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61.
Die Hauptverhandlung: Präsident Feisler

Der Präsident des Volksgerichtshofs, der höchste Richter im deutschen Lande zu jener Zeit, Feisler, hatte das Aussehen eines gebildeten Mannes. Er war, nach der Terminologie des Werkmeisters Otto Quangel, ein feiner Herr. Er wußte seinen Talar mit Anstand zu tragen, und das Barett verlieh seinem Haupt Würde, saß nicht sinnlos angeklebt darauf wie auf vielen andern Köpfen. Die Augen waren klug, aber kalt. Er hatte eine hohe, schöne Stirn, aber der Mund war gemein, dieser Mund mit den harten, grausamen und doch wollüstigen Lippen verriet den Mann, einen Lüstling, der alle Genüsse dieser Welt gesucht hatte, und der stets andere dafür hatte zahlen lassen.

Und die Hände mit ihren langen knotigen Fingern waren gemein, Finger wie die Krallen eines Geiers – wenn er eine besonders verletzende Frage stellte, so krümmten sich diese Finger, als wühlten sie im Fleisch des Opfers. Und seine Art zu sprechen war gemein: dieser Mann konnte nie ruhig und sachlich sprechen, er hackte auf seine Opfer los, er beschimpfte sie, er sprach mit schneidender Ironie. Ein gemeiner Mensch, ein schlechter Mensch.

Seitdem Otto Quangel die Anklage zugestellt worden war, hatte er manches Mal mit Dr. Reichhardt, seinem Freunde, über diese Hauptverhandlung gesprochen. Auch der kluge Dr. Reichhardt war der Ansicht gewesen, da das Ende doch unabänderlich sei, solle Quangel von vornherein alles zugestehen, nichts vertuschen, nie lügen. Das würde diesen Leuten den Wind aus den Segeln nehmen, sie würden nicht lange mit ihm herumschimpfen können. Die Verhandlung würde dann nur kurz sein, man würde bestimmt auf eine Zeugenvernehmung verzichten.

Es war eine kleine Sensation, als beide Angeklagte auf die Frage des Vorsitzenden, ob sie sich im Sinne der Anklage schuldig bekennten, mit einem einfachen »Ja« antworteten. Denn mit diesem Ja hatten sie sich selbst das Todesurteil gesprochen und jede weitere Verhandlung unnötig gemacht.

Einen Augenblick stutzte auch der Präsident Feisler, überwältigt von diesem kaum je gehörten Geständnis.

Aber dann besann er sich. Er wollte seine Verhandlung haben. Er wollte diese beiden Arbeiter im Dreck sehen, er wollte sie sich winden sehen unter seinen messerscharfen Fragen. Dieses Ja auf die Frage Schuldig hatte Stolz gezeigt. Präsident Feisler sah es den Gesichtern im Zuhörerraum an, die teils verblüfft, teils nachdenklich aussahen, und er wollte den Angeklagten diesen Stolz nehmen. Sie sollten aus dieser Verhandlung ohne Stolz, ohne Würde hinausgehen.

Feisler fragte: »Sie sind sich klar darüber, daß Sie durch dieses Ja sich selbst das Leben abgesprochen haben, daß Sie sich selbst geschieden haben von allen anständigen Menschen? Daß Sie ein gemeiner, todeswürdiger Verbrecher sind, dessen Aas man am Halse aufhängen wird? Sie sind sich klar darüber? Antworten Sie mit Ja oder mit Nein!«

Quangel sagte langsam: »Ich bin schuldig, ich habe getan, was in der Anklage steht.«

Der Präsident hackte zu: »Sie sollen mit Ja oder Nein antworten! Sind Sie ein gemeiner Volksverräter oder sind Sie es nicht? Ja oder nein!«

Quangel sah den feinen Herrn dort über sich scharf an. Er sagte: »Ja!«

»Pfui Teufel!« schrie der Präsident und spuckte hinter sich. »Pfui Teufel! Und so was nennt sich Deutscher!«

