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Achtundvierzig Stunden lang geisterte die Sorge durch den alten Palast; ein scheues Raunen und Fragen wisperte in allen Ecken. Achtundvierzig Stunden lang verließ die Marchesa ihr Schlafgemach nicht.
Erst am dritten Tage nach jener unheilvollen Nacht wankte sie, auf die Schultern zweier ihrer Mädchen gestützt, bis hin zu einer Terrasse vor der Palastfront, von wo aus ihr Blick auf ein zauberhaftes Panorama – über Gefels hinweg, in Täler hinab und aufwärts zum purpurblauen, berghoch ansteigenden Meer – hinschweifen konnte. Hager, starr und steif, mit aufrechtem Rumpf in einem Marmorsessel sitzend, den schmalen Hals vorgestreckt, erinnerte sie mehr denn je an einen nach Aas lechzenden düstern Geier. Nicht etwa, daß sie sich totenhaft geschminkt und zurechtgemacht hätte; – es war ihre natürliche Hautfarbe, dieses grünliche Weiß im blutleeren Gesicht, dieses Lapislazuli-Blau des Mundes. Man hätte glauben können, sie habe sich Belladonna auf die Pupillen geträufelt, – so vergrößert glitzerten die weit geöffneten traurigen Raubtieraugen.
Ich begrüßte sie und erkundigte mich nach ihrem Befinden. Ohne den starren Blick vom Meer abzuwenden, sprach sie vor sich hin, als hörte sie eine Mückenstimme von irgendwoher, der Antwort zu geben ihr eine Qual war:
»Mir ist nicht zu helfen, Messer Giuliano. Ihr habt die Medizin nicht, die die Feuerschmerzen meiner Wünsche löschen kann.«
»Was wünscht Ihr, Signora?« fragte ich beklommen. Und während ich so fragte, suchten meine Augen Hilfe und Trost bei den Augen Violettas. Sie kniete mit einigen Mädchen vor dem Marmorsessel, die andern standen hinter und neben der Marchesa, die meisten verweint und verstört.
»Ahnst du, wie krank ich bin, junger Arzt?« sprach Isotta und fuhr fort, auf den fernen Meereshorizont zu starren. »Sieh, so krank bin ich, daß ich wünsche, ich wäre die Königin Penthesilea und du, junger Arzt, wärst der von ihr zerfleischte Achilleus, und ich könnte mich baden in deinem Blut und ich könnte mich satt trinken an deinem Blut!«
Mir – und wohl allen, die es hörten – rieselte es kalt über den Rücken. Manches der Mädchen stieß einen unterdrückten entsetzten Schrei aus, Marietta schluchzte laut ... Das war nicht Irrsinn, was aus der Marchesa sprach, das war Besessenheit, hemmungslose bestialische Haßliebe ... Und wieder flüchteten meine tieferschütterten Blicke zu den verstehenden, befreundeten Blicken Violettas. Seit drei Monaten, seit dem Tage, wo sie mich, einen lallenden Schiffbrüchigen, vom Strande aufgelesen hatte, verehrte ich sie – wie ein Sternanbeter – aus der Ferne, scheu und stumm, hatte nie ein Sterbenswort mit ihr gewechselt, nie ein Gespräch mit ihr geführt, nie gewagt, sie, die Adlige, anzureden. Bloß unsere Augen hatten miteinander Zwiesprach gehalten. Und, wie damals in Limasol, waren es ihre Strahlenaugen wieder, die mir Mut zusprachen in dieser Not ... Unselige Verblendung von uns beiden! Hätte ich doch lieber mir meine Augäpfel herausgerissen, statt lange, allzulange Violetta anzuschauen! ... Jählings war mir, als ringele sich ein kalter Schlangenleib um meinen Hals und würge mich ... Unmerklich langsam hatte die Marchesa den vorgebeugten Kopf nach uns hin gewendet, mit wildem Haßtriumph starrte sie uns beide an. Die weißgrünen Wangen überflog eine Röte, die versteinerten Züge belebte Freude: sie hatte ein Rätsel geraten und sie sah einen Weg, ihr krankes Herz zu heilen ...
Und als es Abend wurde, geschah das Grauenhafte ... Von Stunde zu Stunde war Isotta fröhlicher geworden. Mit ihrem schmerzverzerrten Lächeln – (das doch immerhin einem Lächeln glich) – täuschte sie ihre Umgebung. Das Starre ihrer Mienen löste sich, sie gewann ihr früheres Aussehn wieder. Und da sie sich offensichtlich von ihrer Seelenlast befreit hatte, wich allmählich auch aus den stumm gewordenen Gemächern und Hallen des Schlosses der Schweigen gebietende Alp.
Überaus aufgeräumt zeigte sich die Marchesa während des Abendessens. Sie bestand darauf, daß die jungen Damen und ich auf ihre Genesung anstießen, daß wir bis zur Neige die Gläser leerten, daß wir mehr tranken als sonst. Und nach dem Mahl verkündete sie: durch ein Fest, eine Maskerade, wollte sie ihre Heilung gefeiert sehn.
