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Mit einem leisen Aufschrei brach Donna Faustina ihre Selbstanklage ab und stierte auf die Tür, die sich geräuschlos öffnete. Zwölf glockenhafte Schläge der Schloßuhr erdröhnten eben, – da wankte Don Gracia herein und blieb an die Wand gelehnt stehn. Er hatte sich, von niemand bemerkt, ins Jagdschloß eingeschlichen. Der schmale Streifen Mondlicht war inzwischen nach der Tür zu fortgewandert und rieselte jetzt milchig über des Knaben verzerrtes, verstörtes Gesicht. Er sah wie ein Totengeist aus, zum Erbarmen. Als aber Donna Faustina auf ihn zueilte, um ihn (falls er niederfiele) aufzufangen, wehrte er sie mit einer flehenden Handbewegung von sich ab: ›Rühre mich nicht an, Schwesterchen! Du weißt, was an meinen Händen klebt, besudle dich nicht an mir! ...‹ Wie wenn ein anderer aus ihm spräche, so fremd und hohl klang seine Stimme. Da jammerte Faustina: ›Warum bist du nicht geflohn, warum hast du dich nicht gerettet, mein armer Gracia! Hier bist du ja verloren! ...‹ ›Verloren, Schwesterchen, ja, das ist wahr! Ich bin jämmerlich verloren, verdammt in den Abgrund der Hölle, ich elender Mensch! ...‹
Er vermochte vor Müdigkeit kaum noch, sich aufrecht zu halten; er warf sich auf mein Bett und schloß die Augen. Und ohne die Augen zu öffnen, bat er mich, seinen Vater zu ihm zu rufen. Giovannis aufgebahrte Leiche zu sehn und angesichts des Ermordeten mit seinem Vater zu sprechen, fehlte ihm die Kraft. Aber auch länger auf das Furchtbare zu harren, war ihm unerträglich. Ihm bangte nicht mehr vor dem Strafgericht, er wollte ein Ende der Qualen, nach Schlaf sehnte er sich, nach dem Todesschlaf ...
Ich ging den schweren Gang zu Cosmo; ich störte die heilige Totenwache; wie ein Räuber brach ich ein ins Gehege seiner Unwissenheit, hinter der er bis dahin Schutz gesucht hatte vor den Schrecknissen seiner ahnungsvollen Angst. Die ungeschminkte erbarmungslose Wahrheit erfuhr er durch mich. Doch ich sprach als Arzt zu ihm und ich bewies ihm die seelische Erkrankung seines Kindes: wie die Tollwut den treuesten Hund in einen reißenden Wolf verwandeln kann, so habe eine grausame Begierde, ein Zwang zum Blutrausch, Don Gracia überfallen – und darum sei der Ärmste für seine Tat nicht verantwortlich ...
Die tränenlosen, lebenleeren Augen des Duca wurden, während ich sprach, lebenvoll, lebhaft, erglommen grünlich, – es war, als ob rings um die Iris Funken sprühten. Sobald ich verstummt war, erhob er sich jäh, packte mich an der Gurgel, würgte mich, – und schon glaubte ich, meine letzte Stunde habe geschlagen. Aber rasch wie sein Zorn aufgeflammt war, überkam ihn Reue und Scham über seine Raserei. Die in meine Kehle gekrampften Finger lockerten sich, er umarmte mich und weinte, seinen Kopf an meine Brust drückend, längere Zeit. Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch auf Erden, der diesen stolzen Mann hat weinen sehn ... Schließlich trocknete er seine Tränen; und indem er sie abwischte, wischte er auch den Schmerz aus seinen Gesichtszügen, bis sie wieder geglättet und hoheitsvoll und maskenhaft kühl wurden. Dann bat er mich, ihn zu Gracia zu führen.
