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Dem Sturm, der sich in Giulianos Seele erhoben hat, bleibt die Zeit nicht, sich auszutoben und zu besänftigen. Denn eben kommt eine alte maurische Dienerin in den Saal – auch an ihr haften cyprische Erinnerungen: Giuliano erkennt sie, die Zeugin seiner ersten Begegnung mit Contessina Violetta und den Mädchen. Jene alte maurische Dienerin ist es, welche den Eßkorb an den Strand von Paphos hinabtrug, als die badenden Mädchen die Leiche des ertrunkenen Norfolk und ihn, den Geretteten, entdeckten.
Nach Art der Mohammedanerinnen verneigt sich die Alte vor der Fürstin und meldet, sie sei von der Ärztin geschickt, Messer Giuliano ans Bett der Marchesa zu rufen.
Sogleich will Giuliano sich erheben; Lodovica läßt es nicht zu.
»Die gelben Trauben, die ich dir auf den Teller gelegt habe, hast du noch nicht gekostet, Giuliano. Behalte bitte deinen Platz und deine Ruhe!«
Und zur Alten gewendet, sagt sie:
»Wir werden bald kommen. Geh nur. So dringend ist es ja wohl nicht.«
Doch die Alte macht keine Anstalten, sich zu entfernen; mit zittriger Stimme ruft sie:
»Es geht zu Ende, Principessa Illustrissima! Die Ärztin läßt sagen: Wenn Messer Giuliano die Marchesa lebend antreffen wolle, müsse er sehr eilen!«
Lodovica und Giuliano verlassen nun geschwind den Saal. Während sie vorauseilt, ihm den Weg zu zeigen, blickt sie sich nach ihm um; ein spöttisch bitteres Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, sie murmelt:
»Der Tod ist ein schlechter Zeremonienmeister, er fragt nicht nach der Speisenfolge, hebt zur Unzeit eine Festtafel auf ...«
Kaltblütig entgegnet ihr Giuliano:
»Nur die Würmer stört er nie beim Festmahl, Principessa!«
Im stillen aber denkt er: Am Tage meiner Ankunft? ... Kann das ein Zufall sein? ... Ist sie etwa eine bessere Zeremonienmeisterin als der Tod? Hat sie etwa nachgeholfen? Etwa den Tod eingeladen für diese Stunde? ...
Und jetzt betreten sie das Krankenzimmer, atmen die dumpfe, nach Spezereien und Medikamenten riechende Luft des mondhaftmatt durch ein Nachtlicht erhellten Raumes. An der Türschwelle kommt ihnen die Ärztin flüsternd entgegen; Sie ist eine nicht mehr junge, wohl schon fünfzig Jahre alte Signora; knochig ihr Körperbau, ergraut ihr Haar; der charaktervolle kluge Kopf ruht auf einem länglichen Halse, – und das verleiht ihr eine entfernte Ähnlichkeit mit Isotta, so daß Giuliano im ersten Augenblick glaubt, die Marchesa habe sich vom Krankenlager erhoben, es sei die Sterbende oder ihr abgeschiedener Geist, den er vor sich sehe. Gleich darauf freilich wird er seines Irrtums inne, indem er aus der Tiefe des schummerigen Zimmers – aus dem Kissenberg eines purpurprangenden Bettes – zwei glühende Augen auf sich gerichtet fühlt. Zwei Augen, darinnen grüne Lichter aufblinken wie in den Augen von Tigern oder Wölfen. Ja, das ist sie, deren Haßliebe Schuld daran trug, daß er zum Totschläger an der armen Violetta wurde. Das ist sie, die ihn in den Gorillabalg einzwängte, als sie den teuflischen Vorsatz gefaßt hatte, Violetta in das Gehege der Aussätzigen einzuliefern.
Doch er will ihr Richter nicht sein, die ja bald vor ihrem höchsten Richter stehn wird ... »Junger Arzt« hatte sie liebend und hassend ihn einst angeredet; er war in seiner Eigenschaft als Arzt nachts zu ihr gerufen worden, als sie edelsteinbesät ihn hatte verführen wollen. Heute ist er wieder an ihr Bett gerufen; doch all seine ärztliche Wissenschaft verhilft ihm nicht zur Beantwortung der Frage, die sein Mißtrauen gegen die Bräuche des unheimlichen Schlosses ihm eingibt: Wurde ihr Sterben beschleunigt? ... Denn weil er Arzt ist, weiß er, daß ihr nur noch wenige Augenblicke geblieben sind.
Lodovica redet die Sterbende an.
»Marchesa, erkennt Ihr Messer Giuliano?«
Obgleich Isotta bis hinauf zum Rumpf leblos wie ein Stein ist, vermag sie ihren Hals ein klein wenig zu strecken. Mit einem kaum merklichen Kopfnicken bejaht sie die Frage.
»Marchesa«, fährt Lodovica fort, »bestätigt ihm, was Ihr nur über seine Herkunft sagtet. Bestätigt ihm, daß er – – –«
Noch ehe Lodovica den Satz vollenden kann, sinkt der Kopf Isottas rückwärts in die Kissen. Das Brennen ihrer Blicke erlischt, ihre Augen verglasen.
»Wir kamen zu spät!« raunt Lodovica ärgerlich. Dann aber kniet sie mit Giuliano neben dem Totenbette hin, wie es die christliche Sitte vorschreibt. Und während sie beten, kommen die acht nackten Mädchen herein, knien weinend und beten mit ihnen.
In seiner winzigen Schlafkammer wacht Giuliano – seit Stunden wohl schon. Oder ist kein Verlaß aufs Zeitgefühl, wenn das Blut, sich überhastend, in Herz und Schläfen hämmert? Keine Turmuhr kündet in der Rocca die Stunden der Nacht. Der Mond allerdings ist auf dem Zifferblatt des Himmels ein ganzes Stück schon fortgewandert, seit er vorhin in den Zweigen der Platane hing wie ein riesiger Apfel ...
Die alte maurische Dienerin hatte Giuliano zu seinem Schlafgemach hingeleuchtet. Vergeblich war er bemüht gewesen, sie auszuhorchen. Stockstumm hatte sie mit dem Zeigefinger ihren Greisinnenmund berührt, zum Zeichen, daß ihr zu sprechen verboten sei.
Allein geblieben begriff er, daß er Schlummer in dieser Nacht nicht finden würde. Statt sich auszuziehn und ins Bett sich zu legen, setzt er sich in einen Armstuhl – nachdenkend und grübelnd und von den seltsamsten Bildern (Abbildern seiner heutigen Begegnisse) heimgesucht, gleichsam als säße er, ein Zuschauer, vor einem Guckkasten. Den Arm auf die Stuhllehne und den Kopf auf den Arm gestützt, ruft er das Erlebte sich ins Gedächtnis zurück, ohne für die Wunder eine stichhaltige Erklärung zu haben und ohne die Absichten Lodovicas recht ergründen zu können. So viel ist ihm klar, daß sie die selbstlose Helferin, als die sie ihm während des Karnevals erschien, gewiß nicht ist. Ihr Amazonentum hatte wohl damals Eindruck auf ihn machen können; – heute nicht mehr. Auf der Hut sein muß er vor der Beschützerin, die dem Katzengeschlecht angehört und ihn wie eine Tigerin oder löwenleibige Sphinx mit grausamen Krallen gepackt hält. Das eine hat ihn ihre Gastfreundschaft gelehrt: daß die Rocca ein verwunschenes Schloß ist und daß ihm noch mehr Wunder bevorstehn. Vielleicht noch in dieser Nacht ... Es sei denn, daß alles, was er tagsüber geschaut, ein Fiebertraum war.
Ein leises Geräusch schreckt ihn auf. Es war, wie wenn Gartenkies knirschte unter leichtfüßigen Schritten von Rehen. Er tritt ans offene Fenster, blickt in den Schloßgarten hinaus. Träumt er schon wieder? Jasminweiße Leiber blinken überschneit vom Mondglanz, acht hüllenlose Mädchen schreiten geisterhaft dort über den Rasen und entschwinden hinter den Stämmen der alten Zypressen und Eichen.
Eine unbezwingliche Sehnsucht erfaßt Giuliano, ihnen nachzueilen, sie anzureden, alle die Rätsel sich von ihnen deuten zu lassen. Seine Liebe zur toten Violetta ist ja ein geheimnisvolles Band, das ihn auch an diese unglücklichen Mädchen – ihre Freundinnen – bindet. Wer weiß, sie bedürfen vielleicht seiner Hilfe, versklavte, verwaiste, armselige Geschöpfe, die sie sind! ... Sie und er werden vielleicht sich gegenseitig beistehn können. Wer weiß auch, ob sich jemals wieder eine Gelegenheit bieten wird, sie allein zu sprechen; – denn die Fürstin (das hat er deutlich gesehn) war nicht unter ihnen.
Da seine Kammer zu ebener Erde gelegen ist, steigt er in den Park und geht den Mädchen nach. Er gelangt an einen mit Wasserrosen bewachsenen Teich. Gespenstisch, wie vorhin ihr Schreiten über den Rasen war, ist jetzt das geräuschlose Baden der Mädchen. Sie reden nicht miteinander, keine Freudenrufe stoßen sie aus und tauchen nicht freudezitternd in die nachtkühlen Wellen. Kaum daß man sie plätschern hört. Schwermutsvoll vor sich hin starrend, sind die einen am Uferschilf gelagert, die andern stehn bis zu den Schenkeln im Teich; mit der hohlen Hand Wasser schöpfend, übergießen sie sich die Nacken und die Brüste. Demantenhaft glitzern im Mondlicht die Tropfen.
Hinter einem Gebüsch verborgen, beobachtet Giuliano ihr wehmütiges Gehaben. Jetzt tritt er ans Ufer heran und sagt:
»Erschreckt nicht, fanciulette, – ich muß euch doch begrüßen; und hier darf ich es endlich, – wir sind ja hier allein!«
Doch kein Jubel schallt ihm entgegen. Die Mädchen sind erstarrt vor Schreck. Raffaela, die im Teich gestanden, watet ans Ufer und redet ihn finster an:
»Messer Giuliano, Ihr brachtet Donna Violetta den Tod; – wollt Ihr auch uns den Tod bringen? Und Euch selbst?«
»Außer dem Mond, Signorina, sieht und hört uns doch kein Späher hier. Beantwortet mir wenigstens die eine Frage: dient ihr freiwillig der tollen Fürstin?«
»Im Namen der Jungfrau Maria, Signore, sprecht nicht mit uns! Geht! Verlaßt uns!«
»Ich gehe gleich, Signorina! ... Nur das eine sagt mir noch: Was ist die Rocca? Wo befinden wir uns? In einem Traumland? In einem Zauberschloß? Oder – in einem Freudenhaus?«
Raffaela schweigt. Doch eins der Mädchen murmelt:
»In einer Räuberhöhle!«
Es ist Giuliano, als habe er Nellas Stimme erkannt.
In diesem Augenblick ertönt lautes Hundegebell. Mit großen Schritten naht Lodovica dem Schilfufer. An einer Kette führt sie eine mächtige Dogge, – oder vielmehr: sie läßt sich vom rasenden Tier führen, schleppen, zerren und ist gezwungen, streckenweise zu laufen, will sie vom Hunde nicht umgerissen werden.
Erhitzt, rot vor Wut bleibt Lodovica vor Giuliano und Raffaela stehn und schreit sie an:
»Ihr habt gesprochen! Weh Euch ...!«
Die Dogge mit der linken Hand haltend, erhebt Lodovica mit der Rechten eine Hundepeitsche, um Giuliano ins Gesicht zu schlagen. Doch im selben Moment springt die Dogge auf Giuliano zu, kann ihn aber, behindert durch die Kette, nicht beißen. Die Fürstin reißt den Hund zurück und peitscht ihn unmenschlich über die Schnauze. Da wirft sich der Hund auf seine Herrin, zerfleischt ihr den Unterarm und schnappt nach ihrem Gesicht.
Um ihre Schönheit wäre es geschehn gewesen, hätte nicht Giuliano mit seinen beiden Händen den Hals der Dogge umklammert, mit so eisernem Griff umklammert, daß, aller Verzweiflungssprünge ungeachtet, das gewürgte, am Atmen gehemmte Tier nicht freikommt. Blitzschnell reißt die Fürstin aus ihrem Gürtel einen Dolch und stößt ihn der Dogge ins Herz.
»Du hast mir mehr als mein Leben, du hast mir mein Gesicht gerettet, Guliano! Darum sei dir diesmal verziehn ... Begleite mich – du bist ja ein Arzt –, du sollst mir diese blutenden Fleischfetzen verbinden und Balsam darauf träufeln! ... Sie schmerzen, Giuliano ...«