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11.
Es ist immer noch Mittwoch

Die Gesch hatte es doch nicht über sich gebracht, den kleinen Mann auf ihrem Sofa nach einer Stunde zu wecken. Er sah so bemitleidenswert aus, wie er dalag in seinem Erschöpfungsschlaf, die Flecke auf seinem Gesicht fingen jetzt an, rotblau anzulaufen.

Er hatte die Unterlippe vorgeschoben wie ein trauriges Kind, und manchmal zitterten seine Lider, und seine Brust hob sich in einem schweren Seufzer, als wolle er gleich jetzt in seinem Schlaf losweinen.

Als sie ihr Mittagessen fertig hatte, weckte sie ihn und gab ihm zu essen. Er murmelte etwas wie einen Dank. Er aß wie ein Wolf und warf dabei Blicke auf sie, aber er sprach mit keinem Wort von dem, was geschehen war.

Schließlich sagte sie: »So, mehr kann ich Ihnen nicht geben, sonst bleibt für Gustav nicht genug. Legen Sie sich nur auf das Sofa und schlafen Sie noch ein bißchen. Ich werde dann selbst mit Ihrer Frau ...«

Er murmelte wieder etwas, unkenntlich, ob Zustimmung oder Ablehnung. Aber er ging willig zum Sofa, und eine Minute später war er wieder fest eingeschlafen.

Als am späten Nachmittag Frau Gesch die Flurtür der Nachbarin gehen hörte, schlich sie leise hinüber und klopfte. Eva Kluge öffnete sofort, aber sie stellte sich so in die Tür, daß sie den Eintritt verwehrte. »Nun?« fragte sie feindlich.

»Entschuldigen Sie, Frau Kluge«, fing die Gesch an, »wenn ich Sie noch mal störe. Aber Ihr Mann liegt drüben bei mir. So 'n Bulle von der SS hat ihn heute früh angeschleppt, Sie können kaum weg gewesen sein.«

Eva Kluge verharrte in ihrem feindlichen Schweigen, und die Gesch fuhr fort: »Sie haben ihn ganz schön zugerichtet, da ist kein Fleck an ihm, der nich was abgekriegt hat. Ihr Mann mag sein, wie er will, aber so können Sie ihn nicht vor die Tür setzen. Sehen Sie ihn sich bloß mal an, Frau Kluge!«

Sie sagte unbeugsam: »Ich habe keinen Mann mehr, Frau Gesch. Ich hab's Ihnen gesagt, ich will nichts mehr davon hören.«

Und sie wollte in ihre Wohnung zurück. Die Gesch sagte eifrig: »Seien Sie nicht so eilig, Frau Kluge. Schließlich ist es Ihr Mann. Sie haben Kinder mit ihm gehabt ...«

»Darauf bin ich besonders stolz, Frau Gesch, darauf besonders!«

»Man kann auch unmenschlich sein, Frau Kluge, und was Sie tun wollen, das ist unmenschlich. So kann der Mann nicht auf die Straße.«

»Und war das, was er mit mir all die Jahre getan hat, etwa menschlich? Er hat mich gequält, er hat mir mein ganzes Leben kaputtgemacht, schließlich hat er mir noch meinen Lieblingsjungen weggenommen – und zu so einem soll ich menschlich sein, bloß weil er Dresche von der SS bekommen hat? Ich denke gar nicht daran! Den ändern auch noch so viele Schläge nicht!«

Nach diesen heftig und böse ausgestoßenen Worten zog Frau Kluge der Gesch einfach die Tür vor der Nase zu und schnitt ihr so jedes weitere Wort ab. Sie war einfach nicht fähig, noch weiteres Gerede auszuhalten. Bloß um allem Gerede zu entgehen, hätte sie den Mann womöglich doch noch wieder in die Wohnung aufgenommen und es immer und ewig bereut!

Sie setzte sich auf einen Küchenstuhl, starrte in die bläuliche Gasflamme und dachte an diesen Tag zurück. Seit sie dem Vorsteher des Amtes eröffnet hatte, sie wolle aus der Partei austreten und das sofort, hatte es viel Gerede gegeben. Er hatte sie zunächst von ihrem Bestellgang befreit. Aber heute war sie vernommen worden. Gegen Mittag waren zwei Zivilisten mit Aktentaschen aufgetaucht und hatten sie befragt. Ihr ganzes Leben sollte sie erzählen, von den Eltern, den Geschwistern, ihrer Ehe ...