In meiner Kammer brannte noch immer kein Kerzenlicht. Der eindringende Mondschimmer überhauchte die Dinge und Menschen mit einem nebelblauen Dämmerschein. Da lag Don Gracia auf meinem Bett; weh ihm, oder nein: wohl ihm, denn er war in tiefen Schlaf gesunken; ausgestreckt auf dem Rücken lag er wie ein Menschenopfer auf einem Blutaltar. Und hinter dem Kopfende des Bettes kauerte auf dem Fußboden die Unglücksgestalt Faustinas. Ihr Gewand hatte sie in Ordnung gebracht, doch dürftig genug war sie bekleidet; mit ihren Fingern wühlte sie in ihrem aufgelösten Haar, das, einer goldgelben Wolke gleich, ihr blankgeweintes leidverstörtes Gesicht umhüllte. Als wir eintraten, rutschte sie auf den Knien zu Cosmo heran, hob ihre gefalteten Hände zu ihm empor und wimmerte flüsternd: ›Erbarmen! Erbarmen! Tu ihm nichts! Er schläft! Wecke ihn nicht! Verunheilige den Schlaf nicht! Die sieben Engel Gottes bewachen ihn! Er wird früh genug erwachen, der Ärmste! ...‹
Doppelsinnig antwortete ihr Cosmo: ›Ich werde ihn nicht wecken, Faustina! ...‹ Und Cosmo setzte sich in einen Lehnsessel neben den Schlafenden, während sie in ihre Ecke hinter das Kopfende des Bettes zurückkroch. Ich aber stand aufrecht am Fenster, gezwungen, ein untätiger Zuschauer zu sein dieser Tragödie, deren schwarze, von den drei Schicksalsschwestern gesponnene Fäden zu zerreißen keines Menschen Kraft hinreichte. Selbst keines Gottes Kraft. Zum erstenmal kam mir die Einsicht, daß die drei Schicksalsschwestern grauenhafte Dämonen sind, die mächtigsten von allen Teufeln ...
Und Cosmo begann leise zu sprechen, ganz leise, damit Gracia nicht erwache. Weder an Faustina noch an mich waren seine Worte gerichtet, – nicht einmal an Gracia, obgleich er ihn anredete. Zu sich selbst sprach er, – wie einer, der mit einem Stern oder einer Blume Zwiesprach hält, obgleich er weiß, daß sie taub sind und daß seinen bebenden Worten nichts entgegenbebt außer dem eigenen Herzen.
›Unseliges Kind, was hast du getan! Was hast du dir und mir angetan! Mir und deiner Mutter und deinem sanften Bruder! Einen Engel hast du umgebracht, – und mit ihm dich selbst! Mehr als um ihn jammere ich um dich, mein Liebling! Wie kann ich dich von deinen Qualen erlösen? ... Ich verfluche die Stunde, in der ich dich erzeugte! Durfte ich dich in dies Erdental setzen, wo dir beschieden ist, solche Qualen zu erdulden? Dein himmlischer Vater weiß es und dein allzuirdischer: das wilde Blut, das du von mir erbtest, zwang dich zur Tat ... Was auch immer du verbrachst, ich liebe dich, mein armer Junge, wie ich dich stets geliebt habe. Meine Liebe zu dir lasse ich mir nicht ausreuten, als wäre sie ein schlechtes Unkraut ... Wie war ich stolz auf deine Schönheit, mein Gracia! Schon als kleines Kind bezaubertest du jedermann. Von allen meinen Kindern stand keines meinem Herzen so nah wie du; mein Idol warst du, ich trieb Abgötterei mit dir, – und darum trifft mich die Strafe des Himmels; und darum verlangt Gott ein Opfer von mir – wie einstmals von Abraham, dem er befahl, ihm sein Söhnchen Isaak zu schlachten auf dem Brandaltar ...‹
Einen entsetzten Schrei stieß Faustina aus. Und dann lallte sie winselnd: ›Erbarmen! Erbarmen, Cosmo! ... Habe doch mit dir selbst Erbarmen! Du liebst ihn mehr als deine Augen, Cosmo!‹
Er gab keine Antwort. Mit dem Rücken zu ihr saß er am Bett, regungslos wie ein steinernes Sitzbild, und schaute dem Schlafenden ins Gesicht. Eine Weile war es ganz still im Zimmer. Nichts hörte man als nur das schwere Atmen von vier Menschen. Und ganz leise fuhr dann Cosmo fort, zu Gracia zu sprechen.