Zehn Mädchen, und zwar die jüngsten, wählte sie aus und verließ den Saal, um sich draußen heimlich mit ihnen zu bereden. Allein zurückkommend, trug sie ein in graue Leinwand gehülltes Paket im Arm. Den im Saal gebliebenen Damen – das waren Marietta, Nella, Raffaela und Violetta – befahl sie, sich für den ›Schleiertanz‹ umzuziehn. Die vier Mädchen eilten in ihre Kammern hinauf, und jetzt war ich mit Isotta allein. Sie lachte ihr schmerzverzerrtes Lachen.
»Und wie soll ich Euch maskieren, junger Arzt? Einen Sinn muß ein Spiel doch haben ... Da fand ich unter altem Gerümpel ein stolzes Maskenkostüm, und ich denke mir: Euch wird es wie angegossen sitzen. Einst ließ ich es für einen Freund anfertigen; da er jedoch es nicht anziehn wollte, verbannte ich ihn aus meinem Schloß und aus meiner Nähe ... Ich hoffe, Ihr werdet klüger sein, junger Arzt, und die Rolle darstellen, die wie geschaffen ist für Euch!«
»Wen soll ich darstellen?« fragte ich.
»Einen Affen!« lachte sie gell. Und sie wickelte aus der Leinwand ein schwarzes zottiges Affenkostüm heraus. Die Fratze der dazu gehörigen Gesichtsmaske war die eines riesigen Gorillas.
Als ich mich weigerte, wiederholte sie, deutlicher noch als das erstemal, ihre Drohung. Und ich wußte: sie würde mich zu verjagen nicht zögern, ja sie suchte vielleicht nach einem Vorwand ... Wenn ich mich aber aus dem Palast weisen ließ, so war das gleichbedeutend mit Trennung von Violetta, die ich damit schutzlos dem Haß der Todfeindin preisgeben würde. Das durfte nicht geschehn – und darum fügte ich mich.
Die Marchesa half mir, in den Affenbalg hineinzuschlüpfen, der über meinem Rückgrat mit kleinen Schnallen und Knöpfen geschlossen wurde. Nachdem sie das getan, merkte ich zu meinem Schreck, daß ich meine Arme nicht bewegen konnte.
»Was ist Euch, junger Arzt'?« fragte sie mit schwermütigem Augenaufschlag.
»Knöpft auf, Signora!« flehte ich. »Ihr müßt mir unter den Achseln die Bänder durchschneiden, – sonst kann ich die Arme nicht rühren!«
»Affen haben vier Arme und vier Hände!« lachte sie. »Benutzt die unteren Arme, wenn Ihr die Welt umarmen wollt! ...«
Die Tür ging auf, und in Tänzerinnen verwandelt kamen Marietta, Nella, Raffaela und Violetta herein. Zugleich verhüllend und durchsichtig waren ihre Schleiergewänder; ihre silberigen nackten Waden blinkten unter kreuzweise übereinander geschnürten roten Sandalenriemen.
Isotta hatte dem Gesinde, Köchen, Mägden, Pagen, Reitknechten Erlaubnis erteilt, von einer Estrade herab dem Fest zuzuschauen. Fackeln an den Wänden verbreiteten Tageshelle.
Mit hohnvoller Zeremonie stellte mich Isotta den Tänzerinnen vor:
»Knickst, meine Freundinnen, verbeugt euch tief vor Seiner Majestät, dem König der Affen! Seine Majestät will euch bewundern, – also laßt euch bewundern! Beginnt den Schmetterlingstanz!«
Während Violetta und ihre Gefährtinnen sich eben anschickten, zu den Klängen der Mandoline – die unter den knochigen Fingern Isottas seltsam ächzend zirpte – den Reigen zu beginnen, ging die Tür auf und zehn gepanzerte, behelmte Mädchen mit blanken Klingen in den Händen traten in den Saal und stellten sich längs der Wand unterhalb der Estrade auf. Wie gern ich auch gewußt hätte, was dieser Aufzug zu bedeuten habe, – in diesem Augenblick war es zu spät, die Frage zu stellen, denn schon flatterten vier bunte Irrwische über die schwarz-weiß-karierten Marmorfliesen.
Oft genug hatte ich diesen Tanz gesehn und seinen Zauberhauch genossen. Aber heute war mir zu Mute, als sähe ich einen Totentanz. Die Mandoline in den Knochenhänden der Marchesa zirpte infernalisch. Plötzlich zerriß die Melodie, der Tanz zerbrach, die Menschenfalter wurden erschrockene Mädchen wieder.
»Was soll Seine Majestät der Affenkönig denken!« rief die Marchesa. »Du hinkst ja, Violetta! Hast du eine Wunde am Fuß?«
Für Violetta, die betreten schwieg, antwortete Raffaela:
»Wir erzählten Euch doch neulich, Signora, daß sie sich beim Baden an einer Muschelscherbe verletzt hat. Die Wunde ist schon vernarbt.«
»Zeig deinen Fuß her, Violetta!« befahl die Marchesa.