Er sah Quangel mit tiefer Verachtung an und wandte dann seinen Blick zu Anna Quangel. »Und Sie da, Sie Frau da?« fragte er. »Sind Sie auch so gemein wie Ihr Mann? Sind Sie auch eine schuftige Volksverräterin? Schänden Sie auch das Ansehen Ihres auf dem Felde der Ehre gefallenen Sohnes? Ja oder nein?«

Der versorgte graue Anwalt erhob sich eilig und sagte: »Ich bitte doch, bemerken zu dürfen, Herr Präsident, daß meine Mandantin ...«

Der Präsident hackte wieder zu. »Ich nehme Sie in Strafe, Herr Rechtsanwalt«, sagte er, »ich nehme Sie sofort in Strafe, wenn Sie noch einmal, ohne aufgefordert zu sein, das Wort ergreifen! Setzen Sie sich!«

Der Präsident wendete sich wieder an Anna Quangel. »Nun, wie ist es mit Ihnen? Besinnen Sie sich auf den letzten Rest von Anständigkeit in Ihrer Brust, oder wollen Sie so etwas sein wie Ihr Mann, von dem wir jetzt schon wissen, daß er ein gemeiner Volksverräter ist? Sind Sie eine Verräterin Ihres Volkes in schwerer Notzeit? Haben Sie den Mut, den eigenen Sohn zu schänden? Ja oder nein?«

Anna Quangel sah ängstlich zögernd zu ihrem Mann hinüber.

»Sie haben mich anzusehen! Nicht diesen Hochverräter! Ja oder nein!«

Leise, aber deutlich: »Ja!«

»Sie sollen laut reden! Wir wollen es alle hören, daß eine deutsche Mutter sich nicht schämt, den Heldentod ihres eigenen Sohnes mit Schande zu bedecken!«

»Ja!« sagte Anna Quangel laut.

»Unglaublich!« rief Feisler. »Ich habe hier viel Trauriges und auch Grauenhaftes erlebt, aber eine solche Schande ist mir noch nicht vorgekommen! Sie müßten nicht gehängt, sondern entmenschte Bestien wie Sie müßten gevierteilt werden!«

Er sprach mehr zu den Hörern als zu den Quangels, er nahm die Anklagerede des Anklägers vorweg. Er schien sich zu besinnen (er wollte seine Verhandlung haben): »Aber meine schwere Pflicht als Oberster Richter gebietet es mir, mich nicht einfach mit Ihrem Schuldbekenntnis zu begnügen. So schwer es mir auch fällt und so aussichtslos es erscheint, meine Pflicht gebietet es mir, nachzuprüfen, ob es nicht doch vielleicht irgendwelche Milderungsgründe gibt.«

So begann es, und dann dauerte es sieben Stunden an.

Ja, der kluge Dr. Reichhardt in der Zelle hatte sich geirrt und Quangel mit ihm. Nie hatten sie damit gerechnet, daß der höchste Richter des deutschen Volkes die Verhandlung in einer so abgrundtiefen, so gemeinen Gehässigkeit führen werde. Es war, als hätten die Quangels ihn selbst, den Herrn Präsidenten Feisler, höchstpersönlich gekränkt, als sei ein kleiner, mißgünstiger, nie verzeihender Mann in seiner Ehre beleidigt und lege es nun darauf an, seinen Gegner bis auf den Tod zu verletzen. Es war, als habe Quangel die Tochter des Präsidenten verführt, so persönlich war das alles, so himmelweit entfernt von aller Sachlichkeit.

Nein, da hatten sich die beiden gewaltig geirrt, dieses Dritte Reich hatte für seinen tiefsten Verächter immer noch neue Überraschungen, es war über jede Gemeinheit hinaus gemein.

»Die Zeugen, Ihre anständigen Arbeitskameraden, haben ausgesagt, daß Sie von einem gradezu schmutzigen Geiz besessen waren, Angeklagter. Was haben Sie nun wohl in einer Woche verdient?« fragte der Präsident etwa.