›Ich werde dich nicht wecken, mein armes Kind. Grausam ist das Leben für dich, mild der Schlaf. Verlängern möchte ich deinen Schlummer, ihn verewigen ... Selbstliebe war meine Liebe: ich sah ja mein Ebenbild in dir; deine schönen Finger sind meine Finger, deine länglichen Nägel sind meine Nägel ... Geist von meinem Geist war deine stürmische Lebhaftigkeit, die für deine Zukunft mir so viel versprach. Was erhoffte ich nicht alles von dir und für dich! ... Ach, und nun fiel alles in die Asche! Und was stünde dir jetzt bevor, falls du am Leben bliebest? Denn das begreifst du doch, Gracia, daß dein Vater, den das Volk den Bannerherrn des Rechtes nennt, gern auf diesen Ehrennamen verzichten würde, gern sich schützend zwischen dich und die Gerechtigkeit stellen würde, – und doch wäre es vergebens, weil das Recht stärker ist als ein Fürst. Nicht Florenz allein, sondern die gesamte schwerergrimmte Welt würde nach Sühne für den Brudermord schreien. Herausgeben müßte ich dich deinen Richtern, daß sie mit dir verfahren wie mit einem bösen Hund; dich preisgeben müßte ich dem roten Henker, daß er aufs Rad dich flechtend dir die Knochen zerbricht, deinen schönen Körper vierteilt ... Und die blutige Buße auf dem Hochgericht würde nicht einmal dein Andenken vor bleibender Schande bewahren. Und selbst wenn ich, dich zu begnadigen, die Macht hätte, – du selber würdest dich nicht begnadigen. Du müßtest ja, solange du atmest, das Brandmal – das Kainsmal – auf der Stirn tragen, würdest nie es abwaschen können ... Schlafe, schlafe, mein armer Junge! Ich wecke dich nicht. Zu grausam wäre dein Erwachen! ... Weil ich dich grenzenlos liebe, mein Kind, bewahre ich dich vor solchem Erwachen!‹
Und wieder kreischte bei diesen Worten Donna Faustina schrill auf. Sie war zu weit entfernt, um Cosmo in den Arm zu fallen. Weiß aufblitzen sah ich eine Stahlklinge über dem Schlafenden; aber auch ich stand zu weit entfernt und konnte, wie Faustina, das Furchtbare nicht verhüten. Cosmo stieß die Dolchklinge seinem schlafenden Sohn ins Herz.
Und jetzt geschah etwas Unerwartetes. Ein seliges Lächeln erhellte die Gesichtszüge des Sterbenden. Gracia hatte doch wohl nicht geschlafen, ja, ich bin überzeugt: er hatte sich nur schlafend gestellt, und jedes Wort, das sein Vater gesprochen, war wie Balsam in seine wunde Seele gedrungen. Während sein schwarzes Blut auf das Laken spritzte, schlug er zum letztenmal seine strahlenden Augen auf, küßte seines Vaters Mörderhand und sagte mit einem verklärten Lächeln auf den Lippen:
›Nun bin ich erlöst von allen Qualen ... Es tut nicht weh, Vater ... Habe Dank dafür, mein guter Vater! ...‹
Und schon verglasten seine Augen. Aufbrüllend warf sich Cosmo auf den toten Sohn. Faustina wälzte sich einer Irren gleich auf dem Teppich, um sich schlagend im Weinkrampf, für den es keine Stillung gab.