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In hastiger Eile hüllt sie sich in ein dunkelgraues Cape. Ihre schneeigen Füße schlürfen in Sammetpantoffeln. So folgt sie dem Kardinal durch den stockfinsteren Palast, gelangt mit ihm in den Park, wo der freche Nordwind ihren Mantel auseinanderbläst, so daß ihre dünngliedrige Gestalt alabastern erschimmert; doch das gewahrt kein menschliches Auge, da – (aus begreiflichen Gründen) – schon die Vorgänger des knabenhaften Erzbischofs dafür gesorgt haben, daß die Schlafzimmer der Lakaien, sämtlich an der Straßenfront des Palastes, Aussicht auf den schiefen Turm gewähren – doch nicht auf die obskuren Geheimnisse des erzbischöflichen Gartens.
Der aufgehende Mond blinkt, eine Messingschale, hinter schwarzen Zweigen. Vor der vergoldeten Bank zwischen den beiden Pinien bleiben Giovanni und Bianca stehn. Dort neben der einen Pinie ist die Silberpappel, und dort hängt der Selbstmörder. Der Nachtwind schaukelt ihn wie einen Glockenschwengel. Ein Zweifel ist nicht mehr möglich: ja, es ist Messer Agostino Selmi!
Giovanni packt Biancas Arm. Sie stützt ihn, – sonst wäre er wohl niedergesunken.
»Du zitterst so, Giovanni. Setz dich doch auf die Bank.«
»Laß, es ging schon vorüber ... Weißt du, Bianca, warum er das getan hat? Ich weiß es! –: um Gracia zu retten, hat er sich getötet, –: damit kein Zeuge existiert, der Pietros Unschuld beweisen kann.«
»Du kannst es, Giovanni; – also ist doch noch ein Zeuge auf der Welt, – und er hat sich umsonst geopfert.«
»Nein, Bianca, das Sigillum confessionis verbietet mir, vor Gericht auszusagen. Nur Gracia kann es, – und darum muß ich zu Gracia, ihn dazu bewegen!«
»Das werde ich dir erlauben, wenn Odescalchi dein Gast gewesen ist; – früher nicht ... Schau doch –: da sind rote Flecke auf dem Wams! Und da –: auf den Schuhen auch!«
»Blut? ... Jesus und Maria! Was bedeutet das? Wenn man sich erhängt, blutet man doch nicht?«
»Du! ... – er hat sich die Pulsader aufgeschnitten! Mit der Sense! – auf der sind ja auch Blutflecke! Siehst du's nicht?«
»Ja, ich sehe ... Wie erklärst du dir das? Glaubst du –: ein Unglücksfall? Er ist vielleicht im Dunkeln über die Sense gestolpert und hat sich zerschnitten? ...«
»Nein, ich denke es mir anders –: er hat versucht, sich die Adern zu öffnen, – und um ganz gewiß zu sterben, hat er sich außerdem erhängt.«
»Wir dürfen ihn nicht da oben lassen. Wenn bekannt wird, daß er Hand an sich gelegt hat, so verweigert ihm die Kirche ein christliches Begräbnis, – ihm, dem treuen Menschen! – Daran könnte auch ich als Erzbischof nichts ändern ... Und außerdem fürchte ich ...«
»Was?«
»Daß es Pietro schaden wird. Der falsche Schwur, der für Pietro so vernichtend war, ist durch diesen Selbstmord besiegelt.«
»Das ist falsch gedacht, Giovanni. Das Gegenteil wird man daraus folgern; und nicht Pietro wird es schaden, sondern Gracia.«
»Meinst du? Ich bin heute ganz wirr im Kopf ... Nun, einerlei wie man es auslegen mag, ich will, daß er ein ehrliches Begräbnis hat und daß er meinen Brüdern nicht schadet durch seinen gutgemeinten Tod ... Komm, wir müssen ihn vom Ast abschneiden und ihn so hinlegen, daß man an einen Unglücksfall denken wird.«
»Da, nimm die Sense, Giovanni! ... Oder ist es dir lieber, wenn ich es tue?«
»Meine Hände zittern wieder so, Bianca ... Aber hast du denn gar keine Furcht?«
»Ich? Furcht kenne ich nur vor Fledermäusen. Was kann mir eine Leiche tun? Eine Leiche kann mir doch nicht ins Haar fahren? ... Komm, hebe mich auf deinen Arm, damit ich hinaufreiche!«
Giovanni hebt sie empor. Sie durchschneidet mit der Sense den Strick. Unheimlich, fast geräuschlos stürzt der Tote auf den weichen Rasen.
Und dann knien die beiden im Gras und betten ihn, um einen Unfall vorzutäuschen. Der kindliche Kardinal flüstert:
»Wir müssen ihm noch eine Wunde beibringen – was denkst du? oberhalb des Nabels? oder vorn am Hals? damit es recht glaubhaft wird, daß er in die Sense hineingefallen ist ... Wenn er mich nicht so an die Zeit erinnerte, wo ich sein Schüler war ... Und dann denke ich, daß ein Toter doch nicht ganz tot ist. Stell dir vor, wenn er es fühlt ...«
»Du denkst zu viel, Giovanni. Wenn er es fühlt, so wird er ganz gewiß nicht schreien, verlaß dich drauf ... Gib her, ich will's tun!«
Und sie schlägt mit der Sense eine Wunde in die Brust Selmis. Danach drehn die beiden kindlichen Leichenschänder den Toten um, – so daß er mit der Brust auf die Sense zu liegen kommt und das Gesicht in den Rasen vergräbt.