»Vierzig Mark habe ich in der letzten Zeit nach Haus gebracht«, antwortete Quangel.

»So, vierzig Mark, und da waren also die Abzüge, die Lohnsteuer und das Winterhilfswerk und die Krankenkasse und die Arbeitsfront schon weg?«

»Die waren schon weg.«

»Das scheint mir aber ein ganz hübscher Verdienst zu sein für zwei alte Leute wie Sie, ja?«

»Wir sind damit ausgekommen.«

»Nein, Sie sind nicht damit ausgekommen! Sie lügen schon wieder! Sondern Sie haben noch regelmäßig gespart! Stimmt das oder stimmt das nicht?«

»Das stimmt. Meistens haben wir was zurückgelegt.«

»Wieviel haben Sie denn zurücklegen können jede Woche, im Durchschnitt?«

»Das kann ich so genau nicht sagen. Das war verschieden.«

Der Präsident ereiferte sich:

»Im Durchschnitt habe ich gesagt! Im Durchschnitt! Verstehen Sie nicht, was das heißt, im Durchschnitt? Und Sie schimpfen sich Handwerksmeister? Können nicht mal rechnen! Prachtvoll!«

Der Präsident Feisler schien es aber gar nicht so prachtvoll zu finden, sondern er sah den Angeklagten empört an.

»Ich bin über Fünfzig. Ich habe fünfundzwanzig Jahre gearbeitet. Die Jahre sind verschieden gewesen. Ich bin auch mal arbeitslos gewesen. Oder der Junge war krank. Ich kann keinen Durchschnitt sagen.«

»So? Das können Sie nicht? Ich will Ihnen sagen, warum Sie das nicht können! Sie wollen es nicht! Das ist eben Ihr schmutziger Geiz gewesen, von dem Ihre anständigen Arbeitskameraden sich mit Abscheu abgewandt haben. Sie haben Angst, wir könnten hier erfahren, wieviel Sie zusammengescharrt haben! Nun, wieviel ist es gewesen? Können Sie das auch nicht sagen?«

Quangel kämpfte mit sich. Der Präsident hatte wirklich eine schwache Stelle bei ihm gefunden. Wieviel sie gespart hatten, wußte nicht einmal Anna. Aber dann gab Quangel sich einen Ruck.

Er warf auch das hinter sich. In den letzten Wochen hatte er so vieles hinter sich geworfen, warum nicht auch dies? Er löste sich ganz von dem Letzten, das ihn noch an sein altes Leben band, und sagte:

»4763 Mark!«

»Ja«, wiederholte der Präsident und lehnte sich in seinen hohen Richterstuhl zurück. »4763 Mark und 67 Pfennige!« Er las die Zahl aus den Akten vor. »Und Sie schämen sich gar nicht, einen Staat zu bekämpfen, der Sie soviel hat verdienen lassen? Sie bekämpfen die Gemeinschaft, die so für Sie gesorgt hat?« Er steigerte sich. »Sie wissen nicht, was Dankbarkeit ist. Sie wissen nicht, was Ehre ist. Ein Schandfleck sind Sie! Sie müssen ausgetilgt werden!«

Und die Geierkrallen schlossen sich, öffneten sich wiederum und schlossen sich noch einmal, als zerfleische er Aas.

»Fast die Hälfte von dem Gelde hatte ich schon vor der Machtergreifung gespart«, sagte Quangel.

Jemand im Zuschauerraum lachte, verstummte aber sofort erschrocken, als ihn ein bitterböser Blick des Präsidenten traf. Er hüstelte verlegen.