Erst war sie ganz bereitwillig gewesen, froh, dem endlosen Gefrage über die Gründe ihres Austritts zu entgehen. Aber dann, schon als sie von ihrer Ehe berichten sollte, war sie wieder bockbeinig geworden. Nach der Ehe würden die Kinder drankommen und sie würde nicht von Karlemann erzählen können, ohne daß diese gewitzten Füchse merkten, daß da etwas nicht stimmte.

Nein, auch darüber sagte sie nichts aus. Ihre Ehe und ihre Kinder gingen niemanden etwas an.

Aber diese Leute waren zähe. Sie wußten viele Wege. Der eine griff in seine Aktentasche und fing an, in einem Aktenstück zu lesen. Sie hätte gerne gewußt, was er da las: Es konnte doch über sie nicht solch ein Aktenstück bei der Kriminalpolizei geben, denn daß diese Zivilisten irgendwas Polizeiliches waren, das hatte sie unterdes doch gemerkt.

Dann fingen sie wieder an zu fragen, und nun erwies es sich, daß in dem Aktenstück etwas über Enno stehen mußte. Denn nun wurde sie über seine Krankheiten, seine Arbeitsscheu, seine Wettleidenschaft und über seine Weiber ausgefragt. Es fing wieder ganz harmlos an, dann plötzlich sah sie die Gefahr, schloß fest den Mund und sagte nichts mehr. Nein, auch das war privat. Es ging keinen was an. Was sie mit ihrem Mann hatte, das war ihre Sache allein. Übrigens lebte sie getrennt von dem Manne.

Da war sie wieder erwischt. Seit wann sie getrennt von ihm lebe? Wann hatte sie ihn zum letzten Male gesehen? Hing ihr Wunsch nach Austritt aus der Partei etwa mit dem Manne zusammen?

Sie schüttelte nur den Kopf. Aber sie dachte mit Schaudern daran, daß sie sich wahrscheinlich nun den Enno vornehmen würden, und aus dem schlappen Kerl würden sie in einer halben Stunde alles ausgequetscht haben! Dann stand sie mit ihrer Schande, von der bisher sie allein wußte, vor allen nackt und bloß da.

»Privat! Rein privat!«

Die Briefträgerin, die in Gedanken verloren das Zittern und Beben des blauen Gasflämmchens beobachtet hat, fährt zusammen. Sie hat vorhin einen schweren Fehler begangen, sie brauchte dem Enno nur für ein paar Wochen Geld zu geben und die Weisung, sich bei einer seiner Freundinnen zu verstecken.

Sie klingelt bei der Gesch. »Hören Sie, Frau Gesch, ich habe es mir noch mal überlegt, ich möchte wenigstens ein paar Worte mit meinem Manne sprechen!«

Jetzt, wo die andere ihr den Willen tut, wird die Gesch böse. »Das hätten Sie sich eher überlegen müssen. Jetzt ist Ihr Mann fort, schon gute zwanzig Minuten. Nun kommen Sie zu spät!«

»Wo ist er denn hin, Frau Gesch?«

»Wie soll ich das denn wissen? Wo Sie ihn rausgeschmissen haben! Bei eine von seinen Weibern wohl!«

»Wissen Sie nicht, zu welcher? Bitte, sagen Sie es doch, Frau Gesch! Es ist wirklich sehr wichtig.«

»Auf einmal!« Und widerwillig setzt die Gesch hinzu: »Er hat was von 'ner Tutti gesagt ...«

»Tutti?« fragt sie. »Das soll doch Trude, Gertrud bedeuten ... Wissen Sie den andern Namen nicht, Frau Gesch?«

»Er hat ihn ja selber nicht gewußt! Er hat nicht mal genau gewußt, wo sie wohnt, er hat bloß gedacht, er find't sie. Aber bei dem Zustand, in dem der Mann ist ...«

»Vielleicht kommt er noch mal wieder«, sagt Frau Kluge nachdenklich. »Dann schicken Sie ihn zu mir. Jedenfalls danke ich Ihnen schön, Frau Gesch. Guten Abend!«

Aber die Gesch grüßt nicht zurück, sie knallt bei sich die Tür zu. Sie hat noch nicht vergessen, wie die andere ihr vorhin die Tür vor der Nase zugemacht hat. Das ist noch lange nicht raus, daß sie den Mann schickt, wenn er wirklich noch mal hier auftaucht. So 'ne Frau soll sich zur rechten Zeit besinnen, nachher ist es manchmal zu spät.

