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Vierundachtzigstes Kapitel.
In der Umarmung des Todes

Es war ein Ereigniß, das vielleicht in jedem Decennium nur einmal vorkommt, daß man eines Abends, als die Sonne nahe daran war, sich hinter den Gipfeln der Blauen Berge hinabzusenken, einen Wagen den fast nie betretenen Pfad durch die Wilderneß fahren sah. Es war ein gewöhnlicher Reifewagen, wie ihn Handelsleute zu führen pflegen, vorn ein Sitz für zwei Personen und hinten ein offener, nur mit einer Leinwanddecke versehener Kasten, in welchem sie ihre Waaren haben.

Der Wagen wurde von zwei Pferden mit Mühe fortgeschleppt, da die Räder tief in den von Gras und Rasen nur wenig bedeckten Sand einschnitten und die Hitze des Tages die Kräfte der Thiere erschöpft hatte. Geführt wurde der Wagen von einem gigantischen Mann, mit dichtem, braunem Bart, struppigem Haar und ziemlich gemeinem Aussehen. Neben ihm auf dem Sitz hatte ein junger Mann Platz genommen von schönen, regelmäßigen, feinen Gesichtszügen. Sowohl in feinem ausdrucksvollen, intelligenten Gesichte, als in seiner gewählten Kleidung fand man Beweis genug, daß er den vornehmeren Ständen angehörte. Unter seinem halb zurückgeschlagenen Staubmantel von Nankin sah man eine Uniform hervorblicken.

Der Wagen bewegte sich nur langsam vorwärts, und zwar befand er sich in dem Momente, da wir uns den Reisenden nähern, in der Gegend, wo früher die Schanzen der Rebellen gestanden hatten. Es ist ein weites Blachfeld, nur hin und wieder von Gestrüpp unterbrochen, der Boden zerstampft und aufgelockert, und der Sand heiß von der glühenden Nachmittagssonne, welche selbst jetzt in den Abendstunden noch so heiß brannte, daß es zweifelhaft war, ob das Gefährte noch die nächste Stadt erreichen würde.

Der Mann im Staubmantel sprach diesen Zweifel gegen den Führer des Wagens aus.

»Ich glaube doch, daß Sie besser gethan hätten, Mr. M'Farlane, wenn Sie den Weg nicht durch die Wilderneß genommen hätten, sondern lieber ein paar Meilen südwärts gebogen wären, selbst auf die Gefahr hin, daß wir heute nicht mehr das Ziel unsrer Reise erreichen.«

»Geht nicht,« antwortete der Andere mürrisch und mit einem Accent, der, selbst wenn der Name seine Herkunft noch zweifelhaft gelassen hätte, doch deutlich den Irländer kennzeichnete. »Ich sage Ihnen, Mr. Brocklyn, ich weiß, daß man weder nach Spottsylvania, noch nach Old-Church auf irgend einem Wege gelangen kann, als durch die Wilderneß. Denn nördlich und südlich ist die ganze Gegend von Grant's Truppen besetzt. Hier ist der einzige Punkt, auf dem die Unionstruppen nicht mehr zu finden sind, und auf welchen sie schwerlich wieder kommen, da sie hier an Dürre und Hitze schlimmere Feinde haben, als an den Scharfschützen Lee's.«

»Aber sehen Sie nur Ihre Pferde an, sie keuchen und sind mit Schweiß bedeckt. Glauben Sie denn, daß sie noch die Strecke bis Old-Church aushalten werden?«

»Nun, wenn wir den ganzen Tag auf solchem Wege gefahren wären, wie wir ihn jetzt haben, so würden sie wahrscheinlich nicht mehr auf ihren Beinen stehen können. Allein da wir nicht die ganze Wilderneß durchfahren sind, sondern erst vor sechs Stunden diesen verteufelten Sandweg einschlugen, so denke ich, sie werden es aushalten bis Old-Church.«

»Wie weit schätzen Sie es bis dahin noch?«

»Ich denke acht bis zehn Meilen.«

»Acht bis zehn Meilen – das wären also noch zwei bis drei Stunden. Wahrlich, ich ertrage es kaum noch, ohne irgend einen Schatten in dieser Hitze den Weg fortzusetzen Werden Sie nicht ein wenig nördlich biegen? Dort scheint mir das Tannengesträuch höher und der Weg besser, also für uns, wie für die Pferde, gleich angenehm.«

»Ich bin eben im Begriff, dorthin zu biegen und dieses Terrain, das in der Schlacht von den Pferden so zerstampft ist, dass der Rasen nicht mehr hält, zu verlassen.«

»Also bis hierher hat sich die Schlacht bei den Schanzen erstreckt?« fragte Brocklyn.