»Ich bitte um Ruhe! Um absolute Ruhe! Und Sie, Angeklagter, wenn Sie hier frech werden, so werde ich Sie bestrafen. Denken Sie nur nicht, daß Sie jetzt vor jeder andern Strafe sicher sind. Sie könnten sonst was erleben!« Er sah Quangel durchdringend an: »Nun sagen Sie mir mal, Angeklagter, wofür haben Sie eigentlich gespart?«

»Für unser Alter doch.«

»Ach nee, für Ihr Alter? Wie rührend das klingt! Aber gelogen ist es doch wieder. Zum mindesten seit Sie die Karten schrieben, haben Sie gewußt, daß Sie nicht mehr sehr alt werden würden! Sie haben hier selber zugestanden, daß Sie sich stets klar über die Folgen Ihrer Verbrechen gewesen sind. Aber trotzdem haben Sie immer weiter zurückgelegt und Geld bei der Sparkasse eingezahlt. Für was denn?«

»Ich habe doch immer damit gerechnet, daß ich davonkomme.«

»Was heißt das, davonkommen? Daß Sie freigesprochen werden?«

»Nein, an so was habe ich nie geglaubt. Ich habe gedacht, ich werde nicht gefaßt.«

»Sie sehen, da haben Sie ein bißchen falsch gedacht. Ich glaube es Ihnen aber auch nicht, daß Sie so gedacht haben. So dumm sind Sie ja gar nicht, wie Sie sich jetzt stellen. Sie können gar nicht gedacht haben, daß Sie Ihre Verbrechen noch Jahre und Jahre ungestört fortsetzen könnten.«

»Ich glaube nicht an Jahre und Jahre.«

»Was soll das heißen?«

»Ich glaube nicht, daß es noch lange hält, das Tausendjährige Reich«, sagte Quangel, den scharfen Vogelkopf dem Präsidenten zuwendend.

Der Anwalt unten fuhr erschrocken zusammen.

Bei den Hörern lachte wieder jemand auf, und sofort wurde dort ein drohendes Murren laut.

»So ein Schwein!« schrie einer.

Der Schutzpolizist hinter Quangel rückte an seinem Tschako, mit der andern Hand faßte er nach seiner Pistolentasche.

Der Ankläger war aufgesprungen und schwenkte ein Blatt Papier.

Frau Quangel blickte lächelnd auf ihren Mann und nickte eifrig.

Der Schutzpolizist hinter ihr faßte nach ihrer Schulter und drückte sie schmerzhaft.

Sie bezwang sich und schrie nicht.

Ein Beisitzer starrte mit weit offenem Munde auf Quangel.

Der Präsident sprang auf: »Sie Verbrecher, Sie! Sie Idiot! Sie Verbrecher! Sie wagen hier zu sagen ...«

Er brach ab, auf seine Würde bedacht.

»Der Angeklagte ist abzuführen. Wachtmeister, führen Sie den Kerl raus! Der Gerichtshof beschließt über eine angemessene Bestrafung ...«

Nach einer Viertelstunde wurde die Verhandlung wieder aufgenommen.

Viel beachtet wurde, daß der Angeklagte jetzt nicht mehr richtig gehen zu können schien. Allgemein dachte man: Den haben sie unterdes hübsch in der Mache gehabt. Auch Anna Quangel dachte dies mit Angst.

Der Präsident Feisler verkündete: »Der Angeklagte Otto Quangel erhält für vier Wochen Dunkelarrest bei Wasser und Brot und völligem Kostentzug an jedem dritten Tag. Außerdem«, setzte Präsident Feisler erklärend hinzu, »sind dem Angeklagten die Hosenträger fortgenommen worden, da er, wie mir gemeldet wurde, sich in der Pause eben verdächtig mit ihnen zu schaffen gemacht hat. Es besteht Selbstmordverdacht.«

»Ich hab nur mal austreten müssen.«

»Sie halten das Maul, Angeklagter! Es besteht Selbstmordverdacht. Der Angeklagte wird sich von nun an ohne Hosenträger behelfen müssen. Er hat sich das selbst zuzuschreiben.«

Im Zuhörerraum wurde schon wieder gelacht, aber jetzt warf der Präsident einen fast wohlwollenden Blick dorthin, er freute sich selbst an seinem guten Witz. Der Angeklagte stand da, in etwas verkrampfter Haltung, immer mußte er die rutschende Hose festhalten.

Der Präsident lächelte. »Wir fahren in der Verhandlung fort.«


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