Auf einen Sessel mußte Violetta ihr linkes nacktes Bein stellen. Die griechische Sandale ließ die Zehen unbedeckt: am großen Zeh war eine winzige Wunde zu sehn.
Die Marchesa beugte sich über den Fuß und verweilte längere Zeit in dieser Stellung. Sodann richtete sie sich auf, wich einige Schritte zurück, gleichsam nach Worten suchend und vor Schrecken unfähig zu sprechen. Und dann entrang sich ihr der entsetzte Ausruf:
»Unseliges Kind! du hast den Aussatz!«
Schreie des Grausens schrillten wild durcheinander. Und wild durcheinander flüchteten die Mädchen zu den Türen. Verlassen von allen stand Violetta allein da im großen Festsaal.
Ich sagte schon, daß Cypern, das herrliche Kythere, ein Paradies genannt zu werden verdiente, wiese seine meerentstiegene Schönheit nicht einen häßlichen Flecken auf: einen Wald des Grauens, das Gehege der Aussätzigen. Die Venezianer, die Herren des Landes, gehn mit unerbittlicher, unmenschlicher Grausamkeit vor, sobald eine Erkrankung an der auf der Insel nicht seltenen Seuche bekannt wird: sie reißen das Kind von der Mutter, den Verlobten von der Braut, den Ernährer von seiner Familie, das Weib vom Mann; und sie lassen das unselige Wesen in den Wald schaffen, aus dem es wie aus der Hölle kein Zurück mehr gibt. Wer den Wald betreten hat, kann ihn lebend nicht mehr verlassen. Das ist jedermann bekannt auf der Insel, und jedermann spricht zitternd und erbleichend von dieser irdischen Hölle, wo Namenloses geschieht. Denn die bei lebendigem Leibe Verfaulenden dort, für immer ausgeschlossen von der Kirche, Lazarett, Bordell und jeglicher menschlicher Gemeinschaft, leben tierischer als Tiere, keinem Gesetz Untertan außer den Geboten ihrer Gier. Wer die Schwelle des Geheges überschritt – ob Frau oder Jüngling, ob kleines oder halbwüchsiges Kind, Knabe oder Mädchen –, wird Beute ihrer scheußlichen Lust: hinter dunklem Buschwerk lauern sie mit fingerlosen Händen, mit nasenlosen Antlitzen, und sie stürzen sich auf das junge blühende Fleisch ...
Das Blut war mir in den Adern erstarrt, als die Marchesa den mörderischen Ausspruch getan. Doch ich erlaubte dem Schrecken nicht, Herr über mich zu werden. Violetta beistehn, sie retten wollte und mußte ich, – ach, und dabei vergaß ich völlig, daß ich ein lächerlicher Gorilla war und daß ich die Arme nicht zu bewegen vermochte. Zu ihr, die von allen verlassen inmitten des Saales wachsbleich dastand, eilte ich hin und warf mich auf die Steinfliesen vor ihr nieder, um ihre Fußwunde genau zu betrachten.
In ein schallendes Gelächter brach die Marchesa aus, als sie mich so am Boden herumkriechen sah.
»Die Contessina Violetta ist gesund!« rief ich außer mir.
»Beim höchsten Gott, das da ist kein Aussatz! Ich bin ein Arzt und kann es bezeugen!«
»Ihr seid ein Affe, Signor, und merkt nicht, wie putzig Ihr Euch benehmt. Der venezianische Regierungsarzt, nach dem ich heute nacht noch schicken werde, weiß über Aussatz besser Bescheid als so ein tobender Gorilla! ...«
Und heuchlerisch wandte sie sich an Violetta:
»Morgen früh, wenn der Arzt kommt, wird sich dein Schicksal entscheiden, arme Violetta, armer kleiner Hiob. Jetzt aber begib dich auf deine Kammer. Allen Bewohnern meines Schlosses ist verboten, mit dir zu sprechen, – bis ich dich morgen rufen lasse ... Und ihr, meine bewaffneten Mädchen, werdet abwechselnd in dieser Nacht vor Violettas Tür Schildwacht stehn! Führt sie hinauf!«
Vor Wut und Verzweiflung meinte ich ersticken zu müssen. Das mitansehn – und die Arme lahm, die Seele flügellahm ...!
Ich kroch zur Marchesa hin, lehnte flehentlich meinen Kopf an ihre Knie und hob schluchzend meine Blicke zu ihr empor.
»Erbarmen! Erbarmen!« weinte ich.
Es muß unsäglich lächerlich ausgesehn haben, denn sogar einige der verschüchterten Mädchen konnten ein Lachen nicht unterdrücken.
»Zu spät!« murmelte die Marchesa, plötzlich ernst werdend.
Ja, es war zu spät: Violetta wurde hinausgeführt. Da brüllte ich auf und schrie die Marchesa an:
»Mörderin! Mörderin!«
Sie streichelte mir den Kopf:
»Wenn du wüßtest, wie lustig du bist, du Affe!«