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71.
Anna Quangels Wiedersehen

Die Monate kamen und die Monate gingen, die Jahreszeiten wechselten, und Frau Anna Quangel saß noch immer in ihrer Zelle und wartete auf das Wiedersehen mit Otto Quangel.

Manchmal sagte die Aufseherin, deren Liebling Frau Anna jetzt war, zu ihr: »Ich glaube, Frau Quangel, die haben Sie ganz vergessen.«

»Ja«, antwortete die Gefangene Sechsundsiebzig freundlich. »Es scheint beinahe so. Mich und meinen Mann. Wie geht es Otto?«

»Gut!« antwortete die Aufseherin rasch. »Er läßt auch grüßen.«

Sie waren sich alle einig geworden, die gute, immer fleißige Frau den Tod des Mannes nicht erfahren zu lassen. Sie bestellten ihr regelmäßig Grüße.

Und dieses Mal meinte es der Himmel gnädig mit Frau Anna: kein müßiges Geschwätz, kein pflichtbewußter Pastor zerstörten ihr den Glauben an das Leben Otto Quangels.

Fast den ganzen Tag saß sie an ihrer kleinen Handstrickmaschine und strickte Strümpfe, Strümpfe für die Soldaten draußen, strickte tagaus, tagein.

Manchmal sang sie leise dabei.

Sie war jetzt fest davon überzeugt, daß Otto und sie sich nicht nur wiedersehen, nein, daß sie auch lange miteinander noch leben würden. Entweder waren sie wirklich vergessen, oder man hatte sie im geheimen begnadigt. Es konnte nicht mehr lange dauern, und sie waren frei.

Denn so wenig die Aufseherinnen davon auch sprachen, das hatte Anna Quangel doch gemerkt: es stand schlecht draußen mit dem Krieg, und die Nachrichten wurden von Woche zu Woche schlechter. Sie merkte es auch an dem sich rasch weiter verschlechternden Essen, an dem oft fehlenden Arbeitsmaterial, durch den zerbrochenen Teil ihrer Strickmaschine, dessen Ersatz wochenlang dauerte, daß alles immer knapper wurde. Aber wenn es schlecht mit dem Kriege stand, so stand es gut für die Quangels. Bald waren sie frei.

So sitzt sie und strickt. Sie strickt ihre Träume, Hoffnungen, die sich nie erfüllen werden, Wünsche, die sie früher nie gehabt, in die Strümpfe. Sie malt sich einen ganz andern Otto aus, als der ist, an dessen Seite sie gelebt hat, einen heiteren, vergnügten, zärtlichen Otto. Sie ist fast zu einem jungen Mädchen geworden, dem das ganze Leben noch frühlingsfroh winkt. Träumt sie nicht manchmal sogar davon, noch Kinder zu haben? Ach, Kinder ...!

Seit Anna Quangel das Zyankali vernichtete, als sie beschlossen hatte, nach schwerstem Kampf, auszuhalten bis zum Wiedersehen mit Otto, es möge ihr geschehen, was wolle – seitdem ist sie frei und jung und fröhlich geworden. Sie hat sich selbst überwunden.

Und nun ist sie frei. Furchtlos und frei.

Sie ist es auch in den immer schwereren Nächten, die der Krieg jetzt über die Stadt Berlin gebracht hat, wenn die Sirenen heulen, die Flieger in stets dichteren Schwärmen über die Stadt ziehen, die Bomben fallen, die Minen zerreißend schreien und Feuersbrünste überall aufglühen.

Auch in solchen Nächten bleiben die Gefangenen in ihren Zellen. Man wagt nicht, sie in Schutzräume zu führen, aus Furcht vor Meuterei. Sie schreien in ihren Zellen, sie toben, sie bitten und flehen, werden wahnsinnig vor Angst, aber die Gänge sind leer, keine Wache steht noch dort, keine erbarmende Hand schließt die Zellentüren auf, das Wachtpersonal sitzt in den Luftschutzräumen.

Anna Quangel ist ohne Furcht. Ihre kleine Rundmaschine tickert und tuckert, reiht Maschenkreis an Maschenkreis. Sie benutzt diese Stunden, in denen sie doch nicht schlafen kann, zum Stricken. Und beim Stricken träumt sie. Sie träumt von dem Wiedersehen mit Otto, und in einen solchen Traum bricht ohrenzerreißend die Mine ein, die diesen Teil des Gefängnisses in Schutt und Asche legt.

Frau Anna Quangel hat keine Zeit mehr gehabt, aus ihrem Wiedersehenstraum mit Otto aufzuwachen. Sie ist schon bei ihm. Sie ist jedenfalls dort, wo er auch ist. Wo immer das nun auch sein mag.


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