Frau Kluge ist in ihre Küche zurückgekehrt. Es ist seltsam: Obwohl doch das Gespräch eben mit der Gesch ohne Ergebnis geblieben ist, hat es sie erleichtert. Die Dinge müssen eben ihren Lauf nehmen. Sie hat getan, was sie tun konnte, sich sauberzuhalten. Sie hat sich vom Vater wie vom Sohne losgesagt, sie wird sie austilgen aus ihrem Herzen. Sie hat ihren Austritt aus der Partei erklärt. Nun geschieht, was geschehen muß. Sie kann das nicht ändern, auch das Schlimmste kann sie nicht mehr sehr schrecken nach dem, was sie durchgemacht hat.

Es hat sie auch nicht sehr erschrecken können, als die beiden vernehmenden Zivilisten vom nutzlosen Fragen zum Drohen übergegangen sind. Sie wisse doch wohl, daß solch ein Austritt aus der Partei sie ihre Stellung bei der Post kosten könne? Und noch viel mehr: Wenn sie jetzt, unter Verweigerung von Gründen, aus der Partei austreten wolle, so sei sie politisch unzuverlässig, und für solche gebe es so etwas wie ein KZ! Sie habe doch wohl schon davon gehört? Da könne man politisch Unzuverlässige sehr rasch zuverlässig machen, fürs ganze Leben seien die zuverlässig. Sie verstehe doch!

Frau Kluge hatte keine Angst bekommen. Sie ist dabei geblieben, daß privat privat bleibt, und über Privates redet sie nicht. Schließlich hat man sie gehen lassen. Nein, ihr Austritt aus der Partei ist vorläufig nicht angenommen, sie wird noch darüber hören. Aber vom Postdienst ist sie suspendiert. Sie hat sich aber in ihrer Wohnung zur Verfügung zu halten ...

Während Eva Kluge den solange vergessenen Suppentopf endlich auf die Gasflamme rückt, beschließt sie plötzlich, auch in diesem Punkte nicht zu gehorchen. Sie wird nicht ewig tatenlos in der Wohnung sitzen und auf die Quälereien der Herren warten. Nein, sie wird morgen früh mit dem Sechs-Uhr-Zug zu ihrer Schwester bei Ruppin fahren. Da kann sie zwei, drei Wochen unangemeldet leben, die füttern sie schon so durch. Die haben da Kuh und Schweine und Kartoffelland. Sie wird arbeiten, im Stall und auf dem Felde arbeiten. Das wird ihr guttun, besser als diese Briefträgerei für ewig: trabtrab!

Ihre Bewegungen sind, seit dem Beschluß, aufs Land zu gehen, frischer geworden. Sie holt einen Handkoffer hervor und fängt an zu packen. Einen Augenblick überlegt sie, ob sie Frau Gesch wenigstens sagen soll, daß sie verreist ist, das Wohin braucht sie ihr ja nicht zu sagen. Aber sie beschließt: nein, sie will lieber nichts sagen. Alles, was sie nun tut, tut sie ganz für sich allein. Sie will keinen Menschen dareinziehen. Sie wird auch der Schwester und dem Schwager nichts sagen. Sie wird jetzt so allein leben wie noch nie. Immer war bisher jemand da, für den sie zu sorgen hatte: die Eltern, der Mann, die Kinder. Nun ist sie allein. Es scheint ihr im Augenblick sehr möglich, daß ihr dieses Alleinsein gut gefallen wird. Vielleicht wird, wenn sie ganz allein mit sich ist, noch etwas aus ihr, jetzt, wo sie endlich Zeit für sich selber hat, das eigene Ich nicht immer über all dem andern vergessen muß.

In dieser Nacht, die Frau Rosenthal mit ihrer Einsamkeit so ängstet, lächelt die Briefträgerin Kluge zum erstenmal wieder im Schlaf. Träumend sieht sie sich auf einem riesigen Kartoffelacker stehen, die Hacke in den Händen. So weit sie sieht, nur Kartoffelland, und sie dazwischen allein: Sie muß das Kartoffelland sauberhacken. Sie lächelt, sie hebt die Hacke, hell klingt ein getroffener Stein, ein Meldenstengel sinkt um, sie hackt weiter und weiter.


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