Den griesgrämigen Benvenuto Cellini hatte das Mißgeschick Don Pietros noch griesgrämiger gemacht. Doch schon einen Tag nach dem Kriminalprozeß hinderte ihn ein Brief Michelangelos, sich krank darüber zu grübeln, wann und ob überhaupt der Duca das Todesurteil unterschreiben werde ... Der greise Riese in Rom lebte immer noch, schuf immer noch und plante – obgleich bereits siebenundachtzig Jahre alt – noch immer neue Meisterwerke. In seinem Brief erbat er sich von Cellini den Freundschaftsdienst, für ihn nach Carrara zu reisen. Von Florenz aus sei ja die Riviera di Levante leichter zu erreichen als von Rom aus. Einen von ihm bestellten Marmorblock solle Cellini besichtigen und prüfen. Den teuern Block benötige er für ein Bildwerk, das er vor seinem Tode noch zu meißeln vorhabe –: einen entfesselten Sklaven. Nicht mehr von Felsenlast niedergedrückt und aus dem Stein sich zu erlösen unfähig wie seine unvollendeten Brüder, sondern der Gesteinsmasse – dem Felsen der Verwesung – entstiegen gleich einem die Puppe verlassenden Falter, werde sein entfesselter Sklave auf dem unterjochten Felsen – der geistlosen Materie – stehn, werde sie mit Füßen treten und werde seine freigewordenen Arme und geballten Fäuste gen Himmel strecken, dem Prometheus liberatus ähnlich ... Dem Brief war eine Geldsumme beigelegt, die die Reisekosten und einen längeren Aufenthalt in Carrara reichlich decken konnte.
Zeitlebens hatte Cellini sich's zur Ehre angerechnet, Michelangelo, dem Meister aller Meister, – (der in seinen Augen ein fleischgewordener Feuergott und Menschenbildner, doch nicht ein Mensch war) – Dienste und Gefälligkeiten zu erweisen. Und diesmal nahm er den Auftrag um so lieber an, als er ihm ermöglichte, das Tretrad seines freudlosen Alltags für einige Zeit zu unterbrechen, seinen Augen den langentbehrten Anblick azurener Küsten wieder zu gewähren, einst geliebten Stätten und Menschen wieder zu begegnen, nach denen sein durch Armut an Verzicht gewöhntes altersmüdes Herz trotz Menschenhaß und Verbitterung immer und immer wieder gelechzt hatte. Das letztemal war er in Carrara vor einem Jahrzehnt gewesen, als er – bald nach der Vollendung seines Perseus – daran gegangen war, einen Narziß in Marmor auszuführen. Unweit der Marmorbrüche hatte er ein Erlebnis mit einem ligurischen Mädchen gehabt; – es war sein letztes Liebesabenteuer gewesen ...
Und jetzt beschenkt ihn Michelangelos Brief mit der Vorfreude auf ein Wiedersehn. Wehmütig lächeln muß er, gedenkt er jenes Abenteuers: nach kurzer flammenroter Seligkeit hatte es sich – (so ist der Erdenlauf!) – in ein blasses bloßes Gedenken verwandelt. Der Briefwechsel war bald eingeschlafen; doch hatte er erfahren, daß sein Kind ein Mädchen sei. Oft seitdem hatte ihn die Sehnsucht gepackt, hinzureisen; die Zeit hatte ihm zuerst, und später das Geld dazu gefehlt.
Er rechnet aus, wie alt die Kleine jetzt wohl sein mag. Und er wählt unter seinen Goldschmiedearbeiten als Geschenk für sein Töchterchen einen an einer Goldkette befestigten Anhänger. Dies chryselephantine Kleinod, nicht größer als eine griechische Kamee, stellt eine sich emporbäumende Schlange dar, gegen deren Kopf ein schießender nackter Schlangentöter den vom gespannten Bogen noch nicht abgeschnellten Pfeil richtet. Ein Amulett ist es, das sein Kind vor dem Malocchio und andern Gefahren schützen soll.
In Carrara angelangt, begibt sich Cellini zu den Marmorbrüchen, wo der herrliche Statuario de Falcovaja, der Statuenmarmor, durch Pulver vom Fels abgesprengt und mit stählernen Sägen zersägt wird. Die armen Sklaven, die die ägyptischen Pyramiden emporgetürmt – denkt Cellini – hatten kaum schwerere Arbeit zu leisten als diese Steinmetzen, deren Pyramiden unsichtbar bleiben, weil ihre Quaderblöcke über die ganze Welt verstreut sind. Und er entsinnt sich der schauerlichen Latomien bei Syrakus: das ganze gefangene Athener-Heer verkam in der lichtlosen Steinhölle dort ... Zu sehr Künstler ist jedoch Cellini, seinen rebellierenden Gedanken die Fortführung der Analogie zu gestatten. Nein – sinnt er –, die lichtgleißende, salzweiße Wunderwelt hier ist nie und nimmer eine Marmorhölle. Und mag man auch Steine nicht essen können, so dient doch, wer sie aus dem Felsen bricht, auf seine Weise ebensosehr der Welt wie ein Bauer, der pflügt, und wie Michelangelo, der den Block beseelt und vergöttlicht. Kunst ist der Menschheit so unentbehrlich wie Brot oder Salz ...
Den von Michelangelo bestellten Block besichtigt Cellini, prüft die Körnigkeit, die Färbung, mißt die Maße nach. Er findet nichts zu mäkeln, – und ist trotzdem nicht zufrieden. Und mit einmal erkennt er, was ihn unzufrieden macht: ein Neidgefühl überkam ihn, daß ihm verwehrt ist – ach für immer verwehrt –, ein Feuergott zu sein wie der Alte in Rom, der noch immer Menschen schaffen darf nach seinem Bilde ...