil er eine Bezahlung erhoffte, nicht weil seine Religion es ihm vorschrieb, nicht weil er das Norfolk gegebene Versprechen halten mußte, – nein, sondern weil seine Menschlichkeit ihn zwang, dem Mitmenschen hilfreich zu sein ...«

»Wir und die Nachtigallen des Boboli-Gartens hören dir gern zu, Giuliano. Doch anderswo sei vorsichtig. Der Inquisitor hat weitreichende Ohren ... Wie verständigtest du dich? Sprachst du Kurdisch?«

»Nein, Eccellenza; – noch nicht, als ich mir das Bein brach. Doch ans Krankenlager gebannt, vertrieb ich mir die Zeit damit, Vokabeln aufzuschreiben, die ich zu Hunderten auswendig lernte. Als ich drei Monate später völlig genesen aufstand, kostete es mich mehr Mühe zu gehn oder gar zu reiten, als mich ziemlich fließend mit Scheich Awad zu unterhalten. Und nicht nur mit ihm: alle Dorfbewohner verehrten mich, weil ich kein Türke war, weil ihr Häuptling mich seinen Freund nannte und weil ich manchem Kranken mit meinen Arzneien das Leben rettete.

Ein halbes Jahr ging hin, und in all der Zeit gelang es mir nicht, von meinen Freunden das Geringste über ihren Glauben und den Ritus des Teufelsdienstes zu erfahren. Bis eine furchtbare Begebenheit mir das Geheimnis lüftete.


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