»Bis hierher,« antwortete sein Gefährte. »Indessen sind Vorpostengefechte auch dort zwischen jenen Gebüschen gefochten worden, was ein sehr schlimmes Ding für die Verwundeten gewesen ist; denn man soll nur die Hälfte der Verwundeten ausgefunden haben; die übrigen armen Teufel werden aller Wahrscheinlichkeit nach noch dort liegen, natürlich nicht mehr lebendig, sondern verschmachtet oder an Verblutung ihrer Wunden gestorben.«

Der Weg, welchen M'Farlane jetzt einschlug, war in der That angenehmer, als der über das Schlachtfeld. Denn man traf nicht, wie dort, bloß Nadelgestrüpp, sondern hin und wieder einen saftig belaubten Strauch, die Hitze des Tages nahm allmählich ab, sodaß Brocklyn nach einer Weite aufathmend die Unterhaltung wieder aufnahm.

»Sie wissen also ganz genau, Mr. M'Farlane, daß sich mein Vater in Old-Church aufhält?«

»Ich weiß es genau, Sir. Er hat dort eine schöne Besitzung gekauft. Ich kenne die Besitzung und den Vorgänger Ihres Vaters auf derselben ganz genau, verlassen Sie sich darauf.«

»Welcher Art ist die Besitzung?«

»Nun, es ist so eine Art Factorei, und es sind außer dem Wohnhause große Speicher vorhanden und andere Räume für lagernde Waaren. Der Vorgänger Ihres Herrn Vaters ist darauf zum reichen Manne geworden, natürlich hat er die Besitzung auch theuer genug verkauft. Was schadet das aber? Ihr Papa ist ein reicher Mann und hat eine hübsche Summe Dollars mit aus New-York gebracht, als er damals seinen Compagnon im Stiche ließ.«

Die Wendung des Gespräches verdroß Mr. Brocklyn offenbar, er brach deshalb ab und sagte:

»Sprechen Sie nicht davon, die Geschichte ist mir bekannt.«

Der Irländer indessen schien sich ein Vergnügen daraus zu machen, diese empfindliche Seite seines Gefährten zu berühren.

»Ich möchte nur wissen,« sagte er, »ob, Mr. Brocklyn, Ihr Vater, wohl zuweilen daran denkt, daß sein ehemaliger Compagnon, Charles Powel, Hungerpfoten gesogen hat und nachher mit seiner Familie ins Gefängniß gewandert ist.«

»Er weiß es nicht, seien Sie überzeugt,« sagte Kapitän Brocklyn. »Wüßte er es, so würde er nicht anstehen, seinem ehemaligen Compagnon zu helfen.«

»Ah Bah! Das würde er bleiben lassen, Mr. Brocklyn. Ich kenne das besser; Unsereiner würde es ebenso machen. Man betrügt den Compagnon um sein Geld, wandert aus nach dem Süden und kümmert sich den Teufel darum, was aus dem Betrogenen wird.«

Brocklyn schwieg nachdenkend eine Weile. Dann murmelte er für sich, indem er einen Seufzer ausstieß: »Wollte Gott, es gelänge mir, den Vater zu bestimmen, daß er sein Unrecht gut macht, so viel jetzt noch daran gut zu machen ist!« –

Die Unterredung stockte jetzt eine Weile; denn Brocklyn war nicht aufgelegt, sich mit seinem Reisegefährten weiter über dies Thema zu unterhalten. M'Farlane unterbrach das Schweigen, indem er seinen Nachbar anstieß und zu ihm sagte:

»Sehen Sie, hatte ich nicht Recht, daß hier die armen Kerle noch hundertweise umherliegen und faulen, ohne daß Einer eine Ahnung davon hat, wo ihre letzten Ueberreste zu suchen sind? Wenn Sie genau zusehen, werden Sie bemerken, daß fast hinter jedem Strauche die Leiche eines Menschen liegt. Natürlich haben sich die Verwundeten, die sich fortschleppen konnten, diesen Platz ausgesucht und zwar zu ihrem Unglück. Denn wenn sie zufällig ohnmächtig waren, als die Compagnien in der Nacht das Schlachtfeld nach Verwundeten durchsuchten, und sich nicht melden konnten, so blieben sie ganz einfach liegen; denn am andern Tage hatte man nicht Zeit, zum zweiten Male eine Nachsuchung anzustellen.«

Der Eindruck, welchen dieser Anblick auf den jungen Mann machte, war dermaßen erschütternd, daß er gewaltsame Anstrengungen machte, sich davon zu befreien; und als ihm dies nicht gelingen wollte, da er, selbst wenn er seinen Betrachtungen eine andere Richtung gab, immer wieder durch den Anblick einer Leiche darauf zurückgeführt wurde, so ersuchte er den Führer des Wagens, von Neuem eine andere Richtung einzuschlagen.

Es war der Abend jetzt vollends hereingebrochen, und es war füglich nicht mehr so nothwendig, einen kühlen Weg aufzusuchen. Indessen ersuchte er ihn doch, an der Lisière eines kleinen Gehölzes, das in der Nähe lag und aus niedrigen Bäumen und dicht belaubtem Strauchwerk bestand, entlang zu fahren.

M'Farlane leistete seiner Bitte Gehör und schlug jene Richtung ein. Schweigend fuhren sie wieder eine Weile weiter, als Brocklyn äußerte:

»Welch ein unheimlicher Ort! Kein lebendiges Wesen hier, als die wilden Thiere, welche durch den Geruch modernder Leichen herbeigelockt werden. Wie schrecklich das Schicksal dieser Helden, die für ihr Vaterland hier den Tod fanden, und von deren Schicksal kein Verwandter, kein Freund etwas je erfahren wird ...«

Plötzlich unterbrach er sich.

»Hörten Sie nicht etwas?«

»Ich hörte Nichts,« antwortete M'Farlane. »An diesem Orte giebt es ja eben nichts Lebendiges, das einen Laut von sich gäbe.«

»Und doch,« antwortete Brocklyn, »glaube ich überzeugt zu sein, daß ich den schwachen Hilferuf eines Menschen hörte.«

»Sie werden sich getäuscht haben Mr. Brocklyn, denn seit dem letzten Kampfe, der vor fünf Tagen hier stattfand, ist kein Mensch in diese Gegend gekommen, davon können Sie sich überzeugt halten, und die Verwundeten, welche vier Tage lang gehungert haben und in der Hitze vertrocknet sind, werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr um Hilfe rufen.«

»Da! – soeben hörte ich es wieder,« rief Brocklyn. »Ganz deutlich. Halten Sie inne, ich bitte Sie, lassen Sie uns lauschen, von woher die Stimme kam.«

»Nun, meinetwegen,« brummte M'Farlane. »Indessen sage ich Ihnen, daß, wenn wirklich wunderbarer Weise Einer von denen hier noch am Leben sein sollte, es uns nichts nützen würde, ihm zu Hilfe zu kommen, denn Lebensmittel haben wir nicht, und mitnehmen können wir ihn auch nicht. Wo sollten wir ihn auch hinbringen? In Old-Church würde sich schwerlich Jemand dazu verstehen, einen verwundeten Yankeesoldaten bei sich aufzunehmen.«

»Es ist unsere Pflicht zu helfen,« entgegnete Brocklyn, vom Wagen springend. »Ich habe einen Hilferuf gehört, gleichviel ob er von einem Yankee kam oder von einem Grünrock; er kam von einem Unglücklichen, und das muß uns genug sein.«

»So tragen Sie ihn meinetwegen bis Old-Church,« versetzte M'Farlane. »Meine Pferde haben Last genug und können kaum uns dahin bringen, geschweige noch einen Dritten·

Brocklyn hörte ihn nicht mehr, sondern war bereits im Gehölz verschwunden; denn der Hilferuf war, wie vorher, ertönt, nur noch matter.

Brocklyn folgte der Richtung der Stimme, die ihn in die Nähe eines mächtigen Caprifolienstrauches führte.

Welch ein erschütternder Anblick bot sich ihm dar! Am Boden saß ein, mit der Uniform eines Stabsoffiziers der Unionsarmee bekleideter, junger Mann, die Schulter mit Tüchern umwickelt und die Kleider mit Blut besudelt. Ihm zur Seite lag, halb auf seinem entkräfteten Arm ruhend, die Leiche eines Mädchens.

Unwillkürlich trat dem jungen Manne eine Thräne in sein Auge. Diese Unglückliche, sie konnte eben erst gestorben sein. Denn noch lag die Leiche nicht starr und steif, sondern bei der Bewegung, welche der verwundete Jüngling machte, zeigte es sich, daß sie noch weich und biegsam war.

Diese Leiche mit den aufgelösten, zerrissenen Gewändern, mit dem fliegenden, rabenschwarzen Haar, welches weit auf den Rasen hinwallte, das edle jugendliche, erloschene Antlitz mit dem schmerzhaft verzogenen und doch so schönen Munde, diese schöne Gestalt mit unverhülltem, todeskeuschem Marmorbusen, auf welchem die eine Hand ruhte, um welche am Handgelenk ein Tuch befestigt war, dieses junge rührende Todtenbild, welches plötzlich dem jungen Mann so furchtbar und doch wieder so schön entgegentrat, machte auf .ihn den tiefsten Eindruck. Nicht im Stande, ein Wort hervorzubringen, stand er da und betrachtete die Gruppe.«

»Helfen Sie,« flehte der Offizier, »helfen Sie ihr, sie stirbt.«

Brocklyn antwortete nicht und regte sich nicht.

»Lassen Sie mich verschmachten,« fuhr jener fort. Wenn Sie ein Feind sind, überlassen Sie mich meinem Geschick, aber retten Sie sie, die ihr Leben für mich zum Opfer brachte., Haben Sie Erbarmen mit ihr. Mein letztes Gebet, ehe ich sterbe, soll für Sie, ihren Retter zum Himmel steigen, und Gott wird Ihnen vergelten, was Sie dieser Unglücklichen thun.«

»Ist sie nicht todt?« stotterte endlich Brocklyn.

»Ich glaube, nein,« war die Antwort.

»M'Farlane!« rief Brocklyn mit lauter Stimme, »herbei, helfen Sie!«

M'Farlane war ihm bereits nachgegangen und nur wenig Schritte entfernt.

»Helfen Sie mir die beiden Unglücklichen auf den Wagen bringen«

»Nun gar Zwei, das fehlte noch.«

»Gleichviel, ich gehe zu Fuß, bringen Sie sie auf den Wagen. Ich werde Sie zu entschädigen wissen; fürchten Sie nicht, daß der Zeitverlust Ihrem Handel Schaden bringt.«

Die Aussicht aus einen Geldgewinn macht einen Irländer zu jedem Verbrechen bereitwillig und auch wohl hin und wieder zu einer guten That. Der Geldgewinn hatte M'Farlane bestimmt, an der Pöbelmeute zu New-York sich zu betheiligen, und die Beute, welche er für seine Person dort gemacht hatte, das waren eben die Waaren, welche er auf seinem Wagen mit sich führte, und welche er im Süden zu verkaufen in Begriff war, da er in den Staaten der Union nicht wagen durfte, mit diesen Waaren zum Vorschein zu kommen.

Die Aussicht auf Geldgewinn ließ ihn auch bereitwillig finden, die beiden Unglücklichen aufzunehmen, wobei er natürlich sich der Unbequemlichkeit unterziehen mußte, zu Fuß neben dem Wagen zu gehen, während Brocklyn auf dem Wagen bei den beiden Ohnmächtigen blieb, um ihnen ihre Lage so bequem als möglich zu machen und ihnen eine etwa nöthige Dienstleistung zu gewähren.

Die Sonne war längst untergegangen, als das Fuhrwerk Old-Church erreichte. M'Farlane kannte in der That die Besitzung des Kaufmanns Brocklyn genau; denn ohne erst zu fragen oder zweifelhaft zu sein, bog er in eine der Hauptstraßen ein, an deren einem Ende sich die Besitzung Mr. Brocklyn's befand: ein großes Haus, von welchem aus sich zu beiden Seiten mächtige Speichergebäude und Wirthschaftsgebäude erstreckten, und vor welchen ein geräumiger, gepflasterter Hof reinlich und sauber sich ausbreitete. In der Mitte desselben ging ein chaussirter Weg, mit Bäumen bepflanzt, gerade auf die Thür des Wohnhauses zu.

In diese Allee bog M'Farlane ein. Er hielt bald vor der Rampe des Hauses.

»Was giebts da?« fragte der Portier des Hauses, der auf dies wenig respectable Fuhrwerk ziemlich verächtlich voll der Rampe herabsah.

»Es giebt zwei Verwundete aufzunehmen,« antwortete Brocklyn.

»Zwei Verwundete? Doch nicht Yankees?«

»Kümmere Dich nicht darum Freund,« antwortete Brocklyn in gebieterischem Tone. »Sorge dafür, daß sie sofort in zwei Zimmer untergebracht und ein Arzt bestellt werde, und sagen Sie Mr. Brocklyn, daß sein Sohn ihn dringend zu sprechen wünsche.«

»Ach! Sie sind der junge Capitän Brocklyn,« antwortete der Portier, mit einem Male seinen hochmüthigen und groben Ton herabstimmend, »das wußte ich nicht. O, natürlich, Mr. Brocklyn, Ihr Herr Vater wird sich unendlich freuen, Sie wiederzusehen. Ich bitte Sie, begeben Sie sich ohne Weiteres in das Empfangszimmer, und lassen Sie sich anmelden. Ihr Herr Vater sowohl, wie Ihre beiden Fräulein Schwestern sind dort. Ich werde nach besten Kräften für die beiden Verwundeten sorgen.